Die Schuhe der Grace Kelly. (Nicht) im Arbeitsjournal des Sonntags, dem 22. September 2013. Außerdem: Zur Wahl.

8.28 Uhr:
[Arbeitsjournal. Britten, Hymn to St. Cecilia.]

„Ich werde Schuhe aus deinem Geburtsjahr tragen.“

Es gibt Sätze, die uns besiegeln. Wir hören sie, wir lesen sie: sind, könnten Sie sagen, verloren. Doch ist ja nur besiegelt worden, was wir ohnedies schon wußten. Ausgeschrieben oder gesprochen werden solche Sätze nur, um uns ein letztes Mal zugleich zu warnen und zu binden. In Wahrheit spricht sie niemand, sondern sie, durch uns, sprechen sich. Es stünde uns frei, noch umzukehren, aber es steht uns nicht mehr frei. Und offenen Auges treten wir ins Über-Licht: Semele zu Wein.

War schon schwimmen, um halb sechs dazu hoch, nach etwa vier Stunden Schlaf. Ich hatte die Doppelbahn ganz für mich allein, kraulte mir den Alkoholrest aus dem Leib; auf der Bahn rechts neben mir zog rückenschwimmend eine Walin ihre Runden; im weiten Freigehege links bewegten alte Miroungas, alte Dugongs und sogar ein alter Nöck die Flossen, liebevoll beobachtet von unser aller Wärter, der kurze Hosen und in den Badelatschen Socken trug. Die erste Viertelstunde lang machte er nicht einmal Licht; wir schwammen durch einen opaken Nebel, den die Unterwasserleuchten versandten. Dann fing es draußen zu hellen an; man kann von dort ganz frei in die Halle hineinschauen. Stumm standen die hohen Platten an dem Thälmannpark, stumm ließen ihre matten Fenster uns gewähren.

Schon gestern nacht, als ich von der Oper heimgeradelt war, hatte ich die Hymne auflegen wollen, dann aber gedacht, da müsse ich besser, nachbarschaftshalber, die Kopfhörer nehmen und ließ es deshalb bleiben. Schaute noch einzweimal ins Netz. Aber den Malt, den ich mir eingeschenkt hatte, trank ich nicht mehr aus und schrieb auch nicht mehr, was ich zu >>>> meiner Kritik noch ergänzen wollte und nach wie vor will.

Erster Latte macciato, erster Morgencigarillo. Holmes’ Morgenmantel, leichter Wollschal. Es fiel das Wort Polyamorie. Es ging um Versrhythmen und Haltungen. Wobei ῥυθμός ein Fließen heißt, von ῥέω, „reïn“, fließen, strömen; vielleicht daß daher der Rhein seinen Namen hat? In jedem Fall bedeutet, etwas zu rhythmisieren, es dem Meer zurückzugeben, von dessen ewigen Wellen der Sprache Hebungen und Senken stammen:

was war mit allen die uns zitternd
im rücken staken. spitzen im holz
an den griffen kann man uns lenken

Katharina Schultens, gewinnwarnung


[Britten, Rejoice in the Lamb.]
Ich muß die zweite Version des Europakonzepts schreiben, dann die gesammelten Daten „auswerten“, Paare bilden und Video-Ideen formulieren; all das muß heute abend nach Vilnius geschickt werden, damit die Pünktlichkeit mir Ruf bleibt. Vorher aber, um Façon, mich kleiden.
Guten Morgen.

: 10.22 Uhr.

******

11.33 Uhr:
[Britten, Nocturne for tenor, seven obligato instruments and strings op.60.]
Was soll ich nur wählen? Ich bin da durchaus ratlos, kann nur strategisch handeln, und das bedeutet: meine Kreuzchen bei den Piraten zu machen. Für einen als elitär geltenden Künstler sind weder die SPD noch die Grünen noch gar die Linken eine Option; er würde sich das eigene Wasser abgraben. Die Konservative aber fällt aus moralischen Gründen aus, kommt schon wegen ihrer Anti-Immigrationspolitik nicht infrage und nicht wegen ihrer Anlehnung an die hegemoniale Weltpolitik der USA (was für die SPD allerdings ebenfalls gilt).
Na, ich such mal meinen Wahlzettel heraus. Sowie die Schallplatte zuende ist, geh ich dann runter und nach nebenan ins Wahllokal – ein Wort, das seit jeher auf eine komische Weise nach sehr viel Bier geklungen hat und danach immer weiterklingt.

(12.15 Uhr:
Es gab aber auch dieses Mal keines.)

16.41 Uhr:
[Britten, Phädra op. 90.]
Soeben mit der Überarbeitung des Europa-Konzeptentwurfs zur Zweiten Fassung fertiggeworden und auch schon weggeschickt. Jetzt werde ich etwas Ordnung in der Archivierung der Dschungelbeiträge schaffen und dann wieder ein bißchen im >>>> Fahlmann weiterlesen. Auch wenn sie noch Zeit hat, aber immerhin ist für Volltext eine lange Rezension zu schreiben. Der Abend ist noch gänzlich offen; ich sollte mir aber etwas kochen. Mal gucken, was noch so da ist.

7 thoughts on “Die Schuhe der Grace Kelly. (Nicht) im Arbeitsjournal des Sonntags, dem 22. September 2013. Außerdem: Zur Wahl.

  1. Die Strategie Ihres “strategischen Wählens” würde mich durchaus interessieren: Sie wollten Madame der absoluten Mehrheit näherbringen, indem Sie eine Partei wählen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit den Einzug in den BT verpasst?
    Fast wäre sie ja aufgegangen, Ihre Strategie…
    Nein, allen Ernstes: Was genau war die Strategie?

    1. Sie denken… … zu kurzfristig.

      Abgesehen davon, dass eine hauchdünne absolute Mehrheit Merkels mit einer starken Opposition ggf. sogar die bessere Alternative zur der jetzt vermutlich folgenden großen Koalition gewesen wäre, bei der nahezu *alles* ohne nennenswerten Widerstand durchgewunken werden dürfte.

    2. Und Sie vergessen… …, dass wir uns in einem bikameralen System befinden, in dem ein Durchwinken ohne nennenswerten Widerstand per se nicht existiert.
      Mir persönlich ist eine vom Bundesrat moderierte große Koalition um ein Vielfaches lieber als eine dauerblockierte erste Kammer. Ob das nun tatsächlich eintritt, wir werden sehen…

      Davon abgesehen ist mir tatsächlich nicht klar, welchen mittel- oder langfristigen Nutzen die gestrige Stimme für die Piraten gehabt haben könnte. Ggf. wäre in diesem Fall – vollkommene Unschlüssigkeit und keine Motivitation zum taktischen Vorgehen – tatsächlich das Nichtwählen eine Option gewesen.

    3. @Gast. Und Sie vergessen, daß das jetzt alles gerade erst begann. Ich erinnere mich gut der Anfänge der Grünen und wie ähnlich gegen sie damals die Argumente waren, ja geradezu gleich. Hübsch übrigens Ihre Conclusio: Besser man wählt nicht als die Piraten. Das nenne ich ein formidables Demokratieverständnis, das allein den Machtgewinn will, nicht aber Inhalte, bzw. Inhalte, die ich eben nicht mitzuunterschreiben gewillt bin.

    4. Und welche… (@Gast) … der Landesregierungen im Bundesrat würde Ihrer Meinung nach gegen Entscheidungen der eigenen Bundespartei stimmen? Ja, kommt gelegentlich vor, aber nicht gerade oft und dann i. d. R. aufgrund von spezifischen Landesinteressen. Der Moderationseffekt wäre bei einer Alleinregierung Merkels höher. Ebenso wie die Chance, dass man sie in vier Jahren tatsächlich einmal abwählt. Selbst dann bleibt aber fraglich, ob ein Wechsel an der Spitze stattfände. Denn solange die SPD Koalitionen mit der Linken auf Bundesebene kategorisch ausschließt, werden die keinen Kanzler stellen. Und alles andere scheidet realistisch gesehen in nächster Zeit nach wie vor aus.

      PS, bezüglich des Nutzens für die Piraten: Wahlkampfkostenerstattung? Motivation? Nur so zum Beispiel. Politik wird außerdem nach wie vor nicht nur in den Parlamenten gemacht.

    5. Schön, sich die größeren (leider aber schon länger verkannten) Künstler der Republik beim Daherpolitisieren anzuschauen…

      Natürlich haben die Herren die Kunst, ihre Voraussetzungen und alle ihre Notwendigkeiten sowieso schon gefressen (SO muss sie sein! Wichtig!)…

      Aber schön, dass Sie (selbstverständlich!) auch in politscher Hinsicht genau Bescheid wissen!! Was für universale Füchse! (: Wahlkampfkosten? Erstattung! Linke? Nie ausschließen! Windkrafträder? Sie drehen sich.)
      WAHRE GRÖSSE – eben nur hier!

      Es dankt,
      die Plebs

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