Das Weblog als Stechuhr. Kleine Theorie des Literarischen Bloggens (74).

Nun trägt das Literarische-Weblog-als-Kunstform in einer weiteren Weise etwas zugleich Anarchisches, Widerständiges, ja Utopisches: es vermag nämlich, prinzipiell, normierte Verwertungszusammenhänge zu unterlaufen und aus dem das ‚Endpodukt’ signifikant verteuernden Kreislauf von Produktion, Vermittlung, mehrfacher Weitervermittlung und schließlich Rezeption auszubrechen. Und zwar dies nicht nur, indem künstlerisch d i r e k t kommuniziert wird, sondern indem nicht mehr der Umweg über einen Produktionsprozeß genommen wird, an dem sehr viele andere Geldbeutel mehr verdienen als der Urheber selbst – etwas, das einem aus marktökonomischen Zusammenhängen vom Angestellten über den Arbeiter bis hin zum Pflanzer in der Dritten Welt auf das bitterste vertraut ist. Die Kaffeesorte muß ja erst einmal bekannt gemacht, dann bearbeitet, schließlich vertrieben und angeboten werden. Vielmehr zeigt eine einfache Rechnung, wie einfach sich über das Literarische Weblog sogar die Kunstautonomie bewahren läßt. Es ist nämlich denkbar, daß sich Leser die Filterprozesse einer ästhetischen und moralischen Quasi-Zensur nicht mehr gefallen lassen, die der Kunstbetrieb aus den Lektoraten und bis in die Zeitungsredaktionen willentlich oder unwillentlich und oft um eigenen Machtzuwachs ausübt – und auch in öffentlichen Preisvergaben, deren Jurorschaft sich meist aus ganz denselben Lektoren und Zeitungsredakteuren, bzw. „freien“ Kritikern und Autoren zusammensetzt, die einander gesonnen sind wie die eine Krähe der andren. Sondern daß sie, die Leser, sagen: Wir wollen, daß diese Dichterin, dieser Dichter unbehelligt weiterarbeiten kann; sie/er hat über Jahre gezeigt, w i e sie arbeitet, nicht alles schmeckt uns daran, aber es berührt uns, es läßt uns – auch im Ärger – lebendig sein, und nahezu täglich werden wir mit Neuem, aber künstlerisch Geformtem konfrontiert, das in uns umgeht. Wir wollen nicht, daß das aufhört. Usw. Und daß man dann zur direkten Bezahlung des Künstlers übergeht.
Bei einem arithmetischen Mittel von nur 400 Lesern täglich (sehr viele Weblogs, wenn auch nicht unbedingt mit Kunst befaßte, haben signifikant m e h r Leser; auch Die Dschungel kommen an guten Tagen auf 600/700), und zahlte jeder dieser Leser 10 Euro monatlich (kaum der Preis zweier Schachteln Zigaretten), ergäbe das vor Steuern ein Einkommen von 4000 Euro. Von dem wäre die Mehrwertsteuer in Abrechnung zu bringen, von dem wären die sonstigen Abgaben in Abzug zu bringen, aber es stünde dann immer noch ein Betrag da, mit dem es sich sehr wohl leben läßt, zumal, werden Erlöse aus anderen Produktionsbereichen (Lesungen, Rundfunk etc.) hinzugerechnet. Aber selbst ohne sie wären die Dichterin oder der Dichter dann so weitgehend aus marktwirtschaftlichen Zwängen gelöst, daß sie zumindest nicht mehr bangen müßten.
Das Interessante, das Doppelgesichtige auch, dieser Möglichkeit – und das praktisch werdend Utopische – liegt dann gar nicht mehr ausschließlich im Modernen quasi unendlich kommunizierender Röhren, sondern tatsächlich darin, daß sich die Autonomie der Kunst einlöst, das den Mäzen demokratisiert, aber ohne daß sich der Mäzen-unter-Mäzenen wie ein Wähler von öffentlichen Vertretern repräsentieren lassen muß. Kunstautonomie schlösse sich mit Basisdemokratie zusammen, und zwar über einen – kunsttheoretisch gesehen – Regreß. Der steht dann zugleich gegen ästhetik-ideologischen Machtmißbrauch. Und wäre letzten Endes einem Abonnement vergleichbar, das einem nicht die geringste Werbung ins Haus spült..

Es würde den Künstler selbstverständlich verpflichten, und weitergehend vielleicht, als seine Existenz heutzutage dem Markt verpflichtet ist, nämlich den Lesern. Er hätte tatsächlich ‚seine’ Leser, für sie schriebe er, und sie hätten ein Recht, sich zu äußern, auch über Bücher, die unabhängig von diesem Modell entstünden. Viele täten das wohl auch. Und die Dichterin/der Dichter hätte Rede zu stehen. So entstünde ein Fluß zwischen Dichtung und Leser, wie er bislang rein unbekannt ist. Doch zu einem weiteren verpflichtete der Künstler sich: nämlich zur unentwegten Fortsetzung seiner Arbeit. Das ist gerecht, denn unentwegte Arbeit leisten die Leser zu ihrem eigenen Broterwerb auch. Kein Künstler ist davon freizustellen. Diese Gegenleistung zu überprüfen, dazu diente das Literarische Weblog dann a u c h: Und das >>>> Arbeitsjournal würde zur Stechuhr (in Der Dschungel ist es sowieso schon eine).

[I.
Der Einwand etwaiger „Schreibhemmungen’ oder sonstiger Störungen des Arbeitsprozesses liegt nahe. Dem läßt sich zweierlei entgegnen: 1) Man könnte sie als Ausfallzeit durch Krankheit auffassen; sie wäre insofern zu begründen – und fände die Begründung abermals im Weblog, formulierte sich dort, machte sich ggbf. selber zum Objekt der Gestaltung. Überschritte sie allerdings ein – angemessen locker definertes – Maß, fiele Entlohnung ganz ebenso weg wie bei anderen Freiberuflern, wenn sie ‚ausfallen’. Auch Anwälte bekommen kein Honorar mehr, wenn sie keine Fälle haben. Und der Lebensmittelhändler, wenn er den Laden zumacht, hat ebenfalls keine Enkunft 2) Bei einer ‚Schreibhemmung’ verdienen Autoren so oder so nichts, auch ohne dieses Modell. Es änderte sich also für sie nichts.]
[II
Es ist nicht ausgemacht, ob aus einem solchen Verfahren schließlich nicht sogar die Verlage profitierten; denn Bücher wären für einen ‚Grundabsatz’ kalkulierbar, weshalb sich auch wieder ohne ökonomischen Schaden Bände herausbringen ließen, die auf dem ‚freien’ Markt normalerweise keine Chance haben. Des betrifft vor allem Lyrik oder eine Prosa, deren scheinbare Inkommensurabilität sie der Lyrik gleichrechnen läßt.

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5 thoughts on “Das Weblog als Stechuhr. Kleine Theorie des Literarischen Bloggens (74).

  1. Regress und/oder Regression Der Schlüssel für eine Theorie der Utopie läge – analog gedacht – also in der Praxis einer Regression…Ein faszinierendes Modell, welches dazu angetan ist, das, was wir gemeinhin ‘Fortschritt’ nennen, als das zu outen, was es in aller Regel darstellt: Eine ‘Katastrophe’…
    Nun steht die ‘Regression’ als solche ja in dem allgemein zweifelhaften Ruf des Inadäquaten, Unverständlichen und Pathologischen…
    Sie aus diesem Zwielicht zu befreien, sehe ich als eine der ersten Aufgaben des Künstlers …
    So herme(neu)tisch die Kunst sich auch immer in ‘neuen Kleidern’ zu präsentieren vermag – sie ist dabei so nackt wie der sprichwörtliche ‘Kaiser’ im Märchen und alle Auslegung ist – eben wie im Märchen – ein dem Wesen nach ‘kindliches’ ‘Geschäft’.
    (Die Nacktheit des Kaisers ist die der Zuschauer…)
    Das Weblog als Kunstform, wie sie es beschreiben, macht das sehr deutlich, indem es zumindest noch potentiell jegliche ‘Verwertungszusammenhänge’ unterlaufen kann.
    Lieber Herr Herbst, ohne Hybris, ich besaß eine gewisse Ahnung, warum ich blogge…
    Dieser Ahnung haben Sie Konturen hinzugefügt!

  2. Online-Leser/innen Wobei Leser nicht gleich Leser ist: der eine ist der/die durchgeistigte Literaturfreund/in, die/der in der Zeitgeist-Buchhandlung sorgsam ein Lyrikbändchen aus dem Regal nimmt, lange darin liest, sich mühelos eine Webadresse merkt und das Bändchen dann doch zurückstellt. Der Andere ist der Ballerspieler mit dem Aufmerksamkeitsdefizit, der nach 10 Stunden “Warhammer” über Google auf die Argo-Seite gelangt und dort einen launigen Kommentar hinterlässt. Beide (hier übertrieben dargestellten) Lesertypen interessieren sich wenig für den Arbeitsprozess, da zählen nur die Ergebnisse, bzw. die erfüllten Leseerwartungen…

    1. das literarische bloggen, das literarische bloggen, das literarische bloggen…. wer bringt mich nun aus diesem loop heraus? ich schreibe, ich bleibe in der fiktion des bloggens, das mir eine bleibe bietet, der ich gerne innewohne. und denke an all die erdbeben, die mein bleiben zernichten zu vermögen imstande zu sein vermögen… pardon! ich biete mich mir im außer mir. weil mein außer mir sich gebären muß, damit es außer mir ist. weil des schreibens in mir kein aus-druck gegeben, sondern nur ein unausgedruckter ein-druck. damit es gilt, muß es heraus. es kostet nichts. nur die müh’, es sich abzukaufen um den preis eines tages. weil sonst ein tag liegenbleibt.

  3. ich habe dreissig, proust hat auch nicht mehr und kafka erst, der zählt gar nicht und ich dreissig und gerade sind es wieder dreissig, wovon ich bestimmt zehnmal mitzuzählen bin…na ja aber im ernst, das ist nicht wirklich interessant

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