Arbeitsjournal. Freitag, der 20. März 2009.

6.16 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
In Krisenmomenten dehnt sich die Zeit; ich habe das schon mehrfach beschrieben – nicht weil Sie es nicht selber kennten, sondern weil das Phänomen so beeindruckend ist. Als würde die Psyche schneller, möglicherweise gibt es ein Enzym, das das antreibt, Adrenalin dürfte beteiligt sein oder überhaupt der Grund. Ich fuhr mit dem Rad, das Cello auf dem Rücken, durch den starken Abendverkehr Potsdamer, nachdem der Fahrradweg zuende war, fuhr an den Reihen parkender Autos vorbei Richtung Friedenau zur letzten Probe vor dem Konzert, doppelt beleuchtet übrigens, vorne zwei Lichter, hinten auch, auch am Cellofutteral oben – da seh ich noch, wie sich auf der Fahrerseite eine Taxitür öffnet, will ausweichen nach links, aber hinter mir – wer viel fährt, erlebt das wie einen Instinkt – kommt ein schwarzer Schatten heran, wie in den Tropen, wenn die Dunkelheit über das Land eben n i c h t kriecht, sondern es erfaßt… ich kann nicht nach links, schon h a t mich die Tür… – Das habe er noch nie erlebt, sagt nachher der Fahrer des Luxus-Audis, daß ihm ein Mensch nachfliegt… Ich hörs fies ratschen, das Rad an der linken Längsseite des Audis entlang (eines geleasten Firmenwagens, wie sich nachher herausstellt), und denke, und denke, ich denke: „das Cello schützen, das Celo schützen!“ Und komme auf. Wie, weiß ich nicht mehr. Aber so, daß weder das Cello etwas abgekriegt hat, noch ich selber, außer einer Prellung an der rechten Brustseite, und es tut nun weh, immer noch, wenn ich huste, was ich leider seit der Buchmesse dauernd tu. Ich solle zum Arzt, mich untersuchen lassen, sagt der Polizist nachher; dazu hab ich aber keine Lust, auch keine Zeit, ich bin nicht aus Zucker, und daß jetzt irgendwas wehtut, ist ja wohl logisch nach diesem Sturz. Das Fahrrad in sich verklemmt, der Lenker steht falschrum, das Vorderrad hat ‘ne Acht, die Schaltung spinnt, so steh ich da.
Betroffen der Taxifahrer. Menschlich. Aber voll Angst: es ist sein eigenes Unternehmen. Es könne auch ein Strafantrag gestellt werden, sagt der Polizist. Um Gotteswillen nein! rufe ich. „Ich sag’s ja nur, damit Sie wissen“, zum Taxifahrer dies, „was auf Sie zukommen könnte“. Er würde, wenn der Arzt sagt, es sei nichts, gern alles unter den Beteiligten regeln, auch ohne die Versicherung; er hat Angst um seinen Beruf, bereits letzte Woche sei er in einen Unfall verwickelt worden, n i c h t schuld da, anders als diesmal, sagt er selbst, aber die Unfallgegner wolln ihm was anhängen – „und wissen Sie, dann steigt die Versicherungsprämie furchtbar, und außerdem, wenn einem sowas zweidreimal passiert, ist man seine Lizenz schneller los, als man schaun kann.“ Das vor allem macht ihm Angst, und die Kosten jetzt machen ihm Angst. „M u ß das mit dem Gutachter sein?“ fragt er den Audifahrer. „Das treibt die Kosten doch erst recht hoch. Es ist doch nur die Lackierung.“ Die Ratscher ziehen sich vom rechten hinteren Kotflügel über die Rücktür bis zur Fahrertür; man kann ganz gut sehen: eine Zehntelsekunde früher, und die aufgehende Tür hätte mich direkt vor das Auto geworfen; s o gab mir das vorbeifahrende Fahrzeug eine Flugrichtung, die gerade war: ein hübsches ballistisches Experiment.
Wahrend wir auf die Polizei warteten, meine Cellolehrerin angerufen, es geschah dies alles kaum zehn Minuten vor der Probe. Die Polizei kam gegen acht; ich konnte mit dem Rad nicht weiter. „Nimm die ein Taxi zur Probe“, sagt der Profi, den ich gleich n a c h der Cellogruppe anrief „und dann eines zurück auf den Prenzlauer Berg; muß ein Combi sein, damit das Fahrrad auch reingeht. Denk an die Quittung.“ Aber es hätte eh keinen Sinn mehr gehabt, ich wär nicht vor halb neun dortgewesen, und um neun war Probeschluß. Also fährt mich der Taxifahrer, der die Tür geöffnet hatte, ohne nach hinten zu sehen, in seinem Combitaxi heim mit meinem Rad hintendrin und dem Cello darauf. „Sagen Sie mir bitte gleich Bescheid, übers Telefon, ob am Cello was ist?“ „Ich werde es anspielen, aber es ist nach halb neun, da darf ich nicht mehr richtig spielen. Ich geb Ihnen bis spätestens morgen mittag Bescheid.“ „Bitte schicken Sie eine SMS dann, es kann sein, daß ich dann schlafe.“ „Sie fahren die Nachtschicht?“ „Ja, die Nacht durch.“ Ein netter, situationshalber blasser Mann, er wirkt geschlagen, sowieso, die Zeiten sind nicht gut, er ist von Köln hergekommen und zieht gerade mit seinen Töchtern zusammen; die Wohnungsverwaltung will seine Einkommensnachweise auf jede Zeile prüfen, ich merk grad selbst, wie demütigend das sein kann.
Was das nächste Thema eröffnet. Ich h a b jetzt eine Wohnung für meinen Jungen und mich gefunden. Sie ist ideal: ein großes Zimmer für den Buben, auf das ein irre langer schmaler Flur zuführt, von dem die volleingerichtete Küche abgeht, ideal, ja, als Wohnküche, und das gut ausgestattete, rundum geflieste Bad. Der Flur wird Bibliothek, ich werde sämtliche Bücher da unterkriegen, und es wird irre aussehen. Er mündet vorn an der Wohnungstür in ein Flurdelta, von dem das zweite Zimmer abgeht, das ein Vormieter, weil es s e h r groß ist, vermittels einer Rigipswand in zwei Zimmer geteilt hat. Wohnungsarchtiktonisch, ästhetisch gesehen, ist das Unfug, aber es ist praktisch: den kleineren Teil werd ich zu meinem Arbeitszimmer machen, das, wenn die Bücher, die Couch und die Musiksammlung nicht drinstehen, ja kleiner sein kann als hier der Arbeitswohnungsraum; den zweiten, kleineren Zimmerteil werd ich zu meines Sohnes und meinem Musikzimmer machen: dort werden die Celli stehen, dort wird sein elektronisches Drumset stehen, dort wird die Couch-Garnitur stehen, vielleicht noch ein Tisch. Ich werde Wände haben für meine Bilder; auch das große von Paulus Böhmer, „Der Riß“, das noch bei ihm in Frankfurt steht, hätte dort seinen Platz. Es müßte nur irgendwie nach Berlin gelangen. Und ich müßte, insgesamt, die Wohnung bezahlen können. An sich ist sie nicht teuer: 96 qm für knapp 730 Euro warm, worin auch schon die Heizkosten enthalten sind; k e i n e Gasetagen- sondern Zentralheizung, Göttinseidank; GasEtagenHeizungen sind teuer. Um die neue Wohnung, keine fünf Fahrradminuten von hier und also von meines Jungen Gymnasium entfernt, zu finanzieren, spiel ich mit dem Gedanken, die Arbeitswohnung einfach einzurichten und dann an Geschäftsleute wochenweise zu vermieten, die in Berlin arbeiten, oder auch an Touristen, die einen preiswerten Unterschlupf brauchen und vom normalen Hotelbetrieb unabhängig sein wollen, sich selbst versorgen wollen usw. Nehmen wir an, 200 Euro pro Woche, sowas, dann wäre die andere Wohnung finanziert; dazu Förderhilfe für meinen Buben, Wohngeld, sowas. Es ist im Bereich des Möglichen. Wenn die „Sache“ mit dem Konzerthaus klappt, wäre es sowieso anders; dann brauchte ich mir d i e s e Sorge nicht mehr zu machen.
Dennoch, ich seh nachher um halb zehn noch eine weitere Wohnung an, die, von der ich >>>> gestern schon sprach, im Haus der alten Väter-WG: das sind dann aber nur zwei Zimmer bei 70 qm, allerdings für 440 warm; dafür dann aber d o c h GasEtagenHeizung. Und es wäre nicht, wie in dieser idealen Wohnung, mein Arbeitsbereich so deutlich vom familiären getrennt, und ich wüßte nicht, wo meine Sachen unterkriegen…
Hübsch, daß ich jetzt am Sonntag das kleine Kammerkonzert sozusagen probelos gebe; eigentlich müßte ich jetzt wie ein Irrer üben, aber hab die Zeit nicht, weil „neben“ der Zimmersuche vor allem der Miniaturentext drängt. Um vom Finanzamt zu schweigen, wo ich endlich a u c h reagieren müßte. Wiederum mag ich das ja: daß Leben solch ein permanenter Kampf ist, jedenfalls bei mir; legt man einen auf die Seite, tauchen zwei neue Raptoren auf.
Guten Morgen, Leserinnen und Leser, und Gegner, und sonstwas. Übrigens hat mich s c h o n mal eine sich öffnende Autotür vom Fahrrad geholt; das liegt zwanzig Jahre zurück. Und auch da flog ich und stand ohne eine Schramme wieder auf. Nicht mal meine Klamotten haben jetzt was abgekriegt. Nur daß es halt beim Husten wehtut und ich wegen der Raucherei momentan dauernd huste, also seit der Messe. Bei meinem „Frei“todversuch 1982 – ich setzte mit dem Auto weit zurück, sowas um 300 Meter, dann gab ich Gas und bretterte gegen die Hauswand – ging ich durch die Windschutzscheibe und knallte dann auch gegen die Wand: stand auf und hatte ebenfalls nichts. Überall Scherben, Schrott, aber ich stand auf und hatte keinen Kratzer. In >>>> DIE VERWIRRUNG DES GEMÜTS wird diese Geschichte erzählt.

4 thoughts on “Arbeitsjournal. Freitag, der 20. März 2009.

  1. sie sollten trotzdem zum arzt gehen und den bluterguss, der sich bilden wird, fotografieren. ihr rad wird auf jeden fall ersetzt bzw repariert werden müssen. zumindest wäre die frage mit den neuen felgen so geklärt. sie haben glück gehabt. aber wenn ich so was lese, krieg ich die heilige wut, ganz egal wie nett der taxifahrer ist, mit radfahrern ist zu rechnen, da darf einfach keine tür fliegen, könnte man wissen. ich hab das ziemlich über hier, wie man andauernd selber sehen muss, wo man bleibt, wenn kein radweg vorhanden ist, benehmen sich berliner auto- und, ja, taxifahrer oft dermassen rücksichtslos, schneiden einen, lassen kaum abstand, dazu zerschmissene bierflaschen auf den radwegen, selbstjustiz, von verbalen ausfällen ganz zu schweigen. dabei leben die taxifahrer eher mal von mir, die ich hier kein auto habe, als von den autofahrern.
    ich weiss es noch wie heute, als der anruf von m kam, zwei wochen vor LA: du, ich lieg hier im graben, kannst du mit dem taxi vorbeikommen. er fuhr im spätsommmer rennrad an der doven elbe, irgendwo bei ochsenwerder, drehte ein wagen auf dem standstreifen um, der ihn nicht sah, er musste quer über die strasse ausweichen, vor die nächste vorgartenmauer kopfüber ins kiesbett, schrammen, prellungen, kies im helm, das rad totalschaden und der autofahrer fuhr einfach weg, hätten nicht passanten das kennzeichen notiert, er wäre auf allen schäden hängen geblieben. er hatte enormes glück und mir schlotterten die knie. in münster fing eine fliegende tür uns gleich beide, ich hab mich gewundert, dass die noch dran war, damals waren wir so verschüchtert, dass wir überhaupt nichts gegen die körperverletzung anstrengten, ich humpelte ne woche und die acht bogen wir noch selbst aus den rädern. und, das geht nicht. punkt.

    1. @diadorim. Stimmt, geht nicht. Passiert aber. Und kann wirklich j e d e m passieren. Also halte ich den Ball selbstverständlich flach. Ich hab auch schon Fehler gemacht, weil ich mit meinen Gedanken woanders war.
      Ob sich ein Bluterguß bilden wird, wird man wahrscheinlich nicht sehen, weil er zwar kommen wird, aber innerlich. Na gut. Und Ärzte mag ich nicht. Das ist nichts Persönliches, aber ich sitze einfach nicht gerne in Wartezimmern rum und finde, daß man ein gewisses Risiko tragen muß, wenn man auf die Straße geht. Risiko ist ein Teil des Lebens, und ich w i l l diesen Teil. Dazu gehört, daß man es mitträgt, wenn sich jemand anderes unachtsam verhält. Ich w i l l nicht die Sicherheit. Sie tötet das Leben, und man vegetiert nur noch ohne sie und kriegt irgendwann Rente, von der ich immer schon meinte, daß sie ein Vergehen gegen das Menschenrecht ist.
      Der Sachschaden wird ersetzt, das steht außer Frage; das Rad ist schon in der Werkstatt.

    2. ja, klar trägt man ein gewisses risiko, wenn man auf die strasse geht, dass man aber ein grösseres risiko tragen muss, wenn man geht oder unmotorisiert fährt, ist ein unding und das tötet leben, wenns schief geht. sie würden so nie argumentieren, wenn es um ihren jungen ginge, da haben die autofahrer einfach drauf zu achten, wenn er fehler macht, und rücksicht zu nehmen, klar, aber umgekehrt?

      es galt ja mal als zeichen von charakterstärke und menschenfreundlicher rücksichtnahme, schwächeren, langsameren, älteren, schwangeren, kindern, gebrechlicheren etc pp den vortritt zu lassen. diese zeiten sind vorbei und sie wollen das selbstverständlich alles nicht sein, also ist ihr psychologischer trick der, sie räumen dem taxifahrer generös den vortritt ein, um sich damit auf die seite der ‘starken’ zu bringen – meine westentaschenpsychologie ist doch super, oder? – obwohl sie in jedem fall das los des schwächeren verkehrsteilnehmers ziehen würden, aber sie beherrschen den doppelten radrollsalto, als action figure mit cello, ein bisschen don quijotismus ist das schon, finde ich, aber so wird er natürlich erst erzählbar.

      und, der bluterguss kommt, jede wette.

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