“Niemand soll mich mir nehmen”: Nabokov lesen, 30. Einladung zur Enthauptung ODER “Der letzte Mensch”.

 

                                                Dies ist das blinde Ende                                                                        dieses Lebens, und ich hätte                                                              Rettung nicht innerhalb                                                                       seiner Grenzen suchen sollen.
                                                   Nabokov, Einladung zur Enthauptung, S.195
                                                                     (Dtsch. v. Dieter E. Zimmer)

Zuerst fiel mir — wie manchen Interpreten vor mir — Franz Kafka ein. Es war, als hätte Nabokov DER PROZEß und DAS SCHLOß zusammengelegt und teils travestiert, teils aber mit seinen sinnlichen Sätzen angereichert; schon aber mußte ich an Gogols surreale Groteske DIE NASE denken und ihrethalben wiederum an Pirandellos EINER, KEINER, HUNDERTTAUSEND, was aber auch nur ungefähr stimmt; auch will das Ende, also Nabokovs, dazu gar nicht mehr passen, das ich aber nicht verraten will, ein bißchen aber, → mit Shakespeare, andeuten muß:

Think but this, and all is mended,
That you have but slumbered here
While these visions did appear.

Bei Kafka hingegen gibt es keine Erlösung; sein Gelächter im Dunkel ist stetig. Auch kennt er kaum die Farbigkeit der Fantasien, die Nabokovs Helden durch die Finsternis helfen, der, für dessen russische Romane ungewöhnlich — dies ist, 1935 bis 1936 als Fortsetzungsroman erschienen, ihr letzter —, Cincinattus C. heißt. Auch die Abkürzung zwar des Nachnamens könnte auf Kafka verweisen, nur daß Cincinnatus sehr genau weiß, weshalb er angeklagt wurde und, auf die Hinrichtung wartend, in seiner Zelle sitzt. Außerdem hatte Nabokov, eigenem Bekunden und seinen Biographen zufolge, zu der Zeit Kafka noch gar nicht gelesen, und in

Kafkas grüblerischer, bedrückender Welt hallen die geschlossenen Türen um so unheilvoller, je lauter Joseph K. an sie klopft, [anders als in] Nabokovs viel hellerem Universum[, in dem] Cincinnatus (…) ein Loch in die Welt (reißt), um sich jenseits von ihr seinesgleichen anzuschließen.
Brian Boyd, Vladimir Nabokov — Die russischen Jahre 1899 – 1940
(Dtsch. v. Uli Aumüller, Sabine Baumann, Ursula Locke-Groß, Kurt Neff und Hans Wolf)

(Ich weiß, daß ich hier, abgesehen von Nabokovs eigenen Anmerkungen und Dieter E. Zimmers Kommentaren zum ersten Mal ein Werk der Sekundärliteratur herbeiziehe, aber ich war mir bezüglich Kafkas wirklich unsicher und vertraue Nabokovs Aussage nicht, er habe niemals Deutsch gekonnt; die auch zeitliche Parallelität zu Kafkas Prosa liegt zu nahe, um sie kurzerhand beiseite zu schieben; tatsächlich aber wurde dessen Werk in den Dreißigern erst allmählich bekannt, das Bewußtsein der Bedeutung dieses tschechischen Deutschen oder deutschen Tschechen setzte sich nur zäh durch.) 

Zumal gibt es in diesem Roman zwei grundlegend verschiedene Welten, die der vermeintliche Zellenrealität —

die Wände, die Arme um die Schultern gelegt wie ein Quartett, das unhörbar flüsternd ein quadratisches Geheimnis bespricht
Enthauptung, 32

mit ihren teils extrem absurden bis surrealen Personen und Geschehen:

Die schattenhaften Gestalten der Angestellten näherten sich [der Gefängniszelle, ANH] respektvoll im Gänsemarsch: hinter dem Direktor wartete schon eine ganze Schlange von Menschen darauf, auch einen Blick hineinzuwerfen; einige hatten ihre erstgeborenen Söhne mitgebracht
Enthauptung, 58

— und Cincinnatus’ von Erinnerungen, Farben und Gerüchen vibrierende Innenwelt, die sehr viel sinnlicher und deshalb glaubwürdiger als die scheinbare Realität wirkt:

In meinen Träumen war die Welt edler, geistiger; Menschen, vor denen mich im Wachzustand grauste, erschienen dort in schimmernder Brechung, ganz als wären sie von jener Lichtvibration durchtränkt und eingehüllt, die bei heißem Wetter selbst die Dinge mit Leben erfüllt; ihre Stimmen, ihr Gang, der Ausdruck ihrer Augen und sogar ihrer Kleidung — erhielten eine erregende Bedeutung; einfacher gesagt: in meinen Träumen wurde die Welt lebendig, wurde so einnehmend majestätisch und, frei und ätherisch, daß es später bedrückend war, wieder den Staub des gemalten Lebens zu atmen [Unterstr. v. mir, ANH].
Enthauptung, 88

Das ist nun wahrlich nicht Kafka. — Dazu die erinnerten Landschaften voller Licht, auch hier zehrt Nabokov von den eidetisch eingespeisten Bildern seiner Kindheit:

Weiter entfernt beschrieb die von Sonnenlicht überflutete Stadt einen geräumigen Halbkreis; manche der runden Häuser setzten sich in Begleitung runder Bäume in geraden Zeilen fort, während anderswo krumme Häuserreihen Hänge hinabkletterten und dabei auf die eigenen Schatten traten; man konnte den Verkehr auf dem Ersten Boulevard erkennen und an seinem Ende, dort, wo der berühmte Brunnen war, einen amethystfarbenen Schimmer; und noch weiter weg, in Richtung der dunstigen Hügelfalten, die den Horizont bildeten, sah man die dunklen Tüpfel von Eichenwaldungen mit hier und da einem wie ein Handspiegel glänzenden Teich, während sich helle Wasserovale, die durch den harten Dunst leuchteten, weiter drüben im Westen sammelten, wo die Quelle der sich durchs Land schlängelnden Strop war.
Enthauptung, 42

Oder eine Nachtszene:

An der Balustrade spähte Cincinnatus unbestimmt in die Dunkelheit, und wie auf Wunsch erbleichte sie in eben diesem Augenblick verlockend, als der Mond, klar jetzt und hoch oben, hinter einem schwarzen Wolkenvlies hervorglitt, die Sträucher firnißte und sein Licht im Teich tremolieren ließ.
Enthauptung, 178

Schmecken Sie, Freundin, der Dieter E. Zimmer zu verdankenden Binnen-Alliteration von “Vlies” und “Firnis” nach, beschlossen im Satz mit dem “ließ”, und überhaupt seinem Spiel mit den “i”s.  Wobei ich allerdings, siehe das Zitat darüber, nur am Rand vermerken möchte, daß grad in diesem Buch seine, also Zimmers, “wo”-Anschlüsse nicht immer optimal sind. Zwar letztlich ist’s Beckmesserei, doch auf der Seite 175 störte es mich schon recht gewaltig:

Indessen dieses wirklich nur als bescheidene Kritik eines Bewunderers dieses Übersetzers, aus dessen alleine Wortschatz ich, seit ich mein Nabokovlesen begann, unentwegt lerne; allein in der Enthauptung etwa

glabellarer Streifen (21)—  Thespianer (74)wammige Päonien (76)— ein gaurrierter Papierfächer (154)ein Karotte (176)Barsois (203)— krängen (204)
Enthauptung, 110

Ja, solche Wörter, während jeder Lektüre, notiere ich mir, um sie dann zu lernen. — Doch zurück in den Roman:

Nicht nur in der Zelle versteht man Cincinnatus nicht, nicht allein das Gefängnispersonal kann diesen Insassen nicht begreifen, der hier für den letzten wirklichen Menschen steht:

“Und Sie — möchten Sie nicht fliehen?” — “Was meinen Sie damit, ‘fliehen’?
Enthauptung, 110

Sondern es war auch früher, war schon immer so:

Die Abneigung der anderen Kinder gegen meine Beteiligung an ihren Spiel und die tödliche Verlegenheit, Scham und Niedergeschlagenheit, die ich selbst empfand, wenn ich mich zu ihnen gesellte, ließen mich jenen weißen Schlupfwinkel des Fensterbretts vorziehen, der durch den Schatten des halboffenen Fensterflügels scharf abgegrenzt war.
Enthauptung, 95

Genau deshalb ist er, Cincinnatus, angeklagt und verurteilt worden, seiner “gnostischen Verworfenheit” wegen, die so wenig zu den Bedürfnissen und Selbstverständnissen nahezu aller anderen paßt,

daß Umschreibungen wie “Undurchdringlichkeit”, “Opazität”, “Okklusion” benutzt werden mußten.
Enthauptung, 70

Was freilich auch ein Hieb des der Heimat verloren gegangenen Emigranten auf den Gleichheitswahn der jungen (und späteren) Sowjetunion ist, in deren Gebiet sowohl den meisten Namen nach als auch der beschriebenen Orte halber dieser Roman deutlich spielt; doch insgesamt wird hier das Leid eines sensiblen, die Welt phantastisch erhöhenden Außenseiters beschrieben, der sich “mit gesetzwidriger Klarheit ” (S. 87) an sich selbst erinnert:

Ich bin mein eigener Komplice gewesen, der zuviel weiß und darum gefährlich ist. Ich stamme aus so brennender Schwärze, ich drehe mich wie ein Kreisel und mit solchem Schwung und solchen Flammenzungen, daß ich bis auf den heutigen Tag gelegentlich (manchmal im Schlaf, manchmal, wenn ich in sehr heißes Wasser tauche) jene meine uranfängliche Zuckung spüre, diese erste prägende Berührung, die Triebfeder meines Ichs! Wie ich  mich hinauswand, glitschig, nackt! Ja, aus einem Reich, das anderen verboten und unzugänglich ist, ja. Ich weiß etwas, ja …
Enthauptung, 87

und

für dieses Verbrechen zum Tode durch Enthaupten verurteilt
Enthauptung, ebda.

wird.
N
och deutlicher fünf Seiten weiter:

Als ich noch ein Kind war und in einem kanariengelben, großen, kalten Haus lebte, wo sie mich und Hunderte anderer Kinder auf die sichere Nichtexistenz erwachsener Attrappen vorbereiteten, in die sich alle meine Altersgenossen mühe- und schmerzlos verwandeln ließen;
Enthauptung, 92

also in damals schon das, was derart viele Jahre später ich → Replikanten nenne;

schon in jenen verfluchten Tagen inmitten von Leinenbüchern und buntbemalten Unterrichtsmaterialien und Luftzügen, die die Seele erstarren ließen, wußte ich es, ohne zu wissen, wußte ich es, ohne zu staunen, wußte ich, so wie man von ich selber weiß, wußte ich, was sich nicht wissen läßt — und wußte es, möchte ich sagen, klarer als heute[,]
Enthauptung, ebda.

da es nunmehr an Cincinnatus’ mitunter panische Angst vor dem Tod gefesselt worden ist:

Aber wie krank bin ich vor Angst. Aber niemand soll mich mir nehmen. (…) Ich zittere über dem Papier, kaue den Stift bis aufs Blei, krümme mich nach vorn, um mich vor der Tür zu verbergen, durch die mich ein durchdringendes Auge in den Nacken sticht, und es scheint, ich bin im Begriff, alles zu zerknüllen und zu zerfetzen.
Enthauptung, 88

Denn fast noch tragischer ist, daß sich Cincinnatus’ frühe Erfahrungen bis selbst in die — noch immer gefühlte — Liebe zu seiner Ehefrau fortgesetzt haben, von der er genau weiß, daß auch sie eine Pappfigur, Replikantin nämlich, ist.
Freilich, als eine Art nahem Hoffnungsschimmer ist auch die Enthauptung von einem Nymphchen durchtrippelt und -geistert, denn

der Direktor hatte eine kleine Tochter
Enthauptung, 34

genau an der uns schon bekannten ungefähren Grenze zwischen noch Kind und beinah schon Teeny, die Cincinnatus anfangs ein bißchen “beängstigend” findet. Doch sie nähert sich ihm schließlich fast schon intim immer mehr an, in jedem Fall zärtlich:

Als letzte flog Emmi bleich, tränenüberströmt, mit geröteter Nase und zuckendem Mund auf ihn zu; sie sagte nichts, aber plötzlich reckte sie sich mit leisem Knacken auf die Zehen, schlang die heißen Arme um seinen Hals, flüsterte Unzusammenhängendes und seufzte laut.
Enthauptung, 1o2

Bis auch sie sich,  der so ersehnte wie unerlaubte Gegenentwurf zu seiner Frau, als eine Stellvertretin der Attrappenwelt erweist, und so kommt er von jener nicht los, die ihn über jedes Maß gequält hat, einfach weil sie ganz nicht versteht, was solch eine Liebe bedeutet. Dabei geht es gar nicht darum, daß Marthe untreu ist, nun jà, so etwas kommt vor, sondern daß das Gesetz der Transparenz verlangt, es ihrem Mann nach jedem neuen Mal zu erzählen: “Du weißt doch, wie ich bin.” Anstelle ihn gütig zu schonen.

Nun schreibt er ihr einen langen, fast ergebenen Brief. Und darauf sie?

Das war ein gräßlicher Brief, das war eine Art Fiebertraum, ich habe ihn sowieso nicht verstanden; man hätte denken können, daß du hier alleine mit einer Flasche gehockt und geschrieben hast. (…) Ich will nicht wissen von deinen Angelegenheiten, du hast kein Recht, mir solche Briefe zu schreiben, mich hineinzuziehen in deine kriminellen — (…) Ach. Cincinnatus, in was für eine Lage hast du mich gebracht — und die Kinder — denk an die Kinder … (…) bereue, bitte — auch wenn du deinen Kopf nicht rettest, denk an mich —”
Enthauptung, 190/191

Sein Verbrechen, wohlgemerkt, ist seine Phantasie und daß man ihn nicht verstehen kann, daß seine Wahrnehmung von Welt zu tief ist, zu vielschichtig und deshalb → nicht genügend plan. Und worinnen er jetzt gefangen ist, ist nicht einmal dies, sondern daß er bis fast ganz zum Ende des Buches hin seine Strafe, trotz der Angst, akzeptiert — anstelle allem (dem Gefängnisdirektor, der fliegend Zellenwärter wird und gleich schon wieder zurück; dem Anwalt; dem Cincinnatus als Mithäftling untergeschobenen Henker, der sich mit ihm befreunden soll, bevor er das Beil hebt; seiner Frau und ihrer Verwandtschaftsbagage) den Mittelfinger zu zeigen und darauf, daß sie stinken. Was eigentlich schon mehr ist, viel mehr, als sie’s tatsächlich können. Das Schlimme ist ja, sie haben nicht mal Geruch.
Wobei die Einladung zur Enthauptung, die noch während der Arbeit an Die Gabe begonnen wurde, der sie ihr Motto von Delalande verdankt (der in der Gabe erfunden wurde), auch der Verzweiflung etwas verdankt, nämlich den Umgang mit der dort so genannten “Dissoziation”, also einer Spaltung auch Cincinnatus’, die zu Anfang allerdings häufiger stattfindet, wenn sich “reale” und imaginierte Szenen nahezu unmittelbar ineinander verschränken und, von uns meist erst nachher erkannt, mit- und auseinander fließen:

Beim kulminierenden Ton schmetterte Rodion den Krug auf den Boden und glitt vom Tisch. Ein Chor setzte seinen Gesang fort, obwohl er allein war.
Enthauptung, 30

Sowie etwas später:

Hier begannen die Zellenwände[,] sich wie Spiegelungen in bewegtem Wasser zu wölben und zu wellen; der Direktor begann sich zu kräuseln, die Pritsche wurde ein Boot. Cincinnatus klammerte sich an der Seite fest, doch die Dolle löste sich unter seinem Griff, und bis zum Hals im Wasser begann er unter tausend gesprenkelten Blumen zu schwimmen, verhedderte sich, begann unterzugehen. Die Ärmel aufgerollt, machten sie sich daran, mit Stoßstangen und Enterhaken nach ihm zu stochern,
Enthauptung, 56,

alles in der Zelle!

um ihn zu fangen und an die Küste zu ziehen. Sie fischten ihn heraus
Enthauptung, ebda.

Und der Arzt des Gefängnisses, der sogleich wieder zu seinem Direktor, dann schon erneut der Wärter wird, sagt:

“Die Nerven, die Nerven, ein regelrechtes Frauchen (…). Frei atmen. Sie können alles essen. Schwitzen Sie nachts manchmal? Machen Sie nur so weiter, und wenn Sie sehr brav sind,
Enthauptung, ebda.

brav!

dann dürfen Sie vielleicht einen raschen Blick auf den neuen Jungen werfen…”
Enthauptung, ebda.

Allerdings werden solche Szenen mit der Zeit weniger oder sind doch nicht mehr ganz so enggeführt, insofern bald von dem “einen” Cincinnatus und dem “anderen” Cincinnatus gesprochen wird, weil eine Überraschung ohnedies nicht mehr eintreten würde, sondern es den Eindruck einer “Masche” machen könnte, etwas, das Nabokov strikt, schon aus Distinktion, vermeidet. Man muß Einfälle nicht totreiten, wenn man ihrer Tausende hat, sie sich dem Romancier quasi von selbst aus seinen beiden Ärmeln schütteln.
Und hier liegt gleich der nächste Unterschied zu Kafka, auf den ich nur deshalb doch noch einmal zurückkommen will.

Autoren wie Kafka (bedingt auch Bernhard und Beckett) sind in ihren Tonlagen und (Bild)Welten fast immer gleich; das zeichnet sie aus, läßt sie uns stets erkennen als sie, bläht aber auch ihren Einfluß bis zur Abhängigkeit, aus der fast ausschließlich Epigonen hervorgehn. Kurz gesagt, sie sind nicht schulfähig, poetologisch können von ihnen nicht lernen, imgrunde nicht mal stilistisch. Und doch sind fast alle von uns, meist in unsrer Jugend, beeinflußt von ihnen worden. Das ist auch gut so. Aber es muß der Tag kommen, an dem wir einen Schnitt machen und den symbolischen Vatermord begehen oder einen, je nachdem, Muttermord. Wer das nicht schafft, wird sich niemals lösen und niemals etwas Eigenes zuwege bringen, bleibt immer Magd oder Knecht. (Für Adorno, übrigens, gilt das genauso in der Philosophie). Und es gibt Autoren wie Nabokov, die derart reich an Einfällen, vor allem aber Form- und Stilmitteln sind, daß sich Buch von Buch extrem unterscheiden. Nabokocs Spanne reicht vom realistischen, nahezu naturalistisch entworfenen Roman bis zur Phantastik, ja Sciencefiction. Dennoch erkennen wir ihn nicht minder als die Kafkas wieder. Hier allerdings können wir lernen — und sollten es, müssen es sogar, nämlich genauso, wie eines seiner Bücher aus dem und all seinen vorigen lernte. Ähnlichkeiten finden sich dann lediglich in, ich sage einmal, “Phasen” der poetischen Entwicklung. Daß die frühen Emigrationsromane miteinander auf das engste verwandt sind, ist natürlich; aber auch daraus bricht der große Schriftsteller, die große Schriftstellerin irgendwann aus. Das Geheimnis liegt im Mord an den Eltern — ja, wie ich anderwärts schrieb, werden wir auch im alltäglichen Leben erwachsen erst dann, wenn sie nicht mehr sind. Wir verlassen das Vertraute, öffnen uns Neuem, auch auf die Gefahr hin, daß es erst einmal schief geht oder nicht ganz so perfekt wird, wie wir es von uns erwarten oder gewöhnt sind.

Es war genau dies, was mich beim → Gelächter im Dunkel so aufmerken ließ und dessenthalben ich bei der → Mutprobe kristallklar begriff, welch ein Abschied der Pfad war, der am Ende des Buches in den märchenvollen Wald, nämlich zurück ins Kinderbettchen führt. Da es ein solches Zurück real nun nicht gab, schon gar nicht für den russischen Emigranten, gab es nur noch Voran. Nabokov ist kein Samsa, niemals einer gewesen. Er ist Aristokrat-imWesen, das Gegengeschöpf jenes Krabbelinsekts, das sich schließlich selbstschuldhaft hinwegkehren läßt, und zwar auch und gerade dann, wenn der falsche Mitgefangene und in Wahrheit Henker ihn, Cincinnatus,

Freund meines Herzens, Küchenschabe unterm Herd
Enthauptung, 106

nennt und das sogar noch wiederholt. Weil er die Schabe eben nicht ist, nur darum kann das Ende der Einladung zur Enthauptung tatsächlich so sein, wie es ist, und darum nur ist Cincinnatus’ sinnliches Erinnerungsfeuer von so großer und gegenüber der Gefängniswelt alleiniger Wahrhaftigkeit.

Auf etwas dergleichen, wovon wir Romanschreiber lernen können, und meine Kolleginnen auch — etwas zugleich, das “nur”-Leserinnen und -Leser, wenn sie’s erkennen, entzückt — möchte ich zum Schluß noch zu sprechen kommen. Es ist ein Motiv, mit dem der Roman imgrunde beginnt, nämlich der Bleistift, mit dem Cincinnatus seine Gedanken und die kommenden Geschehen notiert. Das Motiv durchzieht die Enthauptung wie der gelbe Markierungspfahl die Verzweiflung. Anfangs noch unbenutzt, spitz und

lang wie das Leben jedes Menschen mit Ausnahme von Cincinnatus und mit einem ebenholzschwarzen Schimmer auf jeder seiner sechs Facetten[,]
Enthauptung, 14

ist er auf Seite 196, unmittelbar vor der beschließenden Hinrichtungsszene, nur noch ein Stummel und also dann doch ebenso lang gewesen, wie Cincinnatus’ Leben noch hätte gewährt, dem in der Zelle, hätte er nicht zu seinem Befreiungsschlag endlich, endlich ausgeholt:

und alles löste sich auf. Alles fiel. Ein Wirbelwind packte und ließ kreisen: Staub, Lumpen, Splitter ausgemaltem Holz, Stücke vergoldeten Stucks (…); und inmitten des Staubs, inmitten der fallenden Dinge (…) schritt Cincinnatus in jene Richtung, wo, nach den Stimmen zu urteilen, ihm verwandte Wesen standen.
Enthauptung, 216

Tatsächlich ist dieser Bleistift nicht nur, wie es der Markierungspfahl war, strukturierendes Leitmotiv, sondern lebt mitund stirbt (hat sich ausgeschrieben), als Cincinnatus ins wirkliche Leben erwacht.

 

Ihr ANH

 

 

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3 thoughts on ““Niemand soll mich mir nehmen”: Nabokov lesen, 30. Einladung zur Enthauptung ODER “Der letzte Mensch”.

  1. Ja, die “wo”-Anschlüsse! Hier gehen sie ja noch. Aber inzwischen scheint ein “jetzt, wo…” hoffähig geworden zu sein. Wäre der Umkehrschluß dann: “hier, wann..”?

    1. ‘s ist bitter, ja. Nur daß die von mir angekreideten Anschlüsse bei einem Stilisten wie Nabokov so weh tun (zumal in Dieter E. Zimmers meist ebenso hinreißendem wie dann wieder linde* zärtlichem Deutsch); bei minderen Autorinnen und Autoren fällt sowas nicht auf oder kippt mit der ganzen Suppe um und ergießt sich eh vom Tisch auf den Boden. Doch für die Nabokovs gilt: “geht noch” geht nicht.

      *) “lind” in altem Sinn: mhd. f. “geschmeidig”
      (Daher auch “Lindwurm”).

  2. Im Prinzip geb ich dir recht, aber es betrifft nicht nur mindere Autoren. Und es ist auch nicht ganz neu. Sogar einen wortmächtigen Stilisten wie Thelen hab ich dabei erwischt…

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