Arbeitsjournal. Dienstag, der 22. Juli 2008.

5.40 Uhr:
[Arbeitswohnung. Händel, Tolomeo (ff).]
Eine Zeit lang, in den frühen Achtzigern, als ich noch keinen Computer und keinen DAT-Recorder hatte, nahm ich Musiken vom Rundfunk auf Videobändern auf; das hatte den Vorteil, daß sich der Recorder programmieren und eine Aufnahme also auch dann tätigen ließ, wenn ich nicht zugegen war; außerdem hatte ich damals ein Radio der DSR-Technologie, das bereits in digitaler Qualität übertrug. Abgesehen davon, daß DSR-Signale ab etwa der zweiten Hälfte der Neunziger nicht mehr ins Netz gegeben wurden, so daß mein absolut teures Endgerät zu Luxusschrott wurde, stellte sich jetzt heraus, da ich von den Videobändern auf Datei übertrage, daß an den Bändern deutlich die Jahre genagt haben; immer wieder gibt es Aussetzer, Verrauschungen usw. Ich habe über 150 dieser Bänder (die Musiken sind alle archiviert), die meisten speichern drei bis vier Stunden Musik; es sind enorm viele Uraufführungen dabei; ich will mir gar nicht klarmachen, wie viel davon nun verloren oder doch zumindest mit nur noch eingeschränktem Genuß anzuhören ist. Als „Dokumente“ mögen sie freilich noch durchgehen, und einiges ist sicherlich über manuelle Eingriffe vermittels meiner Musik-„Reinigungs“programme zu retten, aber woher soll ich die Zeit dafür nehmen. Ich kann jetzt eigentlich nur sichten und erst einmal überspielen, was sich noch überspielen läßt, um die Dateien für spätere Bearbeitung auf Festplatte zu archivieren. Interessanterweise haben die Tonbandcassetten überhaupt nicht gelitten, sondern die teils dreißig Jahre ihrer Existenz bis heute unbeschadet überstanden. Das mag auch daran liegen, daß ich bei der Cassetten-Technologie immer nur mit High-End-Geräten gearbeitet habe. Bei den Videorecordern war das anders, vor allem auch bei dem verwendeten Bandmaterial.

Noch mal zu meinem gestrigen Telefonat mit der WDR-Redakteurin. Aus den Abendstrecken ist das Featue jetzt quasi verbannt, und tags gelten harte Vorschriften zum Jugendschutz, die teils etwas Absurdes haben. Wortbeiträge an den Abenden dürfen nie „lang“ sein, sondern werden häppchenweise in Pop-Brot gewickelt verabreicht; für das literarische Feature, das es einmal wöchentlich nachts noch gibt und für das nur halbes Autorenhonorar gezahlt wird, dürfen nur noch junge Autoren besprochen werden, und auch da aufs einfachste: Interview, Lesung, Musik, die ihrerseits nur Pop sein soll. Das ist jetzt Hausvorschrift. Wer meint, ich hätte über die Jahre immer nur das Gras wachsen hören, dürfte allmählich merken, daß es sich nicht um Gras, sondern um Bulldozer gehandelt hat und handelt, die flächendeckend zum Niederholzen eingesetzt werden. Allerdings merkt man es eben n i c h t, sondern ist es seitens der Hörerschaft eher zufrieden, seitens ihrer Mehrheit, heißt das. Meine und die Überlegungen der Redakteurin gehen nun dahin, wie sich in ein solches Setting kleine Bomben des Widerstandes einbauen lassen. Ich habe eine Woche Zeit, Vorschläge zu unterbreiten. Alles riecht nach Kompromiß; sich aber völlig zu verweigern, hieße, das Feld rein kampflos aufzugeben, man riebe sich nur die Hände auf der anderen Seite.

Abends noch etwas Am Terrarium geübt. Komme ich aus der Arbeitswohnung heim, steht da immer schon der Zwillingsbub, zeigt auf das Cello oder klopft nachdrücklich auf meinen Cello-Stuhl oder macht sogar Streicherbewegungen, weil er unbedingt will, daß ich spiele. Leider hatte ich gestern abend dann Schmerzen im Ellbogen, sie zogen sich von der rechten Handwurzel hoch, so daß ich nicht lange übte, sondern lieber pausierte und mir den Arm mit Franzbranntwein einrieb. Nichts könnte ich jetzt weniger gebrauchen als eine Sehnenscheidenentzündung. Immerhin, ich scheine wirklich viel zu üben, merke aber ja die Zeit dabei gar nicht; ich könnte leicht die doppelte Zeit verwenden und wäre noch immer glücklich dabei. Selbstverständlich höre auch ich, wie vieles da noch schief klingt, ungelenk, aber ich habe ja mein Ziel und werde es erkämpfen. Allerdings saugt das spürbar Energie von der literarischen Arbeit ab.
Guten Morgen. Es wird Zeit für den Morgencigarillo.

Ach ja, gestern frühabends, noch hier in der Arbeitswohnung, hatte ich wieder einmal einen, so will ich das nennen, neurologischen Ausfall: Plötzlich stellten sich meine Pupillen gegeneinander, so fühlte sich das an, als ob ich schielte, was ich sah, wurde völlig unscharf, hatte auch etwas Schwindelerregendes, der Kreislauf sackte nach hinten, und es brauchte zweidrei Minuten, bis ich die Augen wieder im Griff hatte und den Blick steuern konnte. Noch sind diese Ausfälle sehr selten, aber komisch ist mir dabei s c h o n zumute.

17.24 Uhr:
Soeben Anruf von Jürgen Jesse, >>>> Galerie Jesse Bielefeld: Die >>>> AEOLIA (Stromboli) ist f e r t i g! Ein erstes Exemplar gehe für mich heute in die Post; morgen oder übermorgen werde es hier sein.

Das war eine Aufwallung von Glück.

Ansonsten: Der WDR-Redakteurin CDs von dreien meiner Hörstücke gebrannt, außerdem Arno Schmidts klasse “Goethe und einer seiner Bewunderer”, ein Stück, das ich in den frühen 80ern mal aus dem Rundfunk mitgeschnitten habe und das sie – beschämenderweise, lieber Bernd Rauschenbach – nicht kannte. Das wird sie ausstrahlen wollen. Da bin ich mir sicher. So tu ich auch mal was für die >>>> Arno-Schmidt-Stiftung. Und für UF geht HÄNDEL SATT!!! in die Post.

Ah ja… und überraschenderweise kam ich heute mit der Dritten Elegie >>>> weiter.

5 thoughts on “Arbeitsjournal. Dienstag, der 22. Juli 2008.

    1. @chatnoir. Ich hatte vor fünf Jahren eine komplette Hirn-CT, einfach, weil i c h wissen wollte. Das war oB. Immerhin hab ich jetzt schöne Fotografien von meinem Innenschädel, die waren es wert, die Erfahrung eh.
      Ich denk mal, ich schlafe einfach zu wenig. 3,5 bis 4 Stunden pro Nacht.. seit Jahren. Wenn dann noch der (mir heilige) Mittagsschlaf wegbricht aus irgendwelchen Gründen, ist’s ja an sich kein Wunder. Und Brille müßte ich tragen, will ich aber nicht tragen. Doch seh ich mein Arbeitszeug nur noch auf halbe Entfernung klar. Notenlesen geht, die stehen genau in der richtigen Entfernung.
      À propos Mittagsschlaf: der ist jetzt fällig.
      Danke aber. Auch für die besorgte Post anderer, die mich so als Email erreicht.

  1. Herbst Schmidt “So tu ich auch mal was für die >>>> Arno-Schmidt-Stiftung”

    Für die könnten Sie noch mehr tun, indem Sie endlich mal ein Hörstück über AS selbst schrieben. Solches Unterfangen wäre doch “des Schweifes der Edlen wert”, nicht?

    1. @Brown-hilled. Aber ja. Das täte ich sogar sehr sehr gerne (mit einem Akzent auf Sitara); nur habe ich so etwas jetzt mehrere Male angeboten, und es wollte keiner haben.
      Aber Sie haben völlig recht: Ich würde irrsinnig gerne in AS’sens Stil, und zwar ziemlich nahe, über AS etwas machen; das hätte mehr Witz, als nutzte ich meine ästhetischen “Weiter”entwicklungen (denn von AS’sens Stücken komme ich ja, neben der Musik, her).

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