Zur Vergana fürs Literaturhaus Köln. Aus dem Entwurf. Die Niedertracht der Musik. Vergana (16).

Erbeten ist ein Text zur
Poetologie der Erzählung, die >>>> am 17. 1. vorgetragen wird.

(…)
Mit solchen Grundkonstellationen experimentiere ich seit dem Wolpertinger-Roman von 1993. Zugrunde liegt die Beobachtung, daß, solange wir ihnen nicht real begegnet sind, historische Figuren – auch solche der Gegenwart – von unserer Psyche nicht anders erfaßt werden als Figuren der Literatur. Das verschärft sich, um so weiter diese realen Personen von uns entfernt sind – sei es räumlich, sei es zeitlich. Wir hören von ihnen vom Hörensagen, wir sehen sie meinethalben im Fernsehen, aber keiner von uns weiß, ob das, was er zu sehen bekommt, einer tatsächlichen Realität entspricht oder ob es nicht vielmehr Inszenierung ist. Im politischen Leben ist letzteres nahezu gang und gäbe. Wir werden mit Desinformationen gefüttert, auf die wir – wie Levi-Strauss schreibt – ‚brikolierend‘ reagieren. Das bedeutet, daß unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit eine um so mehr mythische ist, je stärker der mediale Entfremdungszusammenhang wird. Dem trägt meine Poetik unterdessen radikal Rechnung. Ebenso wie etwa Napoleon Bonaparte schließlich nicht mehr von irgend einer Figur der Literaturgeschichte zu unterscheiden ist, ist es für einen Leser, der, sagen wir, Peter Aßmann (den Leiter der Landesmuseums in Linz) nicht kennt, eben dieser. Mit anderen Worten: Sowie eine Realperson in einen Roman implantiert wird, wird sie zur literarischen Figur und unterliegt deren literarischen Gestaltungsgesetzen.
Es liegt auf der Hand, daß dieses ästhetische Konzept eine scharfe Gegenposition zu allen sogenannt realistischen Konzepten vertritt; letztlich wird gesagt: Es gibt kein Dokument, also auch keine dokumentarische Literatur. Weitergehend formuliere ich heute: auch ein dokumentarischer (= objektiver) Journalismus ist unmöglich. Alles ist gefilterte und gestaltete Interpretation. Dem verleihen die meisten meiner Arbeiten Ausdruck.
– Das ist das erste.
– Das zweite.
Je älter ich wurde, und je weiter sich meine Arbeit fortentwickelt hat, desto mehr rückte ich von meinen ‚ursprünglichen‘ Positionen ab, die auf Emanzipation und Freiheit ausgerichtet waren. Unterdessen halte ich die Idee, Menschen seien potentiell frei, für eine Täuschung; ich halte – und folge darin entschieden dem Gehirnwissenschaftler Wolf Singer – ihre Handlungen (zu denen auch Bewußtseinsprozesse wie etwa Meinungen zählen) für letzten Endes strikt determiniert. Damit fällt der Schuldbegriff für mich in den Bereich des Illusionären. Andererseits verhalten sich Menschen anders, wenn sie sich frei fühlen, als wenn sie das nicht tun. Illusionen wirken also – gleich, ob ihnen irgend eine Realität entspricht – realitätsbildend. Um sich diesen Gedanken klarzumachen, denken Sie bitte an Bachs h-moll-Messe. Ohne Gott – und zwar egal, ob es einen gibt oder nicht – hätte es diese Messe, einen Meilenstein für die weitere Musikgeschichte, nie gegeben. Gleiches gilt für Bauwerke und schließlich die Struktur unserer Städte, ja der gesamten jeweiligen Zivilisationen. Es gilt für sämtliche Lebensbereiche, von der Rechtsprechung bis zum Verkehrssystem. Ich spreche in diesem Zusammenhang von einer „Realitätskraft der Fiktionen“. Eine solche Realitätskraft schlägt in der Vergana-Erzählung durch. Es ist völlig egal, ob der Erzähler, in diesem Fall ich selbst als literarische Figur, dem Mädchen tatsächlich angetan hat, wovon er berichtet: Er muß schließlich die Schuld austragen – daß dies am Ende zu Ungunsten des Mädchens geschieht, hat einen wiederum anderen Grund, nämlich
– Das dritte.
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Vergana 15 <<<<

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