Sonntag, der 11. Juni 2006. Gera – Bamberg.

14.09 Uhr:
[Gera Bahnhof, Baustelle.]Ich sitze an Gleis 10 auf einem niedrigen zementenen Bauzaunsockel und wart auf den RE nach Saalfeld; entfernt wirkt alles, und nur die helle Sonne, das Vogelzwitschern von den Bäumen umher und daß es nicht regnet, schützt vor Tristness. Das Seminar ist zuende, ein paar Notate dazu hab ich >>>> hier eingestellt; in ihrer Zusammenhanglosigkeit haben sie einen gewissen Reiz, den vorhin zuerst Jan Röhnert formulierte. Er will morgen von Weimar zu meiner Lesung nach Jena kommen. Ich muß >>>> Titania Carthaga noch drüber informieren.
An die literarische Arbeit kam ich gestern und bislang auch heute nicht; und auch nachher wird’s eher unwahrscheinlich sen, da in Bamberg ja der Markus-Lüpertz-Empfang ist; ich bin schon gespannt, ob bei meiner Ankunft tatsächlich die staatsstipendiatische Unterwäsche trocknend im Wind weht. Ein paar schöne Textansätze gab es, ein paar literarische Gespräche mit den Freunden, auch ein wenig Geflirte – aber halt doch dann ein leeres Bett, das meinen freilich sowieso schnellen und sehr schweren Schlaf in sich aufnahm. (Heiter ist dieses Notat vor allem deshalb, weil es spätestens morgen nicht wenige Teilnehmer des Workhops neugierig und, hoff ich, erheitert nachlesen werden. Das Poetische an meiner Tagebuch arbeit ist, daß das Geheimnis, publiziert, zugleich geöffnet wird, wie es, persönlich, Geheimnis bleibt. Genau das i s t das Geheimnis oder es liegt doch zumindest darin.)

14.28 Uhr:
[RE Gera-Saalfeld.]
Es ist eine völlige vergessene Stimmung, wenn man hier abfährt; das Gefühl einer Stille, die an unbewegte Oberflächen kleiner verwunschener Teiche denken läßt; die geraschen Straßen sind beinah leer – zunehmend dort, wo die Geleise durch durch ein kurzes Plattenbaugebiet und Kleinindustrie sozusagen auf den Wald zufährt. Immer wieder dann auch Häuser wie direkt nach ’89, baufällig, ebenfalls vergessen und leer. Unvermittelt dann wieder wunderschön renovierte, und zwar n i c h t überrenovierte Villen und kleinere Häuser. Und vieles in einem geradezu orientalisch-langsamen Bau. Ähnlich, wie ich es seinerzeit in der Sizlischen Reise über den meditarraneo schrieb. Ich bin ein Mann der Metropole, aber dies hier gefällt mir dennoch sehr. (Schriftsteller sein heißt, fällt mir gerade ein, von Welt zu Welt zu reisen, überall hinein eine Schlinge aus Seele zu werfen und sich für Zeiten darinnen zu halten; heißt aber a u c h: imgrunde nirgends Zuhause zu sein. Wer Heimat verstehen will, muß v i e l e Heimaten haben. Also hat er keine. Auf diesen Widerspruch wird der poetische Text geschrieben.)

14.48 Uhr:
Gerade geschafft, die Notate einzustellen; will das Tagebuch folgen lassen – Wupsch bricht die Verbindung zusammen, weil hier über Land das Mobilnetz offenbar nur sehr locker geknüpft ist. (Wie seltsam, daß das im tiefsten Nahost vollkommen anders war. Fällt mir dabei immer ein. Die Zivilisationsknoten sind durchaus nicht deckungsgleich mit der technologischen Entwicklung.)

15.52 Uhr:
[RE Saalfeld-Lichtenfels.]
Na klasse – Weichenedefekt in Könitz – den ICE nach Bamberg um 5 Minuten verpaßt („Wir sind das Ende des Streckennetzes, das letzte Glied; auf uns wartet der Fernverkehr nicht“). In dem Bahnwärterhäuschen nur noch e i n Angestellter, der nun die Weiche per Hand selbst umlegen muß… Ich plausche mit Zugbegleiterin und Lokführer, über die beide sich der gesammelte Ärger anderer Reisender muffig entlädt. Sie tun mir leid, sie beide, können ja auch nichts dafür.
Jedenfalls zuckele ich nun über Land heimwärts und weiß noch nicht, wann ich ankommen werde: erst bis Lichtenfels, dann von dort mit einem nächsten RE nach Bamberg. Mit meiner Ankunft um 17 Uhr, liebe Leser, wird’s nun wohl nichts werden. Und typisch: Ausgerechnet heute ist dieser sonst immer verspätete ICE pünktlich.

18.20 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg.]A. holt mich ab, fährt mich zur Villa, wo bereits die Markus-Lüpertz-Ausstellung voll im Gange ist: Massen von Leuten schieben sich hinten an den Studios vorbei und ergießen sich, vom >>>> Jägerzaun geleitet, in den Barockgarten, wo das unsägliche Zeugs steht. Und wie groß meine Enttäuschung, daß unsere geplante Aktion nun d o c h nicht umgesetzt wurde. Zschorsch erklärt gleich: „Niemand wollte mehr mitmachen, alle sprangen sie ab. Und du warst halt nicht da.“ Wir hatten nämlich vor, entlang dem Jägerzaun eine Wäscheleine zu spannen, auf der dann pünktlich zur Eröffnung unsere Unterwäsche naß gebaumelt und getropft hätte: Slips, BHs, Socken usw. Momentlang war ich wütend, fluchte was von „Untertanengeist!“, aber beruhigte mich schnell wieder, holte mir einen Wein, setzte mich auf die Mauer, die in den Barockgarten und aufs Publikum hinabsehen läßt, und sinnierte in die Szene.
Nun stell ich dies hier eben ein, um 19.30 beginnt der Empfang mit fränkischem Buffet, A. wird dabeisein und ihre charmante Freundin mitbringen, die ihren sechsjährigen Sohn bei sich haben wird. Schad, daß m e i n Junge nicht da ist.Dies hier, liebe Leser, damit Sie f a s t in Echtzeit dabeisein können. (Und ein bißchen die Post check ich eben noch).