Arbeitsjournal. Freitag, der 20. Juni 2008.

5.24 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Massenhysterie auf den Straßen gestern nacht. Mal wieder. „Deutschland!“-Rufe, Fahnenschwenken. Es sind dabei durchaus nicht – um den neuen üblen Sprachgebrauch einmal aufzunehmen – „Assis“ (damit sind Asoziale gemeint)*, sondern oft junge Leute, deren gesicherte Herkunft und Sozialstellung sichtbar ist und die dennoch mit den Bierflaschen umherlaufen, die sie teils dann auch an Häuserwänden und auf den Bürger- und Radwegen zertrümmern; lange Schlangen bei Kaiser’s um schwere Alkoholika; ein neuer „spielerischer“ Nationalismus ist gesellschafts-, ja szenefähig geworden, den ich für gefährlich nicht deswegen halte, weil mit neuem Faschismus zu rechnen wäre – der hat ausgedient, weil der ökonomische Zweck erreicht worden ist; sondern weil die alten massenpsychologischen Dynamiken weiterwirken, die bekannten Mechanismen der Gleichschaltung nunmehr im auch zugegebenen Interesse der Ökonomie. Zum Grund kann x-beliebiges werden, und genau da steckt der Angelhaken in der Haut. Das ist durchaus nicht deutschlandtypisch, das ist eher menschentypisch; ganze Sozialitäten lassen sich, wenn man das unauffällig steuert, in ihren Wertvorstellungen verschieben und so schwer auf den persönlichen Individualismus laden, daß der ganz darunter erdrückt wird. Nicht anders ja bei der öffentlichen Wahrnehmung von Rauchern unterdessen; der geringste unter den Laffen dürfte heute über Geister wie Sartre und Bloch die Nase rümpfen, weil die Herren rauchten, und hat die Mehrheit hinter sich. Auch wenn ich heute früh kurz an den Stauffenberg-Kreis denke: es geht hier nicht um Deutschland und deutsche Geschichte und eine Warnung vor i h r, sondern um eine Warnung vor dem „Gedanken“ der Nation als einem Binde- und Schmiermittel der Menschenführung – vor allem in einer Zeit, in der E u r o p a wichtig wäre, nicht ob man in der Region Deutschland, Italien, Frankreich lebt. Der „Gedanke Deutschland“ war eh immer falsch, indem er sich an politischen Grenzen orientierte und nicht an den Wurzeln, die kultureller „Natur“ sind. Man hätte dieses Land – als Beispiel für andere „Nationen“ – nach 1945 auflösen und an die Anrainerstaaten umverteilen sollen; dann hätte Königsberg Königsberg bleiben können, und auch deutsch, so wie heute etwas rheinisch ist oder fränkisch, was man in rheinischen und fränkischen Städten ja auch merkt. Utopie, die schon nie war.

Nun meldet sich auch >>>> Jesus: Ich werde an der dortigen Stelle auf ihn engehen, der zumindest eine lavantische N a se trägt. Wobei mich der >>>> „Fall stabigabi“ sehr viel mehr beschäftigt, und zwar prinzipiell. Dazu will ich gleich im Rahmen der Kleinen Theorie des Literarischen Bloggens etwas ausführen [>>>> G e t a n (8.46 Uhr).]; ich wollte das schon gestern abend tun, nachdem wir vom Schulhoffest meines Jungen zurückgekommen waren, war dann aber zum einen zu müde, zum anderen hatte der Zwillingsbub unversehens 40,6 Fieber; das erforderte eine andere Aufmerksamkeit. Und es war dem Älteren vorzulesen, dann ein vorzügliches Mahl einzunehmen, und schließlich fand ich mich sinnierend vor meinem Wein und hin und wieder auf dem Balkon, um zu rauchen und auf die anderthalb Stunden lang wie ausgestorbene Schönhauser Allee zu schauen. Die Geliebte, die an sich hatte ins Kino gehen wollen, blieb daheim, da sie sich vor dem Mob und neuerlichen pronational ausländerfeindlichen Anwürfen fürchtete: Beide nahen Kinozentren übertrugen das Fußballspiel auf einer Großleinwand; die orientalisch aussehende Frau wäre mitten in die Selbstproletarisierung der Mengen hineingeraten.

[*Wenn ein neues Idiom entsteht, ist das i m m e r
das Zeichen eines vorgängigen, bzw. darunterliegenden gesellschaftlichen
Prozesses; eine Spiegelung in die Sprache.]


15.43 Uhr:
>>>> Zu Europa. Ich mußte kommentieren, womit ich mich anderswo sonst zurückhalte. So aber gehört auch ein Link >>>> darauf. Ich behielte das gerne im Blickfeld, gerade, weil mein Herz nichtnational europäisch gesonnen ist; den Verstand dabei heraussenzulassen, bedeutete, dem Völkischen auf den Leim zu kriechen, das etwas ganz anderes als „Völker“ meint. Letztlich ist jedoch der Nation-Begriff eine unstatthafte Verdinglichung von Volk, gut angepaßt an kapitalistische Interessen und insgesamt eine großpolitische Spielart der Äquivalenzform. Wie das Problem anders als nur-administrativ zu lösen ist, weiß ich allerdings nicht. Das gilt auch für ein Vereintes Europa im Sinn eines >>>> „Alten Europa“s. Eigentlich eröffnete ich gerne eine neue Rubrik, die ALTES EUROPA dann auch hieße. Ich habe nur noch keinen Anlaß, >>> etwa dort wird die Entwicklung ja schon eingehend sachlich und recherchierend behandelt. Mir schwebte hingegen ein literarisches Europa für die Rubrik vor, eines der poetischen Wirkungen ineinander: Politisierung vermittels und in der Ästhetik. Anderes wäre Der Dschungel denn auch unangemessen.

Bald wird sich UF melden, der für ein paar Tage in Berlin weilt und übers Wochenende in der Arbeitswohnung übernachten wird. Gemeinsam werden wir heute abend >>>> diese Vorstellung besuchen; mit dem Profi. Es soll ja auch um die eventuelle Uraufführung >>>> meiner UNDINE in 2009 gehen.

Gearbeitet hab ich, außer für Die Dschungel, fast nichts. Und mich ein bißchen über Kleinlichkeiten geärgert. Nein, das verlinke ich jetzt n i c h t.

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