Katharsis & Amoral. Erste Heidelberger Vorlesung. (4). Aus der weiteren Fortsetzung des Entwurfs.

Kunst wird immer mit Leid geschrieben. Katharsis ist Erschütterungslust, der die Alten die Fähigkeit der Reinigung zuschrieben. Keine Kunstform trägt das so sehr weiter wie die Oper und der Film. Doch in ihren überraschendsten Momenten ereignet sie sich auch in der Dichtung – überraschend, weil sie ja tatsächlich keinen anderen Sinnesapparat affiziert als den des begrifflichen Denkens, der gar kein sinnlicher i s t. Die Sinnlichkeit der Dichtung ist die vermittelste aller Künste.
Erschütterungslust ist pervers. De facto erschüttern wir uns – eine intensive Form des Vergnügens – am Unheil, – an heftigstem Unheil, wenn man sich einmal die antiken Dramen anschaut. Das ist nahezu immer so blutig wie ein Action-Thriller und wie bei diesem war es und ist es immer noch d a s, was untergründig dahinzieht. Wir erbauen uns am Elend anderer aber nicht etwa – oder nicht etwa nur -, weil wir selber geschützt sind oder das zu sein meinen, sondern weil wir ahnen, es letzten Endes eben n i c h t zu sein. Aus dieser Spannung, die sehr wohl etwas von Herbeirufen, Beschwören und Bann sowie davon hat, den Verbotenen Gott anzuschauen, eine letzten Endes heidnische Lockung, bezieht sich die ungemeine Kraft und vor allem amoralische Ausstrahlung, die solche Kunstwerke, solche Dichtung auszeichnet. Und die wieder und wieder, in den verschiedensten Epochen bei den verschiedensartigsten Werken, und bis heute, zu Skandalen geführt hat.
Skandale haben nahezu immer moralische Ursachen – sie geschehen, wenn das Es das Wort gegen das Ich erhoben hat, das deshalb nach dem Über-Ich ruft und ebenso nahezu immer praktisches Recht erhält, ohne doch tatsächlich das Es je in den Griff zu bekommen. Verbotene Kunstwerke scheinen sogar mit einer besonderen Hartnäckigkeit am Leben zu bleiben; vielleicht haben sie sich ein paar Jahrzehnte lang verstecken müssen, aber dann fangen sie wieder und manchmal ganz besonders zu leuchten an. Das hat genau diesen Grund. Alle Kunstwerke, die es s i n d, sprechen aus dem Es; das meint: alle Kunstwerke, die sich nicht vermittels ihrer Intention erklären lassen oder die einen Anteil haben, der sich nicht daraus erklären läßt. Etwas zu erklären bedeutet nämlich immer, es zu identifizieren und dadurch zu desinfizieren.

Es liegt auf der Hand, daß gerade dieser Kunstaspekt – einer ihrer Ontologie – den auf kalkulierbare Vermarktbarkeit ausgerichteten Mechanismen grob zuwiderläuft; überdies verletzt die inhärente Amoral das namentlich demokratische Verlangen nach Anständigkeit.

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