Freitag, der 13. Januar 2006.

7.52 Uhr. Bamberg:
[Sibelius, Vierte Sinfonie.]
Ich warte auf A., die zwischen acht und halb neun hier sein und zum Abschied mit mir frühstücken möchte, bevor ich wieder reise. Ihr Freund hatte nachts noch angerufen, sie war zu ihm gefahren. Es ist wieder einer dieser tiefen Abende gewesen, die aus persönlichstem Gespräch, Blicken, Lesungen bestehen, und insgesamt ganz überraschend, anfangs sogar ein wenig überwältigend. Nämlich hatten wir gestern abend ja essen gehen wollen, und wie fast alle Frauen, an denen mir liegt und lag, kam A. zu spät. (Nur Do war immer anders, aber eigentlich a u c h nicht: Sie kam immer ü b e rpünktlich, aber auf die wirklich allerletzte Minute, wenn ich schon immer halb schwitzend vor Nervosität vor der Alten Oper auf- und abtigerte. Eines SchubertZyklus’ mit Alfred Brendel entsinne ich mich, da kam auch Do zu spät, fast zehn Minuten, aber war nicht die Spur beeilt. „Wieso?“ fragte sie. „Der fängt doch sowieso später an.“ Wir noch zur Garerobe, es war deutlich nach acht, aber als wir den Konzertsaal betreten, saß Brendel noch gar nicht am Klavier.)
Gestern war ich ausnahmsweise einmal n i c h t nervös, sondern las Heisl, korrigierte vorsichtig ein wenig in seinem Typskript herum, da steht A. wundervoll hergemacht vor der Tür. Wieso trägt sie keinen Mantel? Denk ich noch. „Tut mir leid, daß ich zu spät bin“, sagt sie. „Macht nichts“, sag ich. „Wir müssen allerdings“, sagt sie, „noch mal eben zu mir hinauf.“ Na klar, denk ich, sie braucht einen Mantel. Und dann hat sie einen Tisch gedeckt, den man nur festlich nennen kann, alles glänzt in Weiß und Glas, und die Speisen …. ah, i c h muß jetzt eben zum Bäcker… unterbreche also und erzähle nachher weiter…

9.10 Uhr. ICE Bamberg-Berlin.
…’tschuldigung. –
„Alban! Alban!“ rief’s, ich vernahm das erst nicht, denn die Sinfonie war zu laut. Dann merkte ich’s doch, A’s Stimme, kein Zweifel, aber wieso stand sie nicht an der Tür? Von ihrer Wohnung herunter rief sie: „Kannst d u bitte Brötchen holen? Ich hab mich etwas verspätet.“ Also packte ich schnell das letzte Zeug zusammen, stapfte die schmale Judenstraße Richtung Zentrum entlang übers Plätzchen, dann gleich rechts. „Ich bin einfach eingeschlafen auf der Couch“, erzählt A. beim latte macchiato, „ich hab gedacht, ich relaxe noch einen Moment, dann fahr ich los – und wachte auf, als es sieben war. Du wirst es nicht glauben: Ich bin total frisch.“ Frühstück also, die Abschlußzigarette, was in meiner Packung noch übrig war, ließ ich ihr. Die Honduras, die ich nachts nicht mehr rauchen mochte, bewahrt sie für mich im Kühlschrank auf.

“den man nur festlich nennen kann, alles glänzt in Weiß und Glas, und die Speisen ….“, da war ich stehengeblieben, da, liebe Leser, nehme ich den Faden wieder auf: Krabben gab es, also Granat, in einer leichten Mayonaisensahne, schafskäsegefüllte Paprikazipfel, eingelegte Weinblätter, einen Knoblauchdip, gefülltes warmes Brot und ein griechisches Fleisch/Reis-Gericht; dazu roten schweren Wein und ein eigenartiges, gesüßtes Wasser mit dem Aroma von Orangen. Wir spachen lange, A. bat: „Liest du mir bitte wieder etwas vor?“ Sie habe nie vergessen können, wie ich ihr im alten Café an der Brücke DIE ORGELPFEIFEN VON FLANDERN vorgelesen habe. Ich wählte ISABELLA MARIA VERGANA, die A. wie magisch, sagte sie, einwob; schob später LENA PONCE nach, die sie wiederum n i c h t mochte: „Das ist so unerbittlich.“
Es wurde immer später, Privates kam dazu, sie erzählte von sich, und sie sagte: „Ich werde ******s Gesicht nicht los, seit du mir die Bilder gezeigt hast. Es gibt nicht viele Frauen mit einer solchen Präsenz. Man sieht sie und spürt: das ist kostbar, ist selten.“ Und in Adrian hat sie sich gleich verguckt. „Und die Frauen… sonst?“ fragte sie. „Sie gehen alle“, sage ich, „immer so nach einem Vierteljahr oder früher.“ „Dann ist die Zeit der ersten Verliebtheit vorüber, dann wissen sie: man kommt da nicht ran. Ich versteh das gut.“ Und noch ein tiefer Gedanke kam von ihr, ich habe so etwas vordem nicht bedacht: „Wenn du dies alles öffentlich machst, ist das für eine neue Frau doppelt schwierig; denn daß jemand etwas Vergangenem nachtrauert, ist das eine, und Frauen können sowas schon tragen; es aber öffentlich gemacht zu sehen, bedeutet zugleich eine mögliche Verwundung von außen: Indem andere wissen, was ist, bringen sie der neuen Frau möglicherweise Mitleid entgegen. Nichts, in diesen Belangen, verletzt m e h r. Ihr Stolz wird beschädigt.“ „Dann werde ich“, sage ich, „wenn eine mich liebende und von mir geliebte Frau sich das wünscht, dieses Tagebuch beenden.“
A.’s weiche ruhige Stimme, am Telefon klingt sie ganz hell; spricht man indes Gesicht zu Gesicht, dann färbt sie sich dunkel, wie von Samt. Eine enorme Zartheit, die zugleich sehr fest wirkt, als stünde sie auf einem sehr gesicherten Fundament. Tatsächlich schützt sie ein Immobilienerbe, sie unterhält Ferienwohnungen als Nebenverdienst, unterhält sie wirklich, richtet sie her, ’hat sie lieb’, möchte’ ich sagen – das überhaupt ist die Aura, von der A. wie von einem Strahlen umgeben ist. Der Gast findet immer eine nahezu liebevolle Begrüßungsgeste: einen Teller voll Obst, dekorativ angerichtete Chips, einen persönlichen Brief. Ich profitiere nun von den Wohnungen, denn zwar muß jeder Stipendiat in die Villa Concordia sein eigenes Bettzeug, Handtücher usw. mitbringen, aber A. sagt: „Das ist Unsinn. Ich bin an eine Wäscheverteilung angeschlossen, von der ich wöchentlich frisches Bettzeug beziehe und das benutzte wöchentlich zum Waschen wieder weggebe, also um so etwas mußt du dich dann wirklich nicht kümmern.“ Sogar was Adrians Ratz, was Felix angeht, hat A. eine Lösung parat. „Wenn ****** die Ratte nicht mag, dann gibt sie, wenn du hier bist, mir und nimm sie am Wochenende wieder zu deinem kleinen Schatz mit heim. Cara freut sich, das wird lustig.“ Cara ist ihr Labradorin, mit der ich ab April joggen werde. „Da wird sie ja ganz schlank! Tu das, unbedingt!“ Gegen halb zwei, abermals, geh ich hinab und hinüber, falle sofort ins Bett, wache um halb sechs auf, bereit aber bin ich noch nicht. Erst zwei Stunden später stehe ich auf und skizziere den Anfang dieses Eintrags.

Tiefer Winterwald zwischen Bamberg und Lichtenfels. Strahlendes Weißgrün, von einem Dunkelocker aus Stämmen, Pfaden und quergelegten Balken durchsetzt und durchzogen.

Nun also geht es zurück, die Reise ist fast vorüber. Ich freue mich auf die Oper, die Stadt, auf meinen Jungen sowieso (um 16 Uhr bring ich ihn zur Musikschule rüber und hole ihn hernach zu mir) – aber auch eine Form der Beklemmung wartet und die Entscheidung drängt, wie ich mit meinen Schulden umgehen will und dieser penetranten Form der fehlenden Einkünfte. (Andererseits: Bei Kunst war es kaum je anders, ohne Mäzene hätte es die halbe Musikgeschichte nicht gegeben. Deshalb ist es so wichtig, daß ich dergleichen hier nachzeichne: nicht erst im nachhinein, wenn es zu spät ist, sondern während sich die Schlaufe zuzieht. Das tut sie, das ist gar keine Frage. Nur besteht kein Grund, das schamhaft zu verschweigen, im Gegenteil: Hierüber zu klagen ist Ausdruck zugleich von Wut wie eine Forderung, die man völlig zu recht erhebt. Vielleicht ist auch d a s ein wenig Grund für die Skandälchen, die immer wieder um mich und meine Arbeit und vor allem um Die Dschungel wirbeln. Mehr noch: die Selbstoffenbarung der finanziellen Enge, der Ablehnungen, der Widerstände insgesamt zum T h e m a zu machen und es künstlerisch zu bearbeiten – spöttisch gesagt: den Zahlungsbefehl zum Motor eines Kunstprodukts machen -, ist eine für Künstler hoch angemessene Reaktionsform: denn auch daraus e n t s t e h t dann etwas, auch das wird integrativer Bestandteil des Werks. Das ist möglich, allerdings, alleine durch das Internet: wenn einer zeitnah sein will. Es dokumentiert aber a u c h, daß und wie sich immer wieder Menschen finden zu helfen: nicht weil man ihnen sonderlich sympathisch wäre, viele haben Vorbehalte und möglicherweise mit Recht:: sondern weil ihnen an dem P r o j e k t gelegen ist und daß jemand es durchhält. Jeder wahrscheinlich, der so etwas – aus welchen Gründen auch immer – tut, verbürgt eine Hoffnung: daß der Tag kommen werde, an dem wir offen sein dürfen.)

13.54 Uhr. Berlin. Arbeitswohnung.
Zurück. Kurz diesen Beitrag einstellen, dann auspacken und in die Kinderwohnung hinüber, von wo das Fahrrad zu holen ist.

21.58 Uhr:

Freunde verlieren. Eine Art der Traurigkeit. (2).

Anderthalb Jahre >>>> h i e r n a c h abermals ein Krach mit Gerd-Peter Eigner, der eigentlich herkam, um eine Not auszusprechen, die ihn quält. Und wieder werfen wir uns gegenseitig an den Kopf, Hohlköpfe zu sein. Anlaß ist Lilith und daß sie nicht nach Innsbruck kam, Anlaß ist meine Formulierung eines >>>> NFS, sowie der Begriff der >>>> Anthropologischen Kehre. Nicht, daß er dagegen opponiert, ist mein Problem, sondern daß er einerseits von der Materie, nämlich dem Netz, keine Ahnung hat und andererseits sofort persönlich ausfällig wird. Jedenfalls schreien wir uns an, obwohl Trauer hätte aufgefangen werden müssen; er nennt mich einen „Lächerling“, ich werf ihn aus der Wohnung. Nun ist er fort.
Seiner literarischen Leistung nimmt das nichts. Er überragt den Großteil aller deutschen lebenden Autoren um Längen. Ob man mit ihm klarkommt oder nicht. Punkt.