Entliehene Bedeutung. Die Uraufführung der „Hölderlin“-Oper von Peter Ruzicka an der Staatsoper Unter den Linden Berlin. In der von Peter Mussbach abgebrochenen, von Torsten Fischer ausgeführten Inszenierung.

„Es fallen die Menschen wie faule Früchte von dir, o laß sie untergehen, so kehren sie zu deiner Wurzel wieder“ deklamiert zu Anfang der Sprecher, vorn an der Rampe hockend, ins Publikum. Wir sehen rechts zwei Hochhäuser, hoch mit Fotografien von Zimmerfenstern beklebte säulenhohe Pfeiler, wir sehen auf einen bleiblauen Hintergrund, dessen Boden teils ein Wasserbecken ist, aus dem gründerzeitlich korsettierte Bürger zu Anfang den Menschen, den eigentlichen von Geburt und Sterben und flüssiger, endlicher Hinfälligkeit, hinausziehen. Immer wieder wird man im folgenden durch dieses Becken gehen, Wasser wird aufspritzen, es wird klatschen, und es soll Meer sein, kann nur gemeint sein als Meer, denn wozu sonst zitierte Ruzickas neues Musiktheater von allem Anfang an und dauernd dann den Tristan? Der Komponist behandelt das berühmte Motiv – neben einer wie Verdi klingenden Mozartgeste – wie ein eigenes Leitmotiv und leiht sich dadurch eine Bedeutung, die die eigene Musik kaum hat. Wenn Adorno schon, in seinem sensiblen Geschmack beleidigt, bei Wagner-selbst konstatierte, man fühle sich ständig am Ärmel gezupft, so wird man von Ruzicka daran gezerrt, und die Inszenierung stampft, damit es der Tumbeste merkt, noch mit dem Fuß dazu auf. Wenn außerdem immer wieder vom Sprecher sowas hineingerufen wird: „Leben ist Tod, und Tod ist auch ein Leben“, dann ist für die gesamte Oper der Eindruck doppelter unstatthafter Entleihungen nicht mehr loszuwerden, die ihre Ursache in der Einfallslosigkeit haben, welche selbst davon verursacht zu sein scheint, daß eigentlich keiner etwas zu sagen hat – nichts außer bedeutungsschwangeren Zitaten, die so abgestanden sind, daß man die kommende Totgeburt permanent ahnt und ihr an diesem Abend auch beiwohnt.
Eigentlich geschieht auch nichts auf der Bühne. Es gibt Trennungen und Vereinigungen, letzteres weniger erotischer, als vor allem sozialer Natur: nämlich zu Menschenballungen (das Libretto nennt sie Kollektive), die immer wieder ins Sprechen verfallen, das ebenso immer wieder ein Streiten wird, man meint dann, massierten zänkischen Eheszenen zuzusehen, sprichwörtlich Gezänk; dabei aber bleibt es; Tote gibt es eigentlich wenig, es wird schon mal erschossen, aber, vermittelt sich der Eindruck, individuell – nicht die Spur politischer Kritik, allenfalls soziale Verwerfungen, die irgendwie kosmisch zu sein scheinen, weil sie quasi als Naturvorgänge behauptet werden, wie es überhaupt in dieser zweistündig durchlaufenden Inszenierung immer nur den Einzelnen gibt und die Menge, den Focus auf das einsame Individuum, Hölderlin, und die Tableaux der größeren Bewegungen, nur daß, dies ist das Problem, auch der Einzelne Tableau bleibt und eine Behauptung, die ihren Wert alleine aus den Zitaten zieht. Psychologie kommt nicht vor; statt dessen wird, und wieder als Zitat, Natur als Schicksal bemüht. Weshalb, davon ist nicht die Rede. Derart losgelöst und collagiert mit sowohl der modernen Szene als auch Peter Mussbachs Libretto, wirken die Zitate rein salbungsvoll und falsch überhöht, ja hohl. Was unter anderem mit Hölderlins pathetischem Sprachgestus zusammenhängt und dieser wieder mit seiner Entstehungszeit und woraus die Texte gerade gelöst werden müßten. Wirft man einen vergleichenden Blick auf Heinz Holligers Scardanelli-Zyklus***, wird unabweisbar klar, wie atemberaubend und nahe so etwas gelingen kann. Auch Maurizio Kagels Sankt-Bach-Passion, die ebenfalls mit Zitaten arbeitet – aber, meine Güte, wie!!! -, ist nachdrücklich gegen Ruzickas Restaurationsmusik zu halten. Es hilft nämlich nichts, wenn das Libretto jemanden mal „Wichser!“ rufen läßt oder wenn in sozialkritischer Rollenprosa gehämt wird: „Sie haben doch nur Schiß, daß Sie absteigen. Ab in die Unterschicht, da gehören Sie auch hin.“ Sondern man bekommt ein um so klebrigeres Gefühl dabei, als wenigstens ein Viertel der Premierenbesucher Gehaltskonten hat, auf die monatlich fünfstellige Beträge gehen. Nichts dagegen, daß solche Leute sich für Neue Musik interessieren, im Gegenteil, man sollte ihnen den Besuch auf keinen Fall verweigern, aber wenn man ihnen – konkret geschehen – einen roten Teppich vorm Opernhaus ausrollt, dann ist das ein deutliches Zeichen dafür, daß die Oper in den plüschstarren Wohlstandsbürgermuff zurückzufallen dabeiist, aus der sie die Arbeit der Gielens, Zagroseks, Dresens, Neuenfels’, Müllers, Zimmermanns, des jungen Henzes, Aribert Reimanns und wer immer noch einem da einfällt, mit opernreformerischer Klarheit endlich herausgelöst hatte – so daß diese Kunstform der Zukunft ihre Zukunft auch wieder bekam. Damit scheint es an der Staatsoper Unter den Linden vorbei zu sein. Ruzickas Musik tut nichts dazu, es zu verhindern. Im Gegenteil. Gemäßigte Moderne, kann man sagen, die eine Neigung zum ausgestellten Andante hat, zu aufscheinenden Geigensoli mit Herzrührallüren, und bevor sich der schmockbegeisterte Bürger d o c h einmal in Neuen Klängen („Dissonanzen“) zu verwirren droht, ist immer rechtzeitig der Tristan da, oder der Verdimozart, ihn ins Gemütliche zurückzupolstern; so sind auch die wenigen eigenen Gesten komponiert, in denen sich Ruzickas Musik hier feiert. Da ist ganz viel Stimmung, machmal esoterisch den Mahnfinger hebend, dann wieder aufgelockert durchs virtuos gesetzte Schlagwerk, gar keine Frage, aber auch die dräuenden Posaunenwarner, die tröpfelnden Perlen des Holzglockenspiels, mit denen die Musik Bedeutung erheischt, sind nur zu bekannt. Es geht nicht um Schock, es geht auch nicht um Erkenntnis, es geht um die Behauptung eines falsch verstandenen Geworfenseins für all jene, die so geworfen nicht sind, sondern sich ihrer sozialen Bedeutung marktwirtschaftlich rundum sicher sein können. Tatsächlich habe ich, außer in Bayreuth, zu einem Opernbesuch noch nie einen solchen Aufmarsch vermeintlicher und/oder tatsächlicher Prominenzen erlebt.
Dann merkte ich auf. Zugegeben: erst richtig unwillig. Ein Kind betritt die Bühne, hellblond, vielleicht vier, vielleicht fünf Jahre alt. So eins macht sich immer gut, vor allem, wenn es als armes alleines Schicksalsmenschlein auftreten darf, dem die Herzen der betuchten Anwesenden im Aggregatzustand sich verdampfender Mitleidstränen zufliegen können. Der auch politisch gerninszenierte Effekt ist aber einerseits über Hölderlin ins Libretto zurückgebunden, vor allem aber andererseits über eine konkrete Fall-Erzählung. Nach etwa 22 Minuten Aufführungzeit hat man plötzlich den Eindruck, eigentlich sähen und hörten wir einem Requiem zu. Dem für ein Kind. Doch gäbe zwar Mussbachs Libretto in seiner konkreten Schilderung eines Kindesmißbrauchs durch Verwahrlosung, schließlich Verhungern, eine dramaturgisch gute Grundlage ab – genau da, eben!, merkt man auf, da zuckt man zusammen, da ist plötzlich Kraft und Gegenwart. Doch auch das wird per Zitat und Musik schnell entkonkretisiert und zu einer so vagen Allgemeinbedeutung zurückgematscht, daß Schock und Betroffenheit in einer Rührung zerfließen, der der Zucker der vorgeführten Neue-Musik-Standards rundweg entspricht: d a s arme Kind in der Fantasie von Blaustrümpfen wird vorgestellt und denn auch weiter so behandelt. „Wenn ich ein Kind ansehe, und denke, wie schändlich und verderbend das Joch ist, daß es tragen wird, und daß es darben wird wie wir, daß es nach Menschen suchen wird, wie wir, daß es fragen wird, wie wir“ heißt es im Text, und ein Geigenteppich metaphysisch raunender Klänge wird daruntergelegt. Imgrunde muß von Kitsch gesprochen werden. Nun haben zwar Requien prinzipiell etwas Erbauliches, ihr bewegender Ausdruck von Schmerz soll ihn ja lindern. Doch indiziert Ruzickas ständiger Rückgriff auf das musikalische Leitmotiv – dem Tristans Ehre zu Tristans Schmock wird, weil das Zitat gar nicht mehr in musikalisch-motivischer Arbeit ächzt, sondern eben nur legitimiert ist durch seinerseits hehre Hölderlinzitate -, daß von Schmerz gar keine Rede sein kann. Es ist allein die sentimentale schöne G e s t e des Schmerzes noch da. Rubbelt man die Oberfläche von den Klangschichten ab, kommt nichts zum Vorschein als eine hohle sozialpolitische Correctness, die sich wirklichen Inhalten längst entfremdet hat. Trauer als ein mit Geschenkpäckchen-Schleifen, auf denen „Hochkultur“ steht, verziertes Entertainment, eingepackt in das Papier der wohlfeilen Betroffenheit.

Für diesen Befund spricht auch die Bilderwelt der Inszenierung. Man hat Ideen, das steht außer Frage, aber vergleicht man sie etwa mit denen >>>> des fulminanten Reimann/Shakespeare-„Lear“s an der Frankfurtmainer Oper, dann wird einem öde klar, wie unsubstantiell sie sind, wie einfach nur Einfall und hübsch-düster anzusehen. Die aus dem Wasser gezogenen Grauleute als der geworfene Mensch sind ja selbst bereits zu sehr Zitat, um nicht nur noch Bedeutungskitsch zu sein. Ebenso, wenn es regnet auf Bühne. Wozu? Daß man das machen kann, okay. Man kann das halt machen. Selbst die Mietshochhäuser, die einer berühmten Sozialreportage über die Pariser Banlieus entnommen zu sein scheinen, bekommen ein Dekoratives, mit dem so Ungewisses wie das „Schicksal des Menschen“ schwer ausdekoriert wird; Mussbach hat >>>> in seinem Protestschreiben schon nicht Unrecht, die plötzliche Anrufung von Göttern zu monieren. Wobei nicht die Anrufung selbst das Problem ist, sondern wie hier angerufen wird: alles ist voller Uneigentlichkeit, selbst die Betroffenheit hat in ihrer ausgestellter Trauer etwas von Dekoration, ganz wie die Musik. Wo bei Wagner der Tristanakkord Ausdruck objektiver Tragik einer Individualgeschichte ist, findet Tragik bei Ruzicka und Mussbach/Fischer als Fresco satt, das zur Erquickung ins Kaufhaus des Westens gemalt wird, ja Ruzickas Hölderlin wäre d a s Bühnenweihspiel für ein wiedererrichtetes Berliner Stadtschloß. So viel Restauration findet sich darin, so viel gutgeöltes Musikmanagement aber auch, das kompositionsvirtuos überaus weiß, wie man seinen Biolek schmiert und selbst einem Otto Schily gute betroffene Gefühle verschafft. Dafür ist das erschütterndste Beispiel die letzte, kann man sagen, Einstellung der Opernkamera, wenn über einem rund sechs Minuten währenden, an den späten Mahler erinnernden oder von Allan Pettersson herbeizitierten Streichersatz, dem aber gänzlich die motivischen Ideen abgehn, dafür erhebt er sich elegisch in immer höhere Höhen, und bisweilen raunt der Chor hinein – wenn also zu dieser akkordischen Schönmusik sämtliche Darsteller auf der Bühne, erst langsam, noch langsamer, noch langsamer nach vorne schreiten, sich dann, immer noch langsamer hinhocken, sich, weil die Musik nicht aufhört, dann, n o c h langsamer, vereinzelt erheben und rückwärts, bitte n o c h langsamer, schreiten, dann wieder nach vorne kommen, und jemand spricht ein Hölderlin-Zitat, sinkt noch langsamer wieder dahin, erhebt wieder den Kopf und spricht ein weiteres Hölderlin-Zitat, während die Musik sich immer schöner immer noch hochschraubt und wieder Leute, noch noch langsamer, sich bewegen, und vorne sieht mit furchtbarer Erdenschwere der Hölderlin ins Publikum, bis ihn, in schon erstarrender Langsamkeit der großartige – aber was nutzt ihm das? – Dietrich Henschel bei der Hand nimmt, es ist schließlich noch eine Minute allerschönsten Streichersatzes zu überbrücken, ihn an der Hand, bitte noch noch noch langsamer, langsam herumdreht, morendo bitte, nein, das ist nicht morendo genug, das muß morendissimo sein, sonst kriegt das ja keiner mehr mit – VORHANG.


[Und auch bei >>>> Zender,
wie ich >>>> gerade eben (20.11., 8.16 Uhr)
höre.]


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