Arbeitsjournal. Montag, der 30. Oktober 2006.

4.46 Uhr:
[Berlin, Schönhauser Küchentisch.]
Pünktlich auf, auch wenn gleich für die Arbeit nicht s e h r viel Zeit bleibt, weil ich den 6.42er ICE nach Bamberg erwischen will. Mittags werd ich dann in meinem Concordia-Studio sein. Ich muß und will mich dort dringend wieder ein paar Tage lang am Stück sehen lassen; durch die einwöchentliche >>>> PETTERSSON-Produktion und wegen der Familienumstände, die seinerzeit, als ich das Stipendium angenommen habe, nicht abzusehen waren, bin ich in diesem Monat selten genug dortgewesen; immerhin ist es ein Präsenzstipendium und also – dies für meine betriebsfernen Leser, die nicht wissen können, was das bedeutet – an Anwesenheit gebunden. Rechtlich ist so etwas nicht ohne Fragwürdigkeit, weil die Konditionen eines solchen Stipendiums eigentlich ein Verfassungsrecht brechen (ausgeklagt hat das aber noch niemand, wohl auch niemand wagen wollen, es auszuklagen), aber natürlich sind sie aufgrund schlechter Erfahrungen entstanden: Nicht selten gab es Stipendiaten, die strichen das Geld ein, aber ließen sich am Ort des Stipendiums nie oder nur kaum sehen; so etwas verärgert, find ich, zu Recht. Also wurden diese anderen, juristisch heiklen Regelungen geschaffen. Nun hab ich meinerseits kein schlechtes Gewissen, ich bin ja oft g e n u g da, denk ich mir, und konnte vorher nicht absehen, was mir geschehen, was mir geschenkt werden würde: diese zweite Chance für Heimat, seelische, und daß ich sie nicht mehr vertu. Außerdem, ich weiß nicht, ob es schon einen Literaturstipendiaten gab, der den Ort seines Stipendiums derart in sein Werk eingehen ließ, daß man fast von einem ästhetischen Umbruch, zumindest der neuen Eroberung einer ganzen Kunstform sprechen kann; nichts anderes s i n d >>>> die Bamberger Elegien für mich. Auch wenn der Profi nicht unrecht hat, als er mir vorgestern sagte: „Mit dem Hexameter bist du, seit du ARGO planst, beschäftigt; schon vor fünf Jahren erzähltest du immer, du wollest den Roman mit einem in Hexametern geschriebenen Teil enden lassen. Und jetzt bist du wie ein Kind, das ein neues Spielzeug hat und n u r noch damit spielt. Es gibt rein gar nichts anderes für dich mehr. Neulich hast du sogar mitten in der Unterhaltung mit Sätzen in Hexametern gesprochen, erinnerst dich? Wie U. und ich da lachen mußten? –Und genau so ausschließlich wirst du’s dann auch wieder sein lassen.“ Ich grinste (‚grinsen’ schreib ich, weil es meine Eitelkeit auf die Schippe nimmt) und erwiderte: „Wenn ARGO fertig ist.“ „Wenn ARGO fertig ist. Ja.“
Neben dem Roh-Abschluß der Neunten hab ich gestern noch einen kleinen Selbstbestärkungstext für Die Dschungel angefangen, den ich im Zug zuendeschreiben will. Denn die Feldflasche Bamberg, von der ich >>>> hier (16.07) schrieb, ist leer. Hübsch dabei, daß sich die Neige einem gekreuzten >>>> Daishō eingeformt hat, das, wenn ich mein Bamberger Studio nachher betreten werde, dort ganz sicher auf dem Tisch liegt, jedenfalls werde ich’s sehen und dann prüfen, ob man vielleicht die Klingen nachschärfen muß. Die eigentliche Prüfung wird aber erst >>>> ARGO sein… also wenn ich mit der Überarbeitung beginnen werde zur Mitte oder gegen Ende November. Was nun die Feldflasche anbelangt, so habe ich zwar einige weitere Kubikzentimeterchen Bamberg gespeichert, als nicht wenig Entwurfszeilen – für alle vier noch ausstehenden Elegien stehen bereits Anfangszeilen, so daß ihre Themen schon grob festgelegt sind -, aber ich brauche eine Eingangsstimmung, je ein ganz konkretes Bild, in das ich körperlich – unbedingt körperlich – eingebunden bin, damit die Elegien als Ausgleich zu ihren Gedankengebäuden sinnliche Konkretheit bekommen. Zur Neunten hat mich gestern, als ich abends noch einmal in den Laptop schaute, die Email einer Leserin erreicht, der ich den Rohentwurf schickte, und was ich las, berührte mich sehr, rührte mich an, ohne jede Rancune gesprochen, und bestätigte mich in meiner Arbeit g e g e n die Unkenrufe, die es bisweilen ja a u c h gibt; >>>> siehe Vergana. Immer wieder fällt mir bei so etwas auf, wie abhängig ich psychisch von Zuspruch bin und wie sehr mich Ablehnung schmerzt; solche Leserzuschriften wiegen dabei enorm, denn es läßt sich nun n i c h t einwenden: aber das sind Freunde, die sehen deine Arbeit nicht objektiv. Das Internet ist für so etwas von unvergleichlichem Wert; zwar gab es Leserbriefe auch früher schon, wegen meiner Bücher, aber doch immer erst lange, nachdem sie herauswaren, da war niemals mehr eine Wirkung auf eine entstehende Dichtung, allenfalls auf eine, die folgte. Hier nun ist alles vergleichsweise unmittelbar und gibt w ä h r e n d der Arbeit Rückhalt.
Übrigens, Leser, daß ich in den letzten Monaten so emphatisch dazu übergegangen bin, von ‚Dichtungen’ zu sprechen und nicht mehr, wie früher lange, von ‚Texten’, hat etwas mit diesem Konservativen zu tun, das in mir entstanden ist, und mit der Gegnerschaft zur einwertigen Funktionalität und gesellschaftlichem wie persönlichem Pragmatismus im Umgang mit Kunst allgemein sowie mit der persönlichen Haltung. Die Tendenz zur sozialen Einbindung des „Kunsttätigen“ in ökonomische Gesellschaftsprozesse, so wichtig sie politisch auch war und wahrscheinlich immer noch ist, verkennt nämlich eine wesentliche Grundbedingung: daß diese Tätigkeit n i c h t, jedenfalls nicht in erster Linie, aus der Überlegung rührt, wie kann ich meinen Unterhalt und den meiner Familie sichern. Sondern da wirkt etwas ganz anderes, das sogar entschieden gegen diese Überlegung ansteht. Ein Künstler ist n i c h t ein ‚Werktätiger’ (es gibt eh kein Werk, also keine Fabrik); dennoch so zu tun, unterschiebt unwillentlich den künstlerischen Prozeß demselben Entfremdungsprozeß, der die meisten übrigen gesellschaftlichen Arbeiten kennzeichnet und im Kapitalismus auch kennzeichnen s o l l. Indem man die künstlerische Emphase aufgibt, verrät man sie. Als diese Tendenz begann, in den Siebzigern, war es darum gegangen, Kunst aus der bürgerlichen Hehrheit, einer Erstarrungsform, herauszulösen; deshalb war damals zu Recht Fluxus angesagt; unterdessen ist sie aber fast spurlos von der Ökonomie geschluckt worden, die pragmatischen Wesens ist und finanziellen Mehrwert will. Jetzt muß man im Magen randalieren, so daß die Ökonomie einen ausspuckt, weil man so schwer – besser: gar nicht – verdaulich ist. Man muß sagen: Ich gehöre nicht in den Speisebrei. Ist der nun demokratisch geformt, so tut man deshalb wohl daran, aristokratisch und, ein gutes Nietzschewort, unzeitgemäß zu werden – oder anarchistisch, das ist eine Frage des Temperaments und der sozialisierten Bedingungen des Künstlers, wohl auch auch seines Alters, was bedeutet: der Fülle seiner Erfahrungen.
Guten Morgen, übrigens. Ich muß zusammenpacken.

7.01 Uhr:
[ICE Berlin-Bamberg.]Ich war derart in Gedanken, daß ich in die falsche S-Bahn stieg; es fiel mir jedoch die Ansagerstimme „Bornholmer Straße“ dann derart adrenalin (ja, als Adjektiv) in die Versenkung, daß ich mich nahezu unmittelbar herausriß, und da die S-Bahn-Station ihrerseits ein Relais ist, war’s nicht schlimm.
Hab – ich bin ein symbolischer Mensch – wieder meinen Lieblingsplatz einnehmen können, obwohl der Zug heut früh nicht leer ist: Platz 111 (wegen meines geliebten Beethoven-111, dieser späten Klaviersonate, ohne die meine ganze Studentenzeit völlig anders verlaufen wäre, vielleicht auch meine Entwicklung-insgesamt eine andere Richtung genommen hätte). Und übers Mobilchen versuch ich grad, ein Bild von eben einzustellen, aber es ‚packt’ das mal wieder nicht, und ich werd’s also in Leipzig via t-mobile-hotspot tun. Gedulden Sie sich, die Stimmung ist’s wert. [Erledigt, 8.09 Uhr. Halt Leipzig.]
An die zehnte Elegie also geht ich heut vormittag nicht, sondern wahrscheinlich erst morgen früh um fünf, wenn ich in die noch-Nacht über der Regnitz starren werde. Es muß eine besonders liebevolle, eine besonders leidenschaftliche, exzessive werden, weil es nunmehr, in ihr, um Musik gehen soll. Mein Vorhaben will auch die Hexameter-Fragmente aus dem PETTERSSON-REQUIEM dort mit hineinnehmen, über das ich auch gleich >>>> den versprochenen Sendehinweis in Die Dschungel stellen will. Statt also an die Elegien zu gehen, werd ich während der Fahrt meine Selbstbestärkungs-Überlegung, die einen manifestiven Character hat, ausformulieren und vor allem auch einen Gedanken zur >>>> Kleinen Theorie des Literarischen Bloggens, der mir heute morgen in Zusammenhang mit einem anderen kam, den ich bereits am 31. August dieses Jahres skizziert, dann aber unausgeführt liegengelassen habe. Wahrscheinlich sind danach die vier Fahrtstunden vorbei. Ich werde von hier aus verlinken, sowie’s geschafft ist, vielleicht auch erst aus der Villa Concordia.

12 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg.]
Als erstes Mal finde ich Steuerberaterpost: die Erklärung für 2005; ich will sie noch nicht öffnen, bin zu bang jetzt und zu gut gelaunt. N a c h dem Mittagsschlaf das. – Herrliches Herbstwetter, mein Ausblick, kurzes Gespräch mit Leukert vom hr, der die Mischung fertig hat (wegen meiner nachträglichen Aufnahme des Introitus) und nicht g a n z zufrieden ist, dann eine SMS von C., ob wir Babykleidung brauchten, und falls ja: welche, und ich zurück: beides, da wird sie gelacht haben; einen Pulver-latte macchiato, eine kleine Zigarre, wobei ich >>>> d arüber weiterhin nachdenke, aber dazu später. Jetzt leg ich erst einmal die neue Rubrik an. Ach ja, außerdem diese Mail, deren Inhalt mich eigentlich entzückt:
in der Edition J. soll im nächsten Jahr der vierte Band des Buchprojekts “Die äolischen Inseln” erscheinen. Es geht um den Band “Stromboli”. Die Reihe orientiert sich an dem historischen Vorbild des Erzherzogs Salvatore. Eingebettet in den 10. Gesang von Homer stellen sich ein Maler und ein Schriftsteller dem Thema. Für den Band “Stromboli” würden wir Dich gerne gewinnen. Des eigentlich wegen hab ich s o reagiert:
da machte ich sehr gerne mit (hab auch grad bei Euch auf den AB gesprochen); allerdings, um etwas Gutes schreiben zu können, sollte ich vor Ort auf Stromboli skizzieren – und weiß derzeit nicht, wie sich das finanzieren ließe. Flüge nach Napoli oder Catania bekommt man preiswert, und rüberdschuggeln auf die Insel ist auch noch machbar, problematisch ist dann die Unterkunft. Wißt Ihr da was?
Und: w a n n soll das Buch erscheinen? Wie sieht der Vertrieb aus? Viele viele Fragen…
Doch prinizipiell: rasend gerne.
Immerhin, ich bleibe, scheint’s, Sizilien verbunden. Und tatsächlich, über Stromboli habe ich noch Aufzeichnungen aus 1986, die weder in >>>> die Sizilische Reise noch auch ins >>>> Catania-Hörstück paßten.

12.48 Uhr:
>>>> Geschafft! War ein bißchen Friemelei. Ich werd mich gleich ‚draußen’ noch dazu äußern. Ebenfalls >>>> getan.

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