Arbeitsjournal. Sonnabend, der 26. Oktober 2009. Mit den “dunklen Jahrhunderten”.

6.52 Uhr:
[Scelsi, Aiôn.]
Die erste Verlagsnachfrage wegen der >>>> Bamberger Elegien, Verlagsmöglichkeit. Theoretisch könnten sie nun also zum Frühjahr 2010, Leipzig 2010, erscheinen. Ich bin mir noch unsicher, aber es wäre ein irrer Ort; der Profi gestern abend an der (nicht >>>> d e r Bar) Bar: „Das ist eine geniale Idee!“ Paradoxe Intervention. Nur Geld gäbe es wahrscheinlich wieder mal nicht. Doch da wären sie. „Laß dich nicht verunsichern: es sind gute Texte.“ So schrieb mir schon LH, so schrieb L., so schrieben andere; ulkig, >>>> daß das in Der Dschungel immer so anders aussieht. Natürlich fragt man sich, weshalb; man fragt sich auch (unwillkürlich wie unwillentlich), wer denn eigentlich „die Zielgruppe“ sei. Und weiß keine Antwort.
Dann sprach mich eine Frau an, hohe Schuhe, dunkel gekleidet, ein wenig teuer gekleidet, wir standen rauchend vorm >>>> Burger. „Hallo, wie geht es dir? Hast du mich schon gesehen, hast du mich wiedererkannt?“ „Ja“, log ich verdutzt. Sie nahm mich in den Arm, rieb die Wange sehr an der Wange. Eine Schönheit. Ich raste durch meine Erinnerungen. Ich hatte nur Ideen. Ein älterer, spannend aussehender Sadist war mit seiner Frau-à-la->>>> Stéphane-Audran angereist, aus Hamburg, das bekam ich aus einem Gespräch mit, fragte also „Du bist mit aus Hamburg hergekommen?“ „Oh, du verwechselst mich.“ Ja. Scheiße. Blöddas. „Hilf mir aus meiner Erinnerung“, variierte ich Gräfenberg. Sie rückte näher, ganz nah, meine Hand um ihre Taille, so daß sich der Körper erinnerte; dem Geist blieb’s aber weiterhin dunkel; er rächte sich, >>>> weil ich ihm nicht traue. So nannte sie ihren Namen. „Ah!“ machte ich, wobei das ebenfalls gelogen war, aber doch das immerhin Charmanteste, was ich jetzt tun konnte. Auch der Name sagte mir nichts. „Das muß Jahre her sein“, sagte ich. „Sie ist so schön geworden“, dachte ich, andernfalls hätte ich sie nicht vergessen. Da ging’s, es war die Pause gewesen, wieder hinein. Noch einmal eine Umarmung. Drinnen begann Sascha Mersch zu singen, aggressiv in Udo-Lindenberg-Lage mit dem nachhängenden Kinn, aber die Aggressivität war interessant, auch wenn dann die Stücke fast immer dem gleichen Muster folgten und fast immer auch die Stimme gepreßt wurde. Der Profi war davon angeödet, ich war offen: einfach mal hinhören. „Konstantin-Wecker-auf-Grufti-Erotik “, so habe (suchen Sie selbst) die taz über ihn neulich geschrieben; was zweifelsfrei ungerecht ist, beiden gegenüber; Wecker beherrscht nahezu alle Zwischenlagen und -töne, der schlägt schon mal zu, aber er kann auch wirklich weinen; Mersch hingegen hämmert und hämmert, doch seinem Sujet gemäß zu recht. Man muß die Bezugssysteme sehen: Mersch ist Szene durch und durch, da kann man nicht Anarchist sein. Der Profi verzog sich zur Tür, um Publikum zu betrachten. Ich hingegen langweile mich niemals so schnell. Meine schöne Vonfrüherbekannte saß in einer Ecke, die ich nicht einsehen konnte, „Loge“ hatte sie die genannt. Jedenfalls verzogen wir uns dann in den Nebenraum, wo man rauchen konnte, >>>> Sukov, der Profi und ich, redeten; die Schönheit kam irgendwann nach, aber setzte sich abseits mit einem scenic guy, der gut auch scenic gay hätte sein können; ich versuchte noch einzweimal einen Blickkontakt, dann rammte sich ein Riese, der auch breit war, rechts neben mich und nahm mir für quasi den halben Raum Sicht. Aber ich hatte ja eh Löwinnen im Kopf und Hunninnen im Bauch, die mein Fleisch, das nicht durchzuhängen habe, sämigreiten, während sie auf mein äußeres Ich zustürmen, und vom Schwert zwischen ihren Zähnen trieft ein rotes Östrogen; die Nüstern ihrer kleinen Pferde schnauben Pheromone. Irgendwann war die Vonfrüherbekannte davon, „jetzt ist sie gegangen“, kommentierte der Profi, „nun ja“, sagte ich. Dann stand sie aber, als wir unsererseits gingen, in der Tür. Wieder diese Umarmung, die Wangen zu lange kurz aneinander. Völlig unsinnigerweise sagte ich „melde dich mal“, und sie, ebenso unsinnigerweise, antwortete: „Gerne.“ Fast hätten wir uns geküßt, die Münder verharrten kurz voreinander. Du fängst hier jetzt nix an, dachte ich, das tust du jetzt nicht. Sie wird dasselbe gedacht haben oder etwas sehr Ähnliches. Der Instinkt stand uns bis zu den Waden, es gibt das: einen Frauen-zu-Männer- und Männer-zu-Frauen-Instinkt.
Umarmung mit dem Profi, dann schwang ich mich geschlechtsneutral aufs Rad und fuhr davon. Kurze Konversation mit Johannes Valmont übers Netz; er ist aus dem Kongo zurück. Als er mich fragte, ob ich einen namens Malos kennte, >>>> erschrak ich. „Woher kennen Sie Malos?“ – Aber das wäre jetzt eine zu lange Geschichte fürs Arbeitsjournal, also was er da erzählt hat noch heut nacht. Mir wurde so übel, daß ich sofort aufhörte, weiterhin Wein zu trinken (Verschnitt, anderthalb Liter zu einsvierzig; ich muß sparen) und schlafenging, um von Hunninnen zu träumen, die einem nur die Seele massakrieren, bevor sie ruhig werden, den Kopf an einen legen und nur noch Atem sind.

Mittags seh ich Eisenhauer, er lud wieder zum Imbiß ein. >>>> Sein neues Buch hab ich immer noch nicht gelesen, dabei wär das die Sache eines Vormittags… hm, unangenehm. Mein Junge wird erst spätnachmittags fürs Cello herkommen, vielleicht auch hier übernachten.

[Penderecki, Dritte Sinfonie.]

Nein, ich glaube nicht an eine aggressionsfreie Welt; ich bin mir sogar unsicher, ob sie überhaupt wünschenswert wäre. Wenigstens das wurde mir gestern abend deutlich. Ich glaube an Shiva und Ares’ Aphrodite inklusive ihres betrognen Hephaistos’, bin barbarisch durch und durch; auf meine Eisenzeit ist eine dekadent dünne Tünche 20. Jahrhundert gestrichen, darübergesprüht das herzliche Fixativ meiner persönlichen Freundlichkeiten und Konzilianz. Es hält nicht. Ich habe, >>>> als Nilakanta es trank, vom Gift aus dem Urmeer mitgenippt.

10.35 Uhr:
Wie erfüllend es sein kann, einen einfachen frischen Toast mit, hat meine Großmutter gerne gesagt:, „guter Butter“ und Salz zu essen, v i e l Butter, weil sie in das wärme Gebäck hineindringt, doch auf der goldbraunen Oberfläche weiter unzerschmolzen schimmern soll…

[Penderecki, Sechste Sinfonie. Manchmal beneide ich die so
Gläubigen; bei mir ist es ja immer nur ein achtsamer Flirt.]

14.56 Uhr:
Die fünfte Elegie ist fertig.

Kleine halbe Stunde Mittagsschlaf gehabt. Ich zitiere den sehr tiefen Traum:Ich schick Dir Eulen hinterher und Raben und meine pfiffigen Spione, die Spatzen; – die Eulen, um dich nachts zu wecken mit ihren Fagottrufen, die Raben, damit ein “nevermore” im Fensterrahmen steht, gegen das Du Dich wehrst – und die Spatzen (wes’ Herz voll ist:) um zu schwatzen zu schwatzen zu schwatzen. Das wird Dich derart sauer machen, daß Du jeder Form von Besänftigung unzugänglich wirst. Keine Ruh sollst Du haben, solange Du weg bist.Ich brauchte fünf Minuten, um ganz wach zu werden. Mein Kreislauf schwamm.
Danach Essen mit Eisenhauer. Über die neue Verlagsidee geredet. Über den Betrieb geredet, mal wieder. Seine Verachtung ist nicht geringer als meine, aber er hat keine Trauer. „Ich merke erst langsam, welch ein Segen für die Dichtung das Internet ist“, sagt er. Er hat eine eigene Idee, er wird sie in Der Dschungel einbringen. Aber wohl nicht vor Dezember. Thai-Küche, Salat mit Krebsfleisch und Basilikum und Pfefferminzblättern, Hühnchen in einer Sauce, die von geraspelten Erdnüssen als wie mit Parmigiano bestreut ist. Sonne bricht durchs geschlossene Wolkendach, wir sitzen draußen. „Da ist etwas Neues“, sagte er, „erzähle.“ „Und bei Dir?“ frage ich. Er schüttelt, den er nicht fassen kann, seinen Kopf, der mich mit einem Mal an einen Habicht erinnert. „Ich schüttele“, sagt er, „jeden Tag neu den Kopf über diese Ränke des Lebens.”

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