Confessiones X, 8. 23. 10. 2008. Paul blickt durch den Smaragd des Augustinus.

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…Das alles geschieht, so oft ich etwas aus dem Gedächtnisse erzähle. Daselbst liegt alles einzeln und geschlechtsweise auf bewahrt, alles ist aufgehäuft, jedes auf seinem Wege hereingekommen; in dieser Weise das Licht und alle Farben und Formen der Körper durch die Augen, durch die Ohren aber alle Arten der Töne; alle Gerüche durch den Weg der Nase; alles, was schmeckt, durch den Weg des Mundes, durch das Gefühl aber des ganzen Körpers, was hart, was weich, was warm oder kalt, weich oder rauh, schwer oder leicht, außerhalb oder innerhalb des Körpers. Alles dies nimmt auf, um es, wenn nötig, aufzubewahren und wiederzugeben die große Haupthöhle des Gedächtnisses und ich weiß nicht, welche geheimen und unbeschreiblichen Verzweigungen es gibt; was alles zu ihm eintritt durch seine einzelnen Türen und darin niedergelegt wird. Dennoch gehen daselbst nicht die Dinge selbst ein, sondern nur ihre Vorstellungen sind daselbst für das Denken, das ihrer sich erinnert, gegenwärtig. Aber wer kann sagen, aus welchem Stoff sie gebildet sind, da nur augenfällig, durch welche Sinne sie entnommen und ins Innere verborgen werden? Denn auch in dem Schweigen der Nacht rufe ich mir, wenn ich will, die Farben ins Gedächtnis; und scheide zwischen Weiß und Schwarz und zwischen anderen Farben, die ich will; auch vermengen sich die Töne nicht noch verwirren sie, was ich mit den Augen heraufholend betrachte, da sie doch selbst hier sind und gewissermaßen abgesondert aufbewahrt sind. Denn auch sie rufe ich her, wenn mir’s beliebt, und sie sind zur Stelle. Und während die Zunge ruht und die Kehle schweigt, singe ich doch, soviel ich will; und jene Vorstellungen der Farben, welche dessen ungeachtet da sind, stören und unterbrechen sich nicht, denn da wird eine andere Vorratskammer, welche vom Ohr ihren Ausgang hat, benutzt. So ist’s auch mit dem übrigen, das durch die übrigen Sinne eingegangen und gehäuft ist, ich erinnere mich dessen, wenn ich will: und ich unterscheide den Duft der Lilien von den Veilchen, ohne daß ich dabei etwas rieche; und Honig vom Most, Weiches von Hartem, ohne daß ich dabei etwas schmecke oder fühle, sondern ich stelle mir’s in der Erinnerung vor. Innerlich tue ich das, im großen Hof meines Gedächtnisses. Daselbst sind mir Himmel, Erde und Meer gegenwärtig und alles, was ich darin wahrnehmen konnte, mit Ausnahme dessen, was ich vergessen habe. Daselbst begegne ich mir auch selbst und bilde mich wieder von neuem, was, wann und wo ich gehandelt habe und wie ich bei meinem Handeln gestimmt war. Dort ist alles, dessen ich mich erinnere, gleichviel, ob ich’s selbst erfuhr oder von andern glaubte. Aus demselben Schatze entnehme ich bald diese, bald jene Vorstellungen der Dinge, weiche ich entweder selbst kennengelernt oder nach Analogie der mir bekannten andern geglaubt, und verwebe sie mit Vergangenem; und danach überlege ich, was in der Zukunft getan, gehofft werden und sich begeben kann, ich überlege dies, als wäre alles gegenwärtig. “ich werde dies oder jenes tun”, spreche ich zu mir in dem ungeheuren Raume meines Geistes, der von von Vorstellungen so vieler und so großer Dinge ist, und dies oder jenes möge folgen.
“O, wenn dies oder jenes schon da wäre.”…

Bildquellen:
Bekehrung des Augustinus von Hippo (Tolle Lege) von Gozzoli, 15. Jahrhundert.
>>>>>Augustinus am PC

11 thoughts on “Confessiones X, 8. 23. 10. 2008. Paul blickt durch den Smaragd des Augustinus.

  1. “O, wenn dies oder jenes schon da wäre.” … wenn alles schon “da” wäre, wie im Schlaraffenland, es würde keine Distanzen geben, wir wären raumlos. Ich schreibe das weil ich im ersten Moment bei der Vorratskammer an das Schlaraffenland denken musste, gefüllt bis an die Decke mit fliegenden mundgerechten Hühnchen, Rosse die Eier legen und Schneetropfen aus Honig, usw. Cyberspace, die Schlaraffentechnik des 20. Jh., im Sinne erweiterter Sinnesorgane, technisch gesehen. Von der “Lust auf” zur “Lust an”. Ich komme darauf weil ich gerade gelesen habe was Cuny (anonym) an Vergils Mysterien geschrieben hat, ich möchte aber meinen Kommentar unter Ihr Tagebuch setzen weil mir etwas durch diesen Eintrag aufgefallen ist. Sinneseindrücke, die wir z.B. als Kinder sammeln, sind glaube ich die Gegenwärtigsten, gerade dadurch das man als Kind in seinem Übermut von einem, ich setze hier mal ein schönes Wort ein das ich gefunden habe, Magnetnadelwald zum nächsten springt, selbstvergessen und gerade durch diese Präsens sich selbst im Gegenwärtigen kaum bewußt. Als Erwachsener oder vielleicht auch präziser daraus erwachsen, zehren wir von dieser Vorratskammer an Eindrücken, Erinnerungen als Brückenschlag für vieles das wir uns vergegenwärtigt wünschen aber immer vor uns liegt: “O, wenn dies oder jenes schon da wäre.”… dann ist es wieder eine Sehnsucht nach Ferne…

    1. Liebe read An,

      leider komme ich erst heute dazu Ihnen zu antworten. In ihrem Magnetnadelwald, auch er, im Gegensatz zu Foucaults Schiff ohne Eigenbewegung (der Wald steht still und schweiget) , ein „ortloser Raum“, zittern die Nadeln verwirrend, gleich ob sie ängstigen oder Möglichkeitssinne “O, wenn dies oder jenes schon da wäre.”…revitalisieren. Dem Vibrato tanzender Nadeln versucht das Gedächtnis Herr zu werden in dem es zur Kunst, Gedächtniskunst gerät. „Gedächtniskunst ist Raumkunst“ schreibt Harald Weinrich. Und was einst nah war, leuchtet aus der Ferne verwandelt und neu, als paradox wandernder Stand– und Fluchtpunkt, der „der sich den änigmatischen Charakter der Dinge nicht leichten Kaufs nehmen lassen will, (…) der sich gegen alle viereckigen Gegensätze zur Wehr setzt, ein gut Theil Unsicherheit in den Dingen wünscht und die Gegensätze wegnimmt, als Freund der Zwischenfarben, Schatten, Nachmittagslichter und endlosen Meere“(Nietzsche) Er verursacht jenes Oszillieren, jenes visuelle Schwanken, dem lange vor Barthes und Bloch bereits Mörike Stimme gab.

    2. Gedächtniskunst ist Raumkunst / Angelus Novus Herr Reichenbach, da haben Sie aber nicht gegeizt in Ihrem Kommentar, kurz und bündig aber der hat´s in sich, von Foucault über Harald Weinrich zu Nietzsche, Barthes, Bloch und Mörike, nur weiter so, ich ergänze, dauert nur manchmal länger:

      Mein Flügel ist zum Schwung bereit
      ich kehrte gern zurück
      denn blieb ich auch lebendige Zeit
      ich hätte wenig Glück

      Gerhard Scholem, Gruß vom Angelus

      Die Zeichnung als Schrift, kindliche Leselust am Punkt, Komma, Strich und doch in Streiflichter zerlegte Leiber wie bei Paul Klee, Kalligraphien urgründiger Empfindungen die aus längst zertrümmerten Räumen wachsen. Sich weiterschreiben durch fraktale Splitter einer snap-shot Epoche, zersiebt in tausendfach kleine Wahrnehmungspixel. Dann kann man sagen den Fluchtpunkt im Nacken und die Vergangenheit als Aufblitzen der Erinnerung im Antlitz, ein Projektil des rückwärtigen Blicks, wie der Angelus Novus. Vielleicht ist Mythos dann auch so etwas wie ein imaginärer Zoom nach Innen, das das Schwanken und die Orientierunglosigkeit auszugleichen sucht (oder wenn anthropologische Fixpunkte flöten gehen, welcher Art auch immer, auch Zeichen) aufgrund eines “paradox wanderndern Stand- und Fluchtpunkts, der sich den änigmatischen Charakter der Dinge nicht leichten Kaufs nehmen lassen will, der sich … ein gut Theil Unsicherheit in den Dingen wünscht…”

    3. Alles ist möglich.

      Danke read An. Fraktale Splitter, in Streiflicht zerlegte Leiber, alles Affektentladungen, die in ihrer Dosierung schwer kalkulierbar sind. Decken sie doch nicht nur Fakten, sondern auch Empfindungen auf, die, weil nicht berechnet, jenen Fluchtpunkt erinnern, den Zenons Pfeil anvisiert und natürlich nie treffen wird. Scheinbar in Ruhe bewegt er sich doch, fliegt, wandert. Unsere geschlossenen Augen sehen ihn leuchten. Deutlich. Fremde Blickpatrouillen erblicken uns da schlafend, wo wir doch eigentlich und gerade hellwach sind, weil wir hinter den Lidern, ihn, Nietzsches Punkt, aufblitzen sehen. Ja – auch als Erinnerung sitzt er uns im Nacken, da können wir den Hals drehen wie wir wollen. Erinnerungen sind Schatten. Sie fressen die Figuren, die sie werfen. Und Serners Maxime „ALLES WAS UM MICH HERUM VORGEHT, KANN AUCH GESPIELT SEIN.“ – macht nur jene unglücklich, die die Welt für eine einzige Spielbank, statt für ein Theater halten. Diese leiden unter Kokainlähmung ihrer Seele. Das große Spiel, niemals sich für die/den zu halten, die/der man ist, verlangt zwingend den Rollenwechsel. Den wunderbaren Möglichkeitssinn weiterschreibend nutzen, kann gleichsam asymptotisch zum „Stand – und Fluchtpunkt“ hinführen. Ihm sich nähern, rückblickend und aufwärts und vorwärts schauen, dabei auf keine Schnittstelle hoffend, die Welt ist eine Komödie, ja spielen wir uns VOR ! Und entdecken dabei möglicherweise verschollene Möglichkeiten in und neben uns, die ummanteln und schützen können, wenn die Fröste der Freiheit allzu arg klirren. Das klingt pathetisch. Im Blick nach jenem visuellen Schwanken verbirgt sich die Sehnsucht nach Masken, die bei Herders Satz „Als nacktes, instinktloses Tier betrachtet, ist der Mensch das elendste Wesen“ nicht erschrecken. „ Alle Mängel und Bedürfnisse als Tier, schreibt Herder an anderer Stelle, waren dringende Anlässe, sich mit allen Kräften als Mensch zu zeigen…“ Menschsein, das ist eine verlängerte Situation, die in allen Variablen erscheinen kann. Als Freund des Theaters, des kleinen Vaudeville und der großen Komödie weiß ich, dass die Sehnsucht nach dem rätselhaften Punkt sich leichter in Masken, im Spiel, transportieren lässt. Stellen Sie sich vor, Sie würden irgendwo in der Nähe des Hauptbahnhofes Frankfurtmain einem verlumpten, verdreckten Penner begegnen, der auf dem Gehsteig hockt, nach Fusel und Schweiß stinkt, und vor sich ein Schild aufgestellt hat, auf dem mit ungelenker Schrift steht: Ich bin Giordano Bruno. Unmöglich? Alles ist möglich, sich in Fragen hineinleben, sich in Antworten hineinleben. ..

    4. Aktaion-Mythos Als ich in der wikipedia unter Giordano Bruno nachgeschaut habe, habe ich ein Zitat von ihm zum Aktaion-Mythos gefunden:
      “So verschlingen die Hunde, die Gedanken an göttliche Dinge, diesen Aktaion, so dass er nun für das Volk, die Menge tot ist, gelöst aus den Verstrickungen der verwirrten Sinne, frei vom fleischlichen Gefängnis der Materie. Deshalb braucht er seine Diana nun nicht mehr gleichsamdurch Ritzen und Fenster zu betrachten, sondern ist nach dem Niederreißen der Mauern ganz im Auge mit dem gesamten Horizont im Blick.”
      Ich habe mich dazu hinreißen etwas darüber zu schreiben, ob es mir gelungen ist weiß ich nicht:

      die vier jahreshirsche

      sie äsen mit zurückgebogenen hälsen
      die tage, sie hängen an den zweigen,
      über neun welten gewölbt der schatten,
      bevor der blüten stunde schlägt,
      werfen sie ab das horn der rosenstöcke
      und wittern der hirten hunde,
      an die fersen geheftet wie urin
      lechzen die windigen jäger
      nach der gunst ihrer herrin,
      aus ihrem schlund der vernichtende glanz,
      steigt auf als atem der zypresse,
      mitgift für die hand vieler töchter.
      nun sitzt er da auf einem stuhl in seiner hütte,
      auf seinen lippen steht ein tropfen blut,
      schneebleich versucht sie ihm die hand zu reichen
      über schiefe knarrende dielen
      und leugnet dabei das geräusch das sie machen.

    5. Ja, mag ich!
      Das rührt auch eher an der nordischen Mythologie, Yggdrasil usw. aber ich weiß jetzt schon was mir nicht gefällt: die Gunst der Herrin, klingt nicht gut! Ein schöner Name für die nordische Diana wäre ein erfundener wie
      Skadi Soley, Skadi heißt Jägerin des Winters, Soley ist eine Bezeichnung für eine Blüte. Aber die Idee habe ich längst eingemottet. Aber weiteres lieber in Hdb. Und danke für den Hettche.

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