Arbeitsjournal. Donnerstag, der 12. November 2009. Mannheim und Hannover.

7.08 Uhr:
[Bei Kühlmanns. Küche.]
Kaffee. Zigaretten, Cigarillos hatte ich mir ja vor der Abreise nicht mehr besorgen können in Berlin. Eben >>>> die Ankündigung für heute abend geschrieben, jetzt mein Journal, danach gleich will ich die Rezension für Reichart/WDR modifizieren. Leichter Kopfschmerz, weil ich gestern nacht, ähm… heute nacht mit Kühlmann bis halb zwei Schwarzwälder Kirschgeist soff, nachdem ich vorher schon >>>> im Heidelberger Knösel Bier getrunken, freilich auch eine Kleinigkeit gegessen. Dabei mit den Studenten, vor allem aber E. gesprochen. Dazu sein Gespräch mit einem Kommilitonenfreund über das mystische Erlebnis, das Sprache nicht sein könne; es sei, wenn verlautbart (verwortet), immer schon weg; Wittgensteins Schachtel, dachte ich, sagte ich: wir wissen nicht, ob etwas drin ist; prinzipiell nicht. Aber ich denke dabei immer: ohne das Namenlose der Vereinigung ist es nicht; es ist, w e n n, Eros pur. – Auch >>>> Würker kam hinzu, hochgebildet, ganz leicht verschroben, dabei von einem leisen boshaften Witz. Er machte gern auch meine Essays, im nächsten Jahr, nur möchte er erst sehen, ob auch >>>> genug Kybernetischer Realismus verkauft worden ist, um dem Vorhaben wenigstens theoretisch einen unternehmerischen Sinn anzuheften. Er gebe mir im Dezember, zu meinem nächsten >>>> „virtuellen Real“seminar, bescheid. Ich selbst denke, daß es mir auf einen solchen Sinn nicht ankommen darf, und fahre zweigleisig; wer zuerst „Mach ich!“ ruft, bekommt den Zuschlag.
Kühlmanns >>>> Rezensionen aus zwanzig Jahren sind erschienen; schönes Buch, auch ich bin nett bedacht. Dann wuchtete er, tiefnachts, drei >>>> Killy-Bände aus der Bibliothek runter; mochte mir den Eintrag zeigen, der mein Werk beschreibt; ich mochte den freilich auch sehen. Blätterte durch, sah mir die Gewichtungen nach Platz an; war hochzufrieden; kann das auch sein. Dazu futterten wir die Süßigkeiten weg, die Frau K. bereits für den Nikolausmorgen besorgt. „Da wird sie aber sauer auf mich sein“, sagte ich. „Wir lassen einfach die leeren Packungen hier liegen,“ antwortete er zuckerpragmatisch, „dann kann sie ja volle nachkaufen.“ Im Seminar neue Gesichter, wir untersuchten nahezu eine Stunde lang ein einziges Gedicht; ich versuche immer, von der speziellen Fragestellung zu allgemeinen poetologischen Fragen zu kommen; das „reine“ Lektorat ist im virtuellen Seminar an sich besser aufgehoben.

Zuvor ganz شجرة حبة. Große große Nähe, wir schauten Fotoalben an, blätterten uns durch Vergangenheiten, die a l s solche sind und die es bleiben. Verwandlungen, ein Haus auf dem Lande. Der Geruch brennenden Holzes, das Feuer besorgte nicht sie, sondern ich. Die Nähen sind deutlich nicht nur sexuelle, sondern sie sind aus dem Sexuellen herausgestiegen; es löste sie: Sexualität als Katalysator: Erkenntnis-Katalysator. Einander erkennen. Umgekehrt sieht wieder sie die Nähe als vorgängig: etwas, das schon da sei, bevor es ist. Tatsächlich wissen wir sehr genau, was wir meinen, wenn wir von „Kunst“ sprechen. Ich sah alte Arbeiten von ihr, war spontan-erfaßt, aber schon im Atelier, ein brennendes Meer, doch auf diese weibliche Art, nicht Ahab, der den Wal stellt und nicht weiß, der stellt i h n, sondern s i e weiß es und bereitet sich vor. Auf der Fahrt, auch wenn wir mit eiskalten Fingern ankamen, tatsächlich das Verdeck geöffnet und offen durch den November gebraust. Ich dachte: Erlkönig… wie bekommt man den Erlkönig ans Auto, wie riefe er d a Ich lieb deine schöne Gestalt? wie käme seine lockende Drohung der Geschwindigkeit nach? Dabei waren wir längst erfaßt: unser beider Uhren waren stehengeblieben, offenbar schon in der Vornacht, so standen wir auf und lebten den Tag über eine Stunde zurück; wir lebten parallel in der Zeit. Ich wäre beinah zu spät ins Seminar gekommen und hätte geglaubt, völlig pünktlich zu sein. Dieses Gebiß! Dieser Frauenblick, wenn er bricht, ich will darüber schreiben, wie er fleht. Ob auch Männer diesen Ausdruck bekommen, weiß ich nicht.

Ich werde gegen halb zehn abfahren. Noch einmal zweidrei Stunden die Löwin sehen, dann zur hannöverschen Lesung weiterfahren; morgen früh geht es nach Berlin zurück. Etwas Magisches ist im Gang.

G a n z irre aber: Vor den Fenstern des Knösels lief das Laternelaufen vorbei… aber vorweg ein Polizeiwagen mit Blaulicht und hintennach auch. …aber meine liebe Laterne nicht: Kinderumzüge als Demonstration. Es ist unfaßbar, zu was der Correctnesswahn führt. St.-Martins-Demonstrationen: Brenne aus mein Licht…

16.13 Uhr:
[ICE Frankfurtmain-Hannover.]
Jetzt wird es also ernst mit dem Manager-Coaching; schönes Vorgespräch geführt, nun soll ich ein Exposé schreiben. Schwerpunkte Rhetorik und Selbstdarstellung („das können Sie, wissen wir, gut… selbstverständlich: wir haben verfolgt, was Sie tun.“); außerdem ist ein Akzent auf Projektentwicklung zu legen… „Projekt“ ist so ein Modewort geworden, das sich fast unmerklich eingeschlichen hat, auch in mich, übrigens, ich nehme mich überhaupt nicht aus. Kühlmann, wegwerfend heute früh: „Alles sind neuerdings Projekte, ob ich einen Roman schreibe, wie man das früher mal nannte, ob ich eine Vorlesung schreibe, ja selbst, ob man eine Vorlesung besucht; alles Projekte…“ Das andere Modewort ist >>>> „Event“. Das benutze ich allerdings n i c h t – oder doch nur selten.

Die WDR-Rezension revidiert, jetzt gefällt sie MR; ich möchte also bitte die Aufnahme terminieren; werd ich morgen machen. Mitten durch die Mails jagte ein Zunami über die Körper, gefolgt von einem tollen Satz Claire van Huygans, den ich aber heute nicht mehr einstelle, erst morgen, wegen >>>> der Lesungsankündigung. Aber er paßt, dieser Satz, paßgenau ins >>>> Melusine-Walser-(ecco:)„Projekt“. Wie deutlich das jetzt wird, daß ich es schreiben muß, „einfach“ schreiben m u ß. Aber n a c h >>>> ARGOs Erscheinen erst. Dann schrieb Sigurd Wendland auf >>>> meine Bemerkungen hin, die er jetzt erst las. Kann sein, daß sich – vielleicht auch für Die Dschungel – eine gute Korrespondenz daraus entwickelt: politische ./. „nicht“-politische Kunst. Des weiteren fängt das >>>> virtuelle Seminar jetzt rundzulaufen an.

Jetzt werde ich die Texte für heute abend durchschauen, dann weiter >>>> Danz lesen. In etwa anderhalb Stunden rolle ich in Hannover ein. (Bin gespannt, wer da sein wird, wen ich alles wiedersehen werde; ich habe das Gefühl, es wird ein sehr sehr schöner Abend… auch und vielleicht gerade n a c h der Lesung.) Ah ja, ich muß unbedingt mit Delf Schmidt sprechen wegen der Aragon-Idee, die ich bezüglich >>>> Matthes & Seitz hatte. Mit Rötzer treff ich mich nächste Woche.

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