Arbeitsjournal. Freitag, der 14. Dezember 2007. Mannheim/Heidelberg – Hausach.

6.23 Uhr:
[Bei Kühlmanns, Mannheim.]
Bis sechs zu schlafen, hab ich mir heute früh noch einmal gegönnt. Wir saßen gestern abend noch ein wenig zusammen, Kühlmanns und ich, nachdem Kühlmann und ich schon in Heidelberg im Anschluß an meine Zweite Vorlesung wieder >>>> im Knösel zusammengesessen hatten, mit wenigen Studenten, dem klug-aufmerksamen Doktoranden AikEickmeyer (er möge mir verzeihen, wenn ich seinen Namen falsch schreibe Jetzt, 9.59 Uhr, stimmt’s); auch >>>> sirenemole war dabei, beobachtend, auf eine eher stille Weise immer bedenklich/bedenkend wirkend und scheu, man hat den Eindruck eines tiefen Wissens, dessen Melancholie sich nicht vordrängen, ja eigentlich stillhalten mag, um sich sein Wachstum nicht stören zu lassen; etwas Pflanzliches gefährdeter Arten ist daran, die sich nicht verstecken, aber zugleich nicht zertrampeln lassen wollen. Sie brauchen, und wissen’s, Licht; ihrem Gedeihen tut zuviel Schatten nicht gut, aber sie wollen auch nicht Schaden erleiden und haben deshalb die Fähigkeit erworben, sich gerade im hellen Licht zu mattieren. Schwer zu beschreiben, aber in diese Richtung geht’s.

Es waren bei weitem nicht mehr so viele Hörer in der Vorlesung wie beim ersten Mal, anders als >>>> die mißgünstige Teresa Grenzmann in der FAZ über Kraussers Poetik-Professur geschrieben hat, kann man weißGöttin nicht davon schreiben, der Saal sei überfüllt gewesen; aber d i e dawaren, waren hochkonzentriert. >>>> Jochen Hörisch war gekommen, es gibt manchen Grund für Stolz. „Das gefällt mir nicht“, sagte er nachher, bevor er aus privaten Gründen heimfuhr, „ich habe nämlich immer gesagt, Autoren könnten zwar gut dichten, aber zu denken sei ihre Sache n i c h t. Deshalb gibt’s ja Gemanistikprofessoren. Das haben Sie mir nun durchgestrichen.“ Lachend, sympathisch. Mir selber fiel wegen der Vorlesung auf, daß mein Vortrag d o c h noch gespalten war; man merkt ihm, jedenfalls merkte ich ihm an, daß ich den alten Phantastik-Aufsatz hergenommen und umgeschrieben hatte, sprich: eine letztliche (formale) Einheit ist mir denn doch nicht gelungen. Aber vielleicht macht das auch nichts, vielleicht ist auch gerade das ein Moment von Lebendigkeit, daß da durchaus noch nicht alles zuendegedacht ist. Hörisch: „Mich erstaunt, daß Sie Verdinglichung wieder aufnehmen, wo doch alles heute eher von Verflüssigung spricht.“ Ich hatte diesen Widerspruch, oder als Widerspruch erscheinenden Umstand, gar nicht bemerkt, das merkte ich j e t z t. Und das nun (für mich) Wichtige daran ist, daß Hörischs Einwand sofort eine Lawine weiterer Überlegungen ausgelöst hat, mit >>>> deren einem Schneeflänkchen ich heute morgen aufgewacht bin; ich habe tatsächlich sofort den Satz im Kopf gehabt, der dem hier verlinkten Paralipomenon den Titel gibt.
Daß nämlich die Verflüssigung – womit sowohl Morphings als auch Gender sich dem Kapital angepaßt haben – gerade die F o l g e vorhergegangener Verdinglichungsprozesse und nicht etwa ihre Rücknahme sind: Das werde ich nunmehr zu einer These meiner Dritten Vorlesung machen, ganglisch durchwalken und ausführen. Es kommt meiner Vorstellung einer nach-postmodernen Ästhetik enorm entgegen, ja läuft ihr geradezu in die Arme, unwillentlich, nämlich schliddert’s aus der Zukunft in unsere Gegenwart zurück – glitschig genug, um eben noch gar nicht gepackt werden zu können.
Dazu paßt dann auch wieder die >>>> WOLPERTINGER-Konzeption, die auf >>>> ANDERSWELT übergegangen und dort sozusagen modernisiert worden ist: die Verbindung herkömmlich auktorialen Erzählens mit subjektivem, subjetivierendem, subjektiviertem Erzählen der Ich-Formen, aber ineinandergespiegelt und sich gegenseitig haltend. Ich warf im Knösel eine Skizze in mein Notizbücherl, um es Aikmeyer vorzuführen – wobei mir bewußt wurde, es werde in der Dritten Vorlesung nötig sein, beispielhaft zu werden, das heißt, den Zuhörern aus der eigenen Arbeit zu konkretisieren, was ich unter dem Kybernetischen Realismus verstehe. AikEickmeyer hatte (auf meine Bemerkung, Kybernetik sei Steuerungslehre) völlig zu recht die Frage gestellt: „Aber wer steuert?“ Von der Antwort hängt ästhetisch einiges ab. (Ich l i e b e es zu denken; spekulative Theorie ist für mich, spürte ich gestern wieder enorm, ein erotischer Akt.)

Ich sitze heute früh an Kühlmanns Schachtisch in einem seiner von Büchern zugestopften Arbeitszimmer, weil hier geraucht werden kann und wird, trinke meinen Kaffee und schau mir die professoralen Stapel von Manuskripten und Büchern und Bildbänden an, die über den Boden verteilt sind, nach Projekten, wie er schon bei meinem letzten Besuch erzählt hat; alles strahlt Geist aus, strahlt eine Bildung aus, die, weil natürlich auch eingestaubt wird, der politischen Glätte der Zeit völlig inkonform ist; das läßt sich nicht beschleunigen, das wehrt sich, trotzig die Füße im Boden, von dem es noch Grund hat, von „Boden“ zu reden.
Um elf wird das >>>> virtuelle Seminar wieder in eine reale Werkstatt zurückgeführt, eine Ölplattform im Meer, von der ich dann wieder aufsteigen werde, um einen Monat lang abermals im Virtuellen weiterzumachen. Gegen eins werden wir essen gehen, um halb vier nachmittags fährt mein Zug in den Schwarzwald weiter; dann wird der zweite Block meiner Heidelberger Poetik-Dozentur bereits vorüber sein. Huschhusch geht das; ohne das Netz wäre es unbefriedigend, wäre, sagen wir, „nett“; das Netz aber gibt den Blöcken Kontinuität, was ja schon für sich genommen ein interessantes Faktum ist.
Und viele Bücher wurden, gemessen an so wenig Hörern, an diese wenigen Hörer verkauft; 25 bis 30 waren’s; vor dem Saal war der Büchertisch aufgebaut. Übrigens scheine nur ich das mit den wenigen a l s wenige zu empfinden, bei Begley seien es auch nicht mehr gewesen. No jo, wie >>>> Buschheuer sagt.

Und mein >>>> moobicent-Netzzugang funktioniert weiterhin anstandslos; es ist die helle Freude.

9.05 Uhr:
[Noch in Mannheim, aber wir starten gleich.]
Nun erzähle mir noch mal einer, daß nicht mehr gedacht werden will! Daß meine >>>> Zweite Heidelberger Vorlesung in >>>> den Charts auftaucht, und das so kurz nach ihrer Veröffentlichung, das halte ich für phänomenal, und zwar nicht, weil überhaupt, sondern weil es ein Text spekulativer LiteraturÄsthetik ist. D a s ist der eigentliche Erfolg. Und er zeigt, welch eine Bedeutung Literatur und spekulative Philosophie gerade über das Netz wiedergewinnen können. Aber ich werd grad gerufen: „Ich bin fertig!“ läßt’s Kühlmann von zwei Stockwerken unter mir schallen. Ich meld mich dann aus „meinem“ Heidelberger Uni-Zimmer wieder.

15.41 Uhr:
[ICE Mannheim-Offenburg.]
So, das war nun also der zweite Block meiner Dozentur; es ist enorm, wie schnell das immer vorübergeht – aber auch, was an Neuem alles geschieht. Kurz und bündig ist nun die Buchproduktion meiner Heidelberger Vorlesungen unter Dach und Fach; nachdem >>>> tisch7 den bereits aufs Frühjahr 2008 verschobenen Essayband abermals verschieben mußte, nunmehr auf den Herbst, werden meine drei Heidelberger Vorlesungen nunmehr gesondert in einem Heidelberger Verlag als Buch erscheinen; das ist wichtig, da mit der Universität Weiterungen im Gespräch sind, für die es wichtig ist, daß ich literarwissenschaftliche Publikationen vorzuweisen habe. Und auch das Schreibseminar lief recht gut; es bildet sich so ein Kreis von, sagen wir, „Eingeweihten“, aus dem heraus ein lebhaftes Interesse an einer Fortsetzung meiner Arbeit auch und gerade über meine diesjährige Dozentur besteht. Gut.
Der ICE ist irre voll; ich schreibe im Stehen im Bord-Bistro. In einer dreiviertel Stunde werde ich in Offenburg ankommen, dann in die Ortenau-Bahn nach Hausach umsteigen und kurz nach 17 Uhr dort ankommen; ein kleiner Spaziergang noch, dann werd ich bei meiner Mutter sein.
Es ist einiges mehr zu erzählen, aber das tu ich dann wohl von dort aus zur Nacht. Weil ich aber weiß, daß Sie das brennend interessiert, erzähl ich eben nur noch, daß ich grad ein Sandwich mit Hähnchenbrust & Mayo-Creme futtre.

8 thoughts on “Arbeitsjournal. Freitag, der 14. Dezember 2007. Mannheim/Heidelberg – Hausach.

  1. Habs heut Morgen leider nicht geschafft, der Vorschlag von Jost gestern Abend noch nen Kaffee zu trinken hat mich noch mehr aufgekratzt, da hat auch der Tee nach Mitternacht nicht mehr geholfen. Also bin ich gleich wach geblieben, Widerstand war zwecklos und hab noch ein bischen an meinen Texten gebastelt, was das angeht ist so ein Zustand durchaus fruchtbar. Fire walk with me! Gefühlte Wahrnehmung bis jetzt: immernoch Zomba, gerademal zwei Stunden geschlafen. Im Netz gehangen und dauer geraucht. Zwischendurch noch nen neuen Browser runtergeladen weil das registrieren mit Explorer nicht geklappt hat. Wollte meinem Versprechen nicht schuldig bleiben. Virtuelles Seminar, prima Sache als immer bereitstehender Zug für die Verspäteten.

    1. so, nun mag der eindruck entstehen, daß dieser “Jost” ANHs “reales” schreibseminar durch vorabendlichen konsum um teilnehmer zu bringen sucht!
      zur entgegngung sei auf die individuell unterschiedlichen auswirkungen von Coffein auf den organismus verwiesen, die z.b. “Jost” in die lage setzten, am anregenden nachtrab zu ANHs seminar teilzunehmen, freilich ohne read an, i.e.: ohne tabak!

  2. zum kybernetischen des realismus besagte skizze vom kaffeehaustisch vor augen, diese überlegung: ein solches stabiles selbststeuerndes system, wie Sie es für den wolpertinger verwendet haben, löst trotz (oder eben wegen) seiner eigenschaft, ein solches zu sein, beim leser eine profunde instabilität aus. so zumindest mein leseeindruck, was etwa die verschachtelung der zeitebenen angeht. – das stabile system erzeugt also instabilität als reaktion, so daß vielleicht das unheimliche (also: un-heimelige: das kontinuum erscheint ausdrücklich als ein fremdes) doch dichter mit Ihrer kybernetik zusammenhängt, als Sie mir weiland zugeben wollten?

    [d’accord: theorie i s t erotisch, und d e n k e n m a c h t s c h ö n]

    1. @Aikmaeier. Wenn ich recht schließe und Sie derzeit >>>> WOLPERTINGER lesen und sich d a b e i der Eindruck des Unheimlichen herstellte, dann wäre das intendiert: Personage wie Umstände, bevor sie sich zu erkennen geben, sollten das bereits erreichen. Nicht so, indes, später in >>>> ANDERSWELT. Dort ist zwar de facto Instabilität des Lesers ebenfalls beabsichtigt, aber eine, zu der er sich zu verhalten lernen muß und kann, wie es ein Snowboarder tut, der über höchst rutschiges Gelände gerade deshalb saust, weil es rutschig i s t. Aus seiner Geschwindigkeit und Wendigkeit schlägt er jauchzende Lust, die allerdings, wie eine jede, virtuoser Disziplin bedarf. In diesem Sinn möchte ich den Umgang mit den technischen Rutschigkeiten der Moderne selber lernen und andere, die mitgelernt haben, verführen, sie zu genießen. Dabei ist, wie in der Phantastik selber, aus der ich einen Teil des Kybernetischen Realismus abziehe, das unheimlich-Phantastische ganz sicher eine Quelle. Nur ist das Unheimliche daran das erst einmal Unvertraute.

      [Poetik/Poetologie.]

      [Die Instabilität spiegelt privat hier, NB, der Weg von Aik; zu Eik und zurück. Willkommen in Der Dschungel!]

    2. Oje! Da hat sich ja was losgetreten, das war gar nicht meine Absicht es unter diese Rubrik zu stellen, das habe ich erst im Nachhinein registriert. Dschungelwelt eben! Lieber Herr Aikmaier es war auch nicht meine Absicht dem netten Herrn der mir den Kaffee spendiert hatte so etwas zu unterstellen.

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