Montag, der 22. Mai 2006. Berlin – Bamberg.

5.15 Uhr:
[Berlin, Arbeitswohnung.]
Schwer, sehr schwer geträumt, wahrscheinlich wegen des – im US-internen Zusammenhang sowieso – ganz erstaunlichen Filmes >>>> Syriana, der sich nun wie eine oppositionelle Fußnote zu >>>> „Twentyfour“ ansah (schauspielerisch scheint sich >>>> Clooney an de Niro zu orientieren). Außerdem, da saß ich bereits im Zug, wollte der Schaffner (dessen Berufsstand sich unterdessen „Zugbegleiter“ nennt), plötzlich 12 Euro von mir: Die Bahndirektion habe, erklärte er, die Gültigkeit der Bahncard 100 eingeschränkt; jeder Besitzer müsse nunmehr für jede ICE-Fahrt diesen erniedrigten Fahrpreis t r o t z der mobility card entrichten. Wie mein Unbewußtes dem Mann exakt 12 Euro vorgeschrieben hat, wieso ich also auf genau diese Summe kam, ist mir nicht nachvollziehbar. Aber, Sie haben schon recht, irgend eine Summe muß es ja sei.
Heute morgen wird Katanga meinen Jungen zur Schule bringen; wir wollen allerdings alle gemeinsam aufbrechen: er, sein Junge, meiner und ich. Ich muß die U-Bahn um acht erreichen, damit ich den 8.23er ICE nach Bamberg bekomme, um rechtzeitig dortzusein. Denn heute früh tagt in der Villa Concordia das Kuratorium, das die nächsten Stipendiaten bespricht, und wir diesjährigen sind für 14 Uhr auf ein lockeres Beisammensein eingeladen. Mit Zschorsch hatte ich am Donnerstag abend abgesprochen, daß wir bei dieser Gelegenheit so einiges, nebenbei freilich, im Plaudern, vorbringen werden. Es wär also dumm, erschiene ich nicht. Und morgen abend, übrigens, findet meine erste Bamberger Lesung statt. Ich seh dem nicht ohne Nervosität entgegen. Oldenburg, weiters ‘übrigens’, hat mir offenbar eine ziemlich gute Kritik eingebracht; die Leiterin des dortigen Literaturbüros zitiert in meiner Mail aus dem Artikel, von dem sie zugleich eine Kopie auf den Bamberger Weg gebracht.

Kurzes Telefonat gestern abend noch mit RHPP wegen des Librettos geführt, das ich ihm für Ende Mai versprochen habe. Es wird Zeit, daß ich die Produktivität anziehe. Jedoch fahr ich eventuell bereits am Mittwoch wieder nach Berlin und hole meinen Jungen wegen des Feier- und Brückentags bereits dann für Bamberg ab; allerdings muß ich abwarten, ob seine Mama zustimmt. Katangas Junge möchte diesmal gern mit; durch die Bahncard 100 ist das ohne finanziellen Mehraufwand möglich. Für die beiden Kinder, die sich gerade wieder prächtig verstehen, wäre das ebenso toll wie für meine Arbeit.

ARGO: Eine Zeile vor der nächsten TS-Seite war ich am Samstag hängengeblieben. Da greif ich jetzt, noch v o r der Zugfahrt, ein. Dann wird geduscht und danach der Junge geweckt. (Genau so eng und nicht voneinander abgeschnitten, funktioniert Leben: die private Mitteilung umhüllt genauso wie umgekehrt das poetische Handeln und den theoretischen Gedanken; die Dinge und Zusammenhänge sind wirkend ineinander verstrickt. Wer etwas darstellen will, das mit Recht Anspruch auf Realität haben kann, kommt um einen Ansatz, wie ihn Die Dschungel vor allem auch im Tagebuch vertreten, nicht herum. Seit dem WOLPERTINGER arbeite ich diesen Ansatz ästhetisch aus. Wobei nicht minder Heisenberg gilt: Was wir beobachten, verändern wir dadurch.*)

[*): Mein Junge sprach gestern davon, daß das Behältnis für seine Yugi-Oh!-Karten p r i v a t sei: nur er, seine Mama und ich dürften hineinsehen… Der Ausdruck „privat“. Bei einem Sechsjährigen. Wir werden ein nächstes „Männergespräch“ führen müssen. Er muß verstehen, was sein Vater hier unternimmt. Und auch d a s gehört zu den Grundlagen, die diese Poetologie leiten.]

8.39 Uhr:
[ICE Berlin-Bamberg. Graun: Cleopatra e Cesare.]
Folgendes dachte ich, neben dem Geleis auf- und abgehend: daß mich bis heute immer wieder etwas nach Braunschweig zurückzieht, welches die Stadt meiner späteren Kindheit, nicht aber die Stadt meiner prägenden Kindheitsjahre ist, die ich – bis zu meinem fünften Lebensjahr – in Bayern am Chiemsee verbrachte. Doch davon ist so gut wie keine Erinnerung in mir zurückgeblieben, und weder meine Psychoanalyse noch meine literarische Arbeit sind fähig gewesen, in das, was wir während jener „den schwarzen Block“ genannt haben, auch nur bis zur Portière einzutreten. Insofern ist der Begriff gut gewählt: ich hatte zu AnalyseZeiten wie auch jetzt noch die Vorstellung eines absolut ebenmäßigen Metallquaders von der Größe einer Verkaufshalle für Möbel oder eines sonstigen Großhandels – eines Gebäudes, wie man es oft an Landstraßen zwischen kleineren Städten findet: allerdings tiefblauschwarz und ohne jedes Fenster, ohne irgend eine Tür. Interessanterweise, fällt mir jetzt auf, habe ich genau diese Vorstellung für das Verwaltungsgebäude der Sicherheitszentrale Koblenz (SZK), der bedeutendsten Polizeiorganisation in Buenos Aires/Anderswelt, hergenommen, und zwar bereits in THETIS, also lange v o r meiner Analyse und bevor der Begriff „schwarzer Block“ für die mir fehlenden Kindheitserinnerungen überhaupt geprägt worden ist. Jetzt kommt mir spontan das Wort „Sicherheitsverwahrung“ in den Kopf: sicherheitsverwahrte, also vor der Öffentlichkeit (Allgemeinheit) wie Verbecher weggeschlossene Erinnerungen..
Während ich so sann, geriet mir zudem der Begriff „privat“ ins assoziative Gehege, und >>>> ich formulierte d a s vor. Sofort schoß ein weiterer, n o c h weniger angenehmer Gedanke hoch: daß ich nämlich derzeit in einer meinen Jugendjahren ganz vergleichbaren Situation wieder angekommen bin, deren Tagebücher voller Sehnsuchtsausrufe sind: „Ach Christine!“ – „Ach Stephanie!“ – so wiederholt sich das noch und noch in den Alben meiner Adoleszenz:: immer war da eine erhofft, die sich mir versagte und mich oft nicht einmal wahrnahm::: dann begehrte ich erst recht. In dieser Zeit formte sich der Wille, Schriftsteller zu werden, und traf auf nicht unähnliche Widerstände. Denen konnte ich freilich meine Unbeugsamkeit entgegenstemmen, und es war d a nur eine Frage der größeren (Durchhalte)Kraft, was andererseits bei Gefühlen versagen muß. Sozusagen verschob ich das zu erobernde Liebesobjekt auf die Arbeit – ich sah Literatur von allem Anfang an als eine solche an, ich habe n i e geschrieben, ‚nur weil mir danach war’.
Es kann nun sein – so der unangenehme Gedanke -, daß die Unerreichbarkeit von etwas (sei es einer Frau, sei es literarischer Anerkennung) eine der Grundbedingungen meiner Produktivität geworden ist und daß ich sie auf die eine und/oder andere Weise immer wieder herstellen muß. Das wäre ein Erklärungsmodus für meine mich auch in emotional glücklichen Beziehungen permanent umtreibende Untreue: sie stellt das gefundene Liebesobjekt als ein vermißtes wieder her. So daß die Arbeitsbedingung nicht gestört ist. („Arbeit“ ist mir, das muß dazu gewußt sein, eine existentielle Kategorie, ohne deren Gegenwart es auch ‚mein Ich’ nicht gäbe; s o gesehen, beschreibt der unangenehme Gedanke einen stategischen Aspekt eines Existenzkampfes).

10.15 Uhr:
[>>>> Graun: welch eine musikalische Begeisterung mit einem Mal!: Parto qual navigante.., die heftigen „Risse“ in den Geigen:: wie wiederholtes hell aufjauchzendes Wasserklatschen… – entsprechend tippte ich eben aus einer Trance heraus in den Laptop (in die ich, halbmüde, immer wieder versinke):] Denn ihr Aufschrecken hatte, als es wie eine kleine, von einem Kind geworfene Wasserbombe explodierte, Momente völliger Sicherheit verspritzt, von denen nicht nur sie selbst naß geworden war: auch Herr Karol rieb sich, wenn auch ziemlich irritiert, das Gesicht – fühlte indes dieselbe so leichte wie doch eigentlich grundlose Erleichterung.[1986 hatte ich für ein kleines, meines Klagenfurter Auftrittes wegen gedrehten FilmPortrait die GrundMusik aus ebendieser enorm reichen Oper Carl Heinrich Grauns gewählt: „Voglio strage, e sangue voglio!“ Wie gerne stellte ich das Filmchen auf die fiktionäre Website, aber es wird wohl vergessen bleiben, weil das Urheberrecht das so will. Auch s o v i e l zur Warengesellschaft, die nur wahrhaben will, was Geld bringt, und alles andre dann „privat“ nennt. Wie nah ich mich doch auch in Sachen Urheberschaft dem Barock fühle! Eine Nähe, die, bisweilen rasend rauschhaft, viel mit G l ü c k zu tun hat… „sento mio dolce amore…“]

10.55 Uhr:
G L Ü C K !!!! L’ombra amata del mio sposo… – und dazu und dagegen >>>> die Beschreibung der Mauer… was wir w i r k l i c h entgegenzuhalten haben: Musik… (ich sehe spüre meine Fingerkuppen über die Tastatur jagen, als spielte ich mit lockerem Handgelenk, das fast die Hände fallenläßt, Klavier)…

13.26 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg.]
Angekommen; ARGO l i e f nur so, vor allem sprachlich, im Ausdruck; die Szene selbst ist ja nicht problematisch.
Jetzt mach ich mich etwas frisch, dann geht’s zu dem KuratoriumsTreff.

Aber etwas Wunderschönes begegnete mir auf dem Heimweg: Eine junge Dame, sehr schlank, hochbeinig (gestern dachte ich drüber nach, was an Beinen genetisch so lockt; bei Brüsten ist das klar, bei den primären Geschlechtsorganen sowieso, aber: Beinen? Ist es der Hinweis des Fluchttiers, wie schnell es laufen und dadurch, durch eben die Flucht, seine Art erhalten kann?)… also… – eine junge Dame, die eine derart enggeschnittene Stoffhose trug, daß ihr Geschlecht sich deutlich hervorformte: von den äußeren Schamlippen mit höchster ästhetischer Einfühlung gestaltet und als wäre es das einer schlanken Marmorgöttin der Antike.
Ich war momentlang vom Glück dieses Anblicks wie vor den Kopf geschlagen… zumal die junge Dame, sie war in Begleitung, plötzlich den ihren ihrem Kollegen oder Freund oder Mann leichthändigst sozusagen zuwarf, also den Blick – und sie öffnete die Lippen – da strahlten zu allem enorm hell ihre Zähne.
Das Bild ging mir den ganzen Restweg nicht aus dem Sinn; es ließ ihn mich geradezu tanzen.

22.55 Uhr:
Diskussionen Diskussionen um das Private. Ich verstehe da einiges nicht, oder die anderen verstehen einiges nicht, oder a l l e Seiten verstehen einiges nicht. Ich habe derzeit keine Ahnung. Kämpfe mit meinen paar Argumenten, mehr kann ich gerade nicht sagen. Aber deutlich ist, daß offenbar die Ideologie immer stärker ist als die Liebe. Daß, anstelle auf das Wissen des Gefühls zu hören, auf Sozialisierung gehört wird ( a u c h, in meinem Fall, auf die Gegnerschaft zur Sozialisierung) – daß uns, kurz gesagt, etwas Fremdes beherrscht, dessen wir uns auf keiner Seite – ich nicht auf meiner, offenbar alle anderen sich nicht auf ihrer – erwehren können. Etwa d i e s e r Gedanke und Wille: Ich wäre bereit, dieses Tagebuch um einer, die ich liebe, enden zu lassen – aber ich wäre nicht bereit, es h a l b enden zu lassen. W e n n, dann ist es ganz weg und nicht nur ein bißchen. Ich will keinen Schein von etwas, das so nicht ist. Ich will nicht verfälschen.
[Sollte das Tagebuch also schweigen, nun, dann wissen Sie, was Wundervolles geschehen ist – aber Sie wissen nicht, wann, und wissen nicht, wo, und wissen nicht, wie. Das – d a n n – wäre im Recht.]