Drohend. Aribert Reimanns Lear nach Shakespeare in Frankfurt am Main.

Grandiose Bühnenbilder, besonders, gesteigert, nach dem ersten Teil des Abends, wo auch die Tragödie selbst unbefragbar wird, da ihr Anlaß verblaßt, der eine vor Eitelkeit der Oberfläche blinde Selbstüberhebung ist – eine durch die vorwärtstreibende Dynamik Sebastian Weigles bis zur Schmerzgrenze intensive Musikführung – schauspielerisch stupende Leistung namentlich in Wolfgang Kochs Lear – das ist das neuinszenierte Königsdrama von Reimann/Shakespeare nach dem Libretto Claus H. Hennebergs an der Frankfurter Oper. Ich sah die sechste Vorstellung; Premiere war am 28. September (weitere Rezensionen finden Sie >>>> dort).
Beeindruckend ist erst einmal, mit welch virtuoser Leichtigkeit der „schwere“ Stoff alleine bühnentechnisch gemeistert wird: Nebeneinander spielende, doch räumlich getrennte Szenen werden simultan durch einen Vorhang aus Sprühregen voneinander separiert, aber gleichzeitig ineinander überführt; überhaupt gewinnt die Bühnentechnik hier den Ausdruck vorantreibender Seele, etwa, wenn auf den Sprühregen ganz dezent ein Liebesspiel projeziert ist, das aber durch den realen Vorgang des Dramas, zumal die Musik etwas Dämonisches erhält – einige Abbildungen des Programmbuches wollen „Wölfisches“ assoziieren.
Es läßt sich von einer mythischen Tragödie sprechen, deren Inhalt ich nicht mehr referieren möchte; zu fest sind die Bolzen in den steinigen Boden geschlagen, jeder kennt sie oder sollte sie kennen. Keith Warner konkretisiert sie aber zugleich metaphorisch, etwa indem Lear, nachdem ihn seine „bösen“ Töchter entwürdigt hinausgeworfen haben, auf einem Müllberg landet, der sich – bühnenbildnerisch leider ein bißchen ungeschickt an einen kleinen Vulkan erinnernd; der wäre schon a r g metaphorisch und k a n n also nicht gemeint sein – direkt vor den hohen kalten Pforten des Königssitzes erhebt: so werden unsre Alten entsorgt. Das kommt aber furchtbar nebenbei daher, da gibt es, weil das Drama zu groß ist, keinen Platz für irgend einen Zeigefinger, der sich erhebt: er würde schlichtweg abbrechen in dem vom (Musik)Orkan mitgeschleuderten Hagel aus Felsen und Schicksal. So geht das Schlag um Schlag – sich in seltenen musikalischen Oasen aus sattester Streichermelancholie erholend, um dann nur noch heftiger, böser zuzuschlagen. Wenn im vorletzten Bild Leiche um Leiche auf der Bühne liegt, verdeckt zwar, so ist das allenfalls noch grotesk – grotesk vielleicht im Sinn Ubus -, aber in gar keiner Weise mehr komisch. Hier wird kein Entertainment ge„macht“, hier geschieht Tragödie nicht, wie das Programmbuch nahelegt, als „moderne“ im Gegensatz zur „aniken“ (die plötzlich, d.h. nicht-psychisch, sondern objektiv begründet ist), sondern im Lear fallen beide tragödischen Dispositionen auf das brutalste zusammen, hier w i r d eben der innere Sturm zum äußeren, das eine spiegelt nicht das andere, sondern i s t es je – d a liegt das Grauens-Faszinosum, das der Lear von Shakespeare bis zu Reimann bedeutet: eine „Geworfenheit“, die sowohl eigenverursacht wie dynamisch fremdbestimmt ist:: die Hand des Königs ist mit der Gotteshand völlig verschmolzen – logisch bei der Konzeption fast-absoluter Monarchen::: dadurch zugleich Sinnbild und Entsetzensbild der monotheistischen wie patriarchal familiären Vater-Hoheit. All das in einer Oper, die es besser zu erzählen versteht als jedes Stück Literatur – sofern ihr die Musik denn „gelingt“. Bei Reimann, in diesem besonderen Fall, ist es so, als wäre ihr, der Musik, gar nichts anderes übriggeblieben. Der Erfolg dieser Oper, Sonderfall in der Neuen Musik, unterstreicht das ziemlich fett. Unausweichlichkeit, ob wir sie akzeptieren oder nicht, wird kollektiv gefühlt: wie ein Naturvorgang. Das war es, was den politisch aufgeklärten, reformbewegten Verdi dem Stoff geradezu abwehrend fremdbleiben ließ: Das Menschliche, auch: Menschengemäße, löst sich in ein Naturgeschehen auf… ja i s t es. Was wir Humanismus nennen, wird durchgestrichen: da ist keine Grundlage, die wahr wär. In Frankfurtmain wird das erschreckend deutlich, bis zur Hilflosigkeit des alten Mannes, der, die tote Tochter, die er doch selbst verstieß, über den Knien, sich nicht einmal mehr in einen neuen Wahn flüchten kann.

Dennoch bleiben Fragen. Aber sie sind bereits den Vorlagen, besonders schon bei Shakespeare immannent. Denn die Tragödie des Alters bei Reimann ist zugleich eine Tragödie der Dummheit – und zwar nicht erst einer, die mit der (Selbst)Entmachtung beginnt, wenn der Chor der Alten bei Keith Warner zu einem Chor von Senilen wird, die de facto niemand gern um sich hätte in ihrer sabbernden Selbstfeierei, sondern schon am Dreh- und Ausgangspunkt des Stückes: Der Frage:: Wer liebt mich am meisten? Das ist auch ein Ärgernis, weil es das Tragödische gleichsam ins Verdummte zurücknimmt, so daß man nicht völlig umhinkommt, das Tragödische n u r grotesk aufzufassen – nichts aber wäre – i s t – es weniger. Doch bleibt diese Frage: Was i s t das denn für ein Vater, der solche Töchter erzog, Spaltungstöchter, da Cordelia ja zärtlich ist, das nur nicht rhetorisch erniedrigen will?; und was ist mit der Mutter? Dem modernen, auch nach-postmodernen Denken, weil es das fühlt, bleibt nichts, als hier nachzufragen – und es wäre die Aufgabe einer Regie, in diese quasi blinde Stelle des Dramas viele viele Lichter zu stellen, die eben n i c h t nur herbeiinterpretierte, gleichsam philologische sind vermittels ÜberVater/Gott und LehnsMonarchie und, meinethalben, gieriger SelbstÜberhöhung. Wenn aber das Stück erst einmal in Gang gekommen, wenn dieser – für mich nach wie vor laue – Anfang akzeptiert ist, dann ist der tragödische Verlauf unfragbar niederschmetternd da – und in Frankfurtmain von einer solchen Gewalt, daß man schon nach dem ersten Teil ein schauderndes „Boaahhh“ in sich hineinzieht. Und die dunklen samtigen Streicherpassagen gegen Ende zitieren eine (auch, musikalisch gesehen) harmonische Erinnerung, die dann tatsächlich Trauer zuläßt – v o r der Erschütterung, nicht n a c h ihr. D a blickt man leer wie Gloster.

Lear, Wolfgang Koch; Albany, Dietrich Volle; Kent, Hans-Jürgen Lazar;
Gloster, Johannes Martin Kränzle; Edgar, Martin Wölfel; Edmund, Frank van Aken;
Goneril, Jeanne-Michèle Charbonnet; Regan, Caroline Whisnant; Cordelia, Britta Stallmeister; Narr, Graham Clark.
Frankfurter Museumsorchester, Sebastian Weigle. Inszenierung Keith Warner.
Bühnenbild Boris Kudlička. Licht (!!) Davy Cunningham.

>>>>ACHTUNG! DIE LETZTE VORSTELLUNG IN DIESER SPIELZEIT:
Samstag, 25. Oktober 2008, 19.30 Uhr.

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