Also die gestrige Veranstaltung. Mr. Gay, Thomas Meinecke, Norbert Wehr und Maria Isabella Vergana. Vergana (17).

Es waren so gegen fünfzig, vielleicht auch sechzig Leute >>>> da; das läßt sich, weil klug bestuhlt wurde, nicht so genau sagen. >>>> Norbert Wehr besorgte den Büchertisch, aushilfsweise, weil man keinen Babysitter gefunden hatte. „Das werden Sie so schnell nicht wieder erleben“, kommentierte Thomas Böhm. „Ich rate Ihnen deshalb zu kaufen.“ Was die Leute dann auch taten, sogar ein WOLPERTINGER ging weg, vor dem die Leser sonst immer scheuen. Wehr hatte ein ganz zufriedenes Lächeln auf seinem sehr klugen, sehr scharfen, dabei sehr melancholischen Gesicht. Er ist tatsächlich ein schöner Mann; Wissen, Leidenschaft und eine zugleich starke Zurückhaltung sind physiognomisch bei ihm zu hochästhetischem Ausdruck geworden. Mir ist das schon mehrfach aufgefallen, es gibt darin keinerlei Schwammigkeit; dennoch ist er nicht kantig, sondern hat etwas Mildes, g u t -Weiches, das mit einem irgendwie Indianischen eine ausgesprochen edle Symbiose eingegangen ist. Ganz entfernt ist man an Al Pacino erinnert. – Für den Literaturbetrieb – worin Fettsucht, Alkoholismus mitsamt seinen Besenreißern und überhaupt graue Haut das jedenfalls ‚männliche‘ Bild bestimmen, das sich zudem um eine körpergewordene Characterdisposition zu ständigen Bücklingen ergänzt, oder aber, worin für Kultiviertheit allein eine vergeistigte Schwulen-Ätherik steht – ist er deshalb eine Erscheinung von ganz enorm männlicher Reinheit, die trotz dieses Milden Weichen durch nicht einmal den A n f l u g von Androgynem gestört wird. Daß mir so etwas gefällt, muß ich Ihnen nicht schreiben.
Meinecke (ich habe ihn in den vorigen Postings immer falsch, nämlich nur mit ‚k‘ geschrieben; das muß ich im nachhinein ändern) las >>>> „Mr. Gay“, einen Text über verschwimmende Geschlechteridentität, s e i n Thema, ganz offenbar; situiert in den USA, so auch die Namen aller ‚Mitwirkenden‘ US-amerikanisch, bewegt von Pop und Subkultur, aber eigenwillig durchsetzt von theoretischen Partien, die sich letztlich den gender-Diskussionen verdanken, stark beeinflußt von Judith Butler direkt. Die Stimmung erinnerte mich teils an Szenen aus Cronenbergs nach Ballards Roman gedrehtem „Crash“; über- und aufgedreht wie eine Drag-Queen, zugleich aber heruntergekühlt, fast profanierend-nüchtern im Stil, der a u c h etwas Anti-Poetisches hat und ganz bewußt auf klassischen Spannungsaufbau verzichtet. Daher gibt es keinerlei Pathos in dem Text, der dennoch immer Literatur bleibt und bis hin zu nicht selten auch direkt ausgedrückten Bibel-Verweisen mit seinem ganzen Material s p i e l t. Das ist in seiner Konsequenz beeindruckend, übrigens gerade auch im Kontrast zur >>>> Vergana, die i c h dann las.
Wieder einmal wurde mir bewußt, welchen Regreß ich da eigentlich gestalte und wie d i c k der Strich ist, den ich durch die Aufklärung ziehe: dick und, selbstverständlich, r o t. Ich werde ganz offensichtlich ein radikaler Konservativer – ‚konservativ‘ in einem alten Sinn, nämlich ohne daß das anarchistische Element verlorengeht. Manchmal muß ich an Erich Mühsam denken, der mit Beginn der kurzen Münchener Räterepublik bei einem Essen auf Messer und Gabel und Tischsitten bestand, indes seine Genossen all dies für ‚bürgerliche Verbildung‘ hielten. Konservatismus in meinem Sinn bedeutet einen Anarchismus, der F o r m e n wählt, aber aus Freiwilligkeit, aus ‚Selbst‘entscheidung, soweit freilich der Begriff „Entscheidung“ für einen noch eine Rolle spielen kann, der den Glauben an Freiheit nicht länger teilt.
So wurde denn auch in der kleinen Diskussion hernach von Thomas Böhm der Komplex der Schuldhaftigkeit thematisiert: „Diese Person macht das Schlimmste mit dem Mädchen, das man sich nur vorstellen kann, und scheint doch überhaupt kein Schuldgefühl zu entwickeln“, wendet er ein. Das ist in der Geschichte nicht richtig; der Erzähler g e s t e h t sogar seine Schuld; zugleich wird aber eben erzählt, daß dies für die D y n a m i k des Geschehens überhaupt keine Rolle spielt. Es entwickelt sich völlig jenseits menschlicher Kategorien, entwickelt sich – eben – schicksalshaft. Das ist der eigentliche Skandal der Vergana-Erzählung. Nicht für die Literatur-an-sich, der ist sowas seit Jahrhunderten bekannt, sondern für eine aufgeklärte, demokratische Moderne, bzw. Nach-Moderne. Ich habe im Gespräch darauf hingewiesen, daß dies nicht unähnlich dem Geschick ‚nachgeborener‘ Deutscher ist, die schuldlos sind, aber dennoch Schuld am Hitler-Faschismus t r a g e n müssen – ein Thema, das mich seit Jahrzehnten begleitet. In der Zeit meiner Psychoanalyse formulierten mein Analytiker und ich dazu den Begriff schuldlose Schuld. Daß so etwas einen Bogen zurückzieht zum antiken ‚fatum‘, liegt auf der Hand. Übrigens teile ich diese Auffassung mit Borges; nur hat der sie nicht so mit moralischen Reizthemen verbunden, wie ich das unentwegt tue.
UF: „Du mußt Dir nur die Gesichter der Hörer ansehen, während du liest: wie irritiert, wie erschreckt teils! Aber darüber muß man sich nicht wundern: Du läßt einerseits den Erzähler sagen, er selbst habe all das tatsächlich g e t a n, andererseits hat er es aber n i c h t. Schon das führt zu Verstörung. Wenn Du das dann noch mit diesen Reizthemen kombinierst – gegenüber Lesern, die es gewohnt sind, gut für gut und schlecht für schlecht zu lesen -, dann entziehst du ihnen jede Orientierung, und zwar selbst oder g e r a d e dann, wenn die Erzählung so geschlossen und in sich stimmig ist wie die Vergana.“
Was diese Reizthemen – es sind Tabus – insgesamt anbelangt, wird erstaunlich wenig bemerkt, wie sehr sie Mitschreibung von Realität sind, Beobachtung und Erfahrung. Selbstverständlich i s t in der Dritten Welt eine 13jährige, die auf den Strich geht, n i c h t ungewöhnlich; eher im Gegenteil. Unsere zivilisierte Wahrnehmung will aber diese uns moralisch nicht genehme Regel n i c h t wahrnehmen und stilisiert sie drum zur Ausnahme. Nur ist das eben ein Weg-Blick, der die hochtechnisierte westliche Welt zentralisiert und sich keinerlei Gedanken über Notwendigkeiten macht, die in der Dritten Welt aus rein existentiellen Gründen herrschen. Auch daß dort ein auf-den-Strich-Gehen nicht unbedingt mit unseren Maximen übereinsgeht. Und sowieso: daß es wichtiger ist zu überleben (und die gesamte Familie oder gar das Dorf mitzuversorgen), als zwar moralisch ‚sauber‘ zu bleiben, aber zu verhungern und die andren mitverhungern zu lassen.
Das Tragische an Verganas Geschichte ist aber nicht dies, sondern ist, daß sie l i e b t e. Obendrein spielt der antibürgerliche, n i c h t auf Autonomie und gleichberechtigte Mündigkeit gegründete Liebesbegriff eine Rolle: nicht Pragmastismus, sondern Obsession. Ungebremste Naturgewaltigkeit von Gefühlen. Die Zivilisationen haben das gebunden und moderiert; viele meiner Erzählungen setzen es wieder frei – und zwar gerade da, wo sie formal so perfekt sind, daß es mir den Vorwurf des Formalismus einerseits, andererseits – etwa durch Martin Halter – >>>> den eines galoppierenden Narzissmus eingetragen hat. Das ist dann gleich der nächste Widerspruch, den Leser ertragen können müssen – ich selbst, übrigens, muß es auch. Denn es ist ja nicht so, daß ich mir derartiges vornehme, sondern e s g e s c h i e h t in den Geschichten. Erst ihre Überarbeitung – ein formaler Akt des Handwerks – deckt mit der Form den Schein einer Verfügbarkeit und Autoren-Autonomie darüber. Allerdings sind es allein dieser Schein und diese Form, was den perversen Kunst-Akt des Kathartischen ermöglicht.

[Poetologie.]

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