Dienstag, der 23. Januar 2006.

4.46 Uhr:
[Bruckner, Achte, Klemperer. Kopfhörer.]
Trotz der Kälte und ein wenig Übermüdung gut hochgekommen; auch der latte macchiato steht bereits neben/vor mir. Ratz Felix krabbelt an mir rauf und runter, ganz aufgeregt, weil er von dem Milchschaum kosten durfte. Gleich rein in diese Vaterleggins und zwei, drei Pullover, dann noch A’s, aus Wuppertal, Strickjacke. Hatte was von ‚die Heimat wiederfinden’, als ich eben nach der Morgenmusik schaute und zu dem Bruckner griff, der mich am Freitag so gefaßt hatte. Woher das mit der Musik eigentlich rührt, was mich als Jungen so an dem aufgesogen hat, was fälschlicherweise „klassische Musik“ genant wird (das wenigste davon, signifikant wenig, i s t Klassik), weiß ich gar nicht. Jedenfalls schlug ich diese Musik fast, seit ich denken kann, wie einen Mantel um mich, einen mit Kapuze, der mich schützte. Seit ich etwa dreizehn war, also mit dem frühesten Zeitpunkt, an den einen damals die Pubertät anstubste. Ein Einfluß von Zuhause, weder bei meiner Mutter, noch meiner Großmutter (‚Väter’ spielten familiär kaum eine Rolle, bei meiner Mutter gar nicht, aber auch meines Großmutter Mann war oft monatelang, ohne Nachricht zu geben, verschwunden), kann das kaum gewesen sein – es sei denn, es ist eine S p u r, ahne ich gerade, meines Vaters, die sich in den dichten Wald wieder auftat, worein er verschwunden ist, als ich eben fünf geworden war. Der sich auch nie mehr geöffnet hat und der der Psychoanalyse, also einer nachgeholten, bewußten Erinnerungsarbeit undurchdringlich blieb: vier verschlossene Jahre, deren Dickicht so umdornt ist, daß sich kaum ein Fuß hineinsetzen läßt. Aber Vaterspur, ja, das könnte sein, mein Vater hat fast nur ‘Klassik’ g e h ö r t. Mit siebzehn, so viel später, lernte ich ihn kennen und wohnte ein verzweifeltes Jahr lang bei ihm. So gut das halt ging, weil seine Verzweiflung bei ihm wohnte, eine lächelnde Verzweiflung, die wie eine Zelle aus Glas war.
ARGO.
(Mir ist momentan warm. Aber der trockene, leicht hinterm Gaumen reißende Husten verkündet nichts Gutes. Muß Metavirulent besorgen, auch wenn das arg auf die Kasse geht. Zwei Grippostads liegen noch in der Küche auf dem Regal der vergessenen Medikamente. >>>> SAID hat elektronisch einen schönen privaten und einen öffentlichen Brief geschickt, auf den ich später reagieren möchte. Und von >>>> June kam eine lange Nachricht, klug und sanft die Finger auf ein paar Wunden gelegt, über die gestern am späten Abend der Profi mir etwas ganz Ähnliches sagte. Das aber gehört, weil es jemanden anderes betrifft, die, sagen wir, fragil ist, nicht in den Öffentlichen Raum. „Damit muß eine Frau erst einmal klarkommen, mit deiner Unerbittlichkeit. Du läßt den Menschen nicht ihre Maske. Sondern analysierst sie, wie du dich selbst analysierst. Das hält nicht jede aus, objektiv nicht. Manche b r a u c h e n nämlich ihren Schein, sonst brechen sie entzwei. Du bist nicht milde. Damit muß umgehen können, das muß w o l l e n, wer dir nah sein möchte.“ „Dabei wünsche ich mir doch gar nichts anderes, als endlich einmal wieder, und vorbehaltlos, zu lieben.“)

9.13 Uhr:
[Birthwistle, Gawain.]
Den >>>> Sanften als handelnde Person in ARGO eingeführt, >>>> der bereits in EF 448, also rund zweihundert Seiten vorher >>>> angekündigt wird. Die Dschungel dienen nun, wie schon bei den Vorträgen, als >>>> Reservoir von Erzählungen; sie archivieren und lassen schnell auffinden, was im Roman dann Figur und Handlung wird. Interessant dabei ist die spezielle poetische Übersetzbarkeit realer Begebnisse in solche des ausgewiesenen Fiktionsraums. Der ist nämlich gestalteter Erinnerungsraum. Umgestaltet, als rückte man Möbel und striche neu die Wände.

[Poetologie.]

15.49 Uhr:
Tatsächlich von 13 Uhr bis 15.30 geschlafen. Als der Wecker klingelte um 14 Uhr, drehte ich mich noch einmal herum. (Um halb zwei ging das Telefon: Momentan nehmen die Werbeanrufe überhand. Ich war, da eben eingenickt, wirklich ungehalten gegenüber dieser Frau vom Malteser Hilfsdienst, die so sehr auswenig ihren Text aufsagte. Dabei ist Malteser Hilfsdienst ja nun wirklich okay). Wahrscheinlich bin ich in den Schlaf vorm Übertragen der ARGO-Korrekturen geflüchtet, die >>>> Freund UF mir geschickt hat.
Hab das Abendessen abgesagt. Meine unterdessen bereits wunde Nase ist komplett zu und läuft dennoch, ohne Kitzeln, einfach nur wie ein undichter Wasserhahn. Ich versorge die lecke Sanitätsstelle mit Lippenpflegestift und bin ständig am Tupfen. Das, ich weiß, interessiert Sie nun was! Von meinem Husten könnte ich a u c h noch schreiben, und daß mir eb eine Beileidsmail schickte, auf deren Intro sich >>>> jemand Interessantes selbst köpft, gucken Sie mal.
Sò, Korrekturen ff. Und dann mal schauen, ob mich Kaschmir zu etwas inspiriert, das politisch korrekt ist. Ich hab da so einen Auftrag. Mir fällt pc zu sein ja schwer, aber ich seh’s jetzt mal an, als hätt ich die strengen Vorgaben eines Sonetts zu beachten, also rein formal. Dann legt sich meine Erregung wieder, und der Handwerker bekommt einen Ehrgeiz. Schönes Idiom: ‘einen Ehrgeiz bekommen’. Muß in den Dornseiff.

(Ich sollte auf jeden Fall, obwohl ich mich scheue, heute einmal hinausgehen. Schon des Metavirulents wegen und weil kein Wein mehr da ist. Vielleicht besorge ich eine Flasche Rum und regle meinen Zustand später mit Grogs. Hab eben nach der Temperatur schauen wollen bei http://wetter.com, aber: meine Postleitzahl vergessen! Das heißt, hab gemeint, es sei 10497, die gibt es aber nicht. So mußte ich in meine Briefkopf-Datei schauen.Und wirklich, 10437 ist’s. Nicht zu fassen: Alzheimer eine Form der Grippe! Komm ich mit dieser Entdeckung nun wenigstens zu medizinischen Ehren? Ich meine, gilt auch in den Wissenschaften der moralische Literaturbetriebs- bzw. Beziehungsverhinderungs-Vorbehalt?)

[Carlos Kleiber dirigiert Alban Bergs Wozzeck-Suite. Unendlich intensiv.]

23.45 Uhr:
Zufrieden mit dem Tagesergebnis. Einen >>>> langen guten Dschungel-Thread erhalten. Bin jetzt sehr müde. Der Kopf brummt, leichtes Fieber, die Nase ist zu und läuft dennoch; der Husten nervt. Drei Grogs intus, das sollte wirklich reichen. Allen eine gute Nacht.