Arbeitsjournal. Dienstag, der 8. April 2008.

5.18 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Ich erwische mich gerade dabei, daß ich seit fünf Minuten ausdruckslos (was der Gesichts-Ausdruck für „leer“ ist) auf den Bildschirm starre, wobei ich rauche. Der latte macchiato steht da und schmeckt, das immerhin, aber die Situation hat etwas Meditatives, das für mich seltsam ist, der ich morgens eigentlich immer gern sofort die Ärmel hochkremple, um loszulegen. So war mir eben wieder nach Musik, ich wußte aber nicht, nach welcher. Auf die Frage meiner Cellolehrerin gestern (ich hatte ihr die Britten-Suiten ans Herz gelegt, die ich ihr auch gleich auf CD kopierte und in den Cellounterricht meines Jungen nachbrachte): „Hören Sie auch Bach?“, fiel mir eben an der PAVONI die Antwort ein: „Ich möchte gerne Neue Musik spielen können“, womit ich Dallapiccola, Zimmermann, auch Stockhausen meinte, auch Riehm, auch Kodály, aber das ist ja schon keine Neue Musik mehr; ich intergrierte gerne Hardrock-Elemente, vielleicht auch Metal-Elemente in 12-Ton- oder orientalische Oberton-Kompositionen; aber das ist alles ja reine Illusion, daß ich noch einmal so weit komme mit „meinem“ Instrument, in Hausach wartet überdies noch das große Akkordeon auf mich, das ich ebenfalls gern spielte – wie auch immer, mir fiel jetzt, in der Küche vor dem großen fetten Frühstücksbrett an der PAVONI die Antwort ein: „Ich achte Bach. Aber ich liebe Händel.“ Der Zusammenhang zur Neuen Musik ist mir dabei überhaupt nicht klar. Als ich das merkte und der latte macchiato fertigwar, ging es mit der Starrerei auf den Bildschirm los.
Ich hab jetzt angefangen, darüber nachzudenken – nachdem ich >>>>> femme100têtes letzten Eintrag von gestern nacht las -, ob es überhaupt Kompositionen von Frauen gibt, die mich auch nur annähernd so intensiv benommen haben wie die von Monteverdi, Purcell, Bach, Händel, des späten Beethovens, Brahms’, Wagners, des späten Verdis, Schrekers, Schoecks, Britten usw. bis zu Dallapiccola eben, >>>> Pettersson , >>>> Scelsi, Stockhausen usw. Es gibt sie, ja, aber sie kommen ausschließlich aus der Moderne: Carla Bley etwa, Kaja Saarijaho, auch Olga Neuwirth… – aber ich muß schon überlegen. Die Frage stellt sich wohl auch, weil ich unbewußt bereits nach Musiken für das Marianne-Fritz-Stück gesucht habe und noch immer, allmählich bewußt, suche und auch suchen muß.

[Bach, Musikalisches Opfer.]

An meinem Zustand hat aber sicher auch Heinz-Peter Preußers horen-Beitrag über die ANDERSWELT-Romane Anteil, den mir Ralf Schnell gestern wegen des im Herbst erscheinenden Themenbandes zugeschickt hat; meine Achilles-Konzeption kommt dabei nicht sehr gut weg wie insgesamt nicht meine Kunsthaltung; er nennt sie „romantisierend“ und konstatiert zugleich meine Faszination durch die Neuen Technischen Medien, aber auch meine Neigung, die Brutalitäten des Mythos, wie er sagt: zu feiern. Der Schlüsselbezug ist, das sieht er auch, Kleists Penthesilea, von der er sich aber mit fast der gleichen leicht geekelten Abscheu wegwendet, wie Goethe tat; er zitiert überdies Thomas Mann, der die Penthesilea ebenfalls „abscheulich“ fand. Dieses selbe Abscheuliche macht er in >>>> THETIS aus, wobei seine Kritik dem Unkritischen der Erzählung gilt, dieser Annahme des Mythischen, gegen das er Christa Wolfs feministische Achilles-Dekonstruktion stellt. Daß mich bei und zu alledem etwas Allegorisches treibt, kommt hingegen nicht zur Sprache: meine Vorstellung, daß es durch die Jahrhunderte hinweg Strukturen gibt, die sich wieder und wieder neu realisieren, verändert, ja, aber in ihrem Bewegungskern, der eine Richtung ist, nahezu identisch; dieses von etwas getrieben sein, das mit einem selbst nur sehr bedingt etwas zu tun hat, weil man ihm zur Hülle wird, und daß es dagegen selbst bei hellem Bewußtsein kaum eine Gegenwehr gibt – ich glaube, diese Idee ist ihm unheimlich. Dabei ist der Vorgang unheimlich, nicht die Idee, die doch nur aufnimmt. Ich habe zu THETIS-Zeiten ja imgrunde nur die Barbareien des Balkan-Krieges abschreiben müssen und das auch getan. Aber ganz absichtlich nicht unter distanzierenden Blickwinkeln, sondern, um den Geschehen möglichst nahe zu kommen, durch annehmende Introjektion.
Das beschäftigt mich also.

Mit dem Profi dann nachts im >>>> Prater zwei Bier getrunken und auch übers Private gesprochen, das mir aufs Herz gefallen ist. Mir war richtiggehend beklommen; das hatte etwas von einem Schock. Ich seh einfach dauernd das traurige Gesicht meines Jungen, das „gestoßene“ Gesicht, weil er jetzt auch an seinem Vater eine Abkehr zu spüren glaubt, die zwar nicht da ist; aber es wird ihm eine Versagung zuteil, die einfach ein Ergebnis der jetzigen familiären Situation ist. Objektiv ist es aber ein Trennungserlebnis, und das setzt mir selbst ebenso zu wie ihm. Ich muß ihm das irgendwie klar machen, vor allem aber: Abhilfe schaffen. Doch merke ich zugleich, wie er nach und nach von mir Fremdem mit übernommen wird: selbstverständlich hat der Pop vor ihm so wenig haltgemacht wie die Computerspielerei. Und weil er mit seinem geliebten Schlagzeugunterricht, dem Judo-Training und dem Cello sowieso schon extrem durchterminiert ist, nimmt er in seiner ihm bleibenden Freizeit eben auch kein Buch zur Hand, sondern zieht es, anstelle zu lesen, vor, Hörspielcassetten zu hören, aber sieht eben uns Eltern auch kaum selber lesen; „der Papa arbeitet immer nur“, sagt er etwa. Mich beschäftigt das enorm immer mit.
Und es war zum zweiten Mal ein Fehler, ihn >>>> zu dem Offenen Tag des Konzerthauses einen Freund mitnehmen zu lassen; nach der ersten Stunde wurde es eine kleine Katastrophe. Der Freund nölte, wie langweilig das hier sei, also nölte mein Junge auch; ich wurde einen Moment lang richtig ärgerlich, vor allem als der Freund zur abschließenden Tombola die Email-Adresse nicht angeben wollte, weil „die einen dann mit Werbung zuscheißen“. Ich: „Das ist ein Kulturhaus, hier wird nicht vollgeschissen.“ Mein Junge: „Was i s t denn Kultur?“ „Kultur ist das, was uns Menschen vom Tier unterscheidet.“ Ich erkläre: Bilder zu malen, Geschichten zu erfinden und zu erzählen, zu musizieren… Häuser zu bauen… „S c h ö n h e i t, Adrian.“ Kein Tier kenne sie. Daraufhin Protest, geradezu scharf auf Seiten des Tieres: „Tiere verstehen uns nur nicht, wir verstehen Tiere ja auch nicht.“ Ich zu seinem Freund: „Du lernst doch auch Klavier…“ Er zieht ein angeödetes Gesicht. „Etwas selber zu machen“, erkläre ich, „selber Geschichten zu erfinden, selber zu musizieren… nicht nur, das nachzumachen, was einem vorgesetzt wird… nicht nur zu tun, was alle machen, weil es in ist.“ Auf dem Nachhauseweg dann das drückende Gefühl von Alleinesein. Wie eine Trennung, deren Schwere sich als Banalität tarnt.

15.29 Uhr:
Meine Besetzung für das Marianne-Fritz-Stück steht quasi schon, dank Antje von der Ahe, die bei der Auswahl der Frauen, nachdem sie gleich mein Stück gelesen hat und „unbedingt“ >>>> wieder mitmachen möchte, sofort auf zwei weitere Sprecherinnen kam, die passen könnten, die auch gleich angerufen und danach wieder gleich mich angerufen hat, der ich dann wieder bei diesen beiden Damen angerufen und mir die Zusage geholt habe. Wunderbar ist, daß eine von beiden ungarisch-stämmig ist und den Tonfall hat, den ich mir bei Fritzens ja doch während der K.u.K.-Monarchie spielenden Roman immer wieder vorgestellt hatte. Und auch Otto Mellies hat quasi sofort zugesagt. Das ist ein sehr gutes Gefühl, Sprecher zu „haben“, die meine Arbeit schon kennen, vor allem aber auch verstehen und eben „unbedingt“ mitmachen wollen. Meine Depression, die sich seit gestern anhielt, ist weg. Der zweite Mann, den ich als Sprecher brauche, hat sich noch nicht zurückgemeldet, aber notfalls könnte ich eine Passage auch selbst übernehmen, wenngleich ich einen Profisprecher vorziehen würde (und werde). Jetzt ist die Besetzung noch gegenüber der Dispi des WDRs durchzusetzen. Die Typoskripte schicke ich heute noch per Mail davon.

Die Besetzung sieht jetzt so aus:

>>>> Antje von der Ahe
>>>> Peggy Lukac
>>>> Heidrun Bartholomäus http://www.heidrunbartholomaeus.de
>>>> Otto Mellies
Klaus Hoffmann (angefragt)

Gleich kommt wieder mein Junge zum Lernen und Celloüben in die Arbeitswohnung. Und >>>> Dielmann hat sich gemeldet! Das Buch sei fast fertig, er habe heute den Umschlag in der Hand gehabt, der herrlich geworden sei. Bitte noch eine Woche… – Er habe gerade die neue VOLLTEXT mit meiner Kritik in den Händen gehabt.

16.51 Uhr:
Und um mir gleich wieder eins draufzuhauen, kommtso eben die Ablehnung durch den >>>> Deutschen Literaturfonds herein – keine Überraschung, ich hatte damit ja eh gerechnet, wie Sie >>>> hier lesen können, mitsamt den protestierenden Kommentaren Gunther Nickels. Es bleibt dabei, daß meine Arbeit für den deutschsprachigen Literaturbetrieb etwas ist, das er ignorieren will. Mir wiederum bleibt hier in Der Dschungel, die Prozesse für spätere Literaturwissenschaftler zu dokumentieren, und zwar, wenn möglich, mit den Klarnamen alles Beteiligten. Hübsch ist, wie immer, diese Formulierung: „Die Gründe für die Entscheidung des Kuratoriums können den Antragstellern aus grundsätzlichen wie praktischen Erwägungen nicht mitgeteilt werden.“ Wofür man um Verständnis bitte.
Ich hatte neben >>>> Ezra Pound im Käfig und anderen Gedichten auch >>>> Das böse Kind als alter Mann eingereicht.

So bleibt es dann also auch über das nächste Jahr bei der finanziellen Misere.

2 thoughts on “Arbeitsjournal. Dienstag, der 8. April 2008.

  1. @ ANH Kleist//Goethe Wissenschaft schafft zwar Wissen. Doch dieses muß nicht in allen Köpfen gleich verteilt sein, Goethe konnte Kleist nicht akzeptieren, was diesem aber nichts an poetischer Kraft nimmt. Vielleicht sogar: im Gegenteil.

    Für Sammelbände gilt doch immer:


    „– – – – In Euerm Kopf liegt Wissen
    Und Irrthum wunderlich gemengt beisammen.
    Mit jedem Schnitte gebt Ihr uns von Beiden.“

    Und mancher Rezensent judiziert sich selbst den Hals ins Eisen…

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