Max oder liebst du ihn. Der zweite Seminartext. Von Ingrid Walter. Zu kommentieren freigegeben.

Es ist die zweite Urlaubswoche. Ein Nachmittag in diesem vollkommenen Blau, so verheißungsvoll blau, dass ich es irgendwann am Pool nicht mehr aushalte und in den Ort hinunterlaufe. Jetzt sitze ich an einem der runden Tische auf der Terrasse der Bar du Sports und schreibe, habe mir ein paar Stunden für mich abgeknapst von diesem Urlaub, den ich mit Gunther in Südfrankreich verbringe. Ich will für mich sein, ein paar Gedanken notieren, die mich in den letzten Tagen beschäftigen und bestelle bei dem kleinen schielenden Kellner einen Pastis.

Sehr schön waren diese letzten Tage gewesen, voller Farbigkeit und atemberaubender Blicke in diese wildschöne Küstenlandschaft und voll unkomplizierter Zweisamkeit mit Gunther. Aber irgendwie waren sie auch von einer einsamen Zweisamkeit geprägt. Viele Gegebenheiten hier erinnern mich an die letzten Urlaube mit meiner besten Freundin Melissa und ihrem Exmann Ulli. Vor zwei Jahren haben sie sich getrennt. Wenn wir zu viert unterwegs waren, schienen mir all unsere Wünsche im Gleichgewicht – jeder kam auf seine Kosten. Gunther und ich wollen manchmal nicht Dasselbe und dann ist niemand da, der das ausgleichen kann. Wir sind wieder ganz auf uns selbst gestellt, wie früher in unseren ersten Urlauben, nur damals war alles leicht, weil nur das Zusammensein zählte.

Ich nippe an dem milchigen Getränk, das mir mit Anis und Lakritze die Zunge taub macht. Am liebsten würde ich eine rauchen – auch das haben wir im Urlaub oft zusammen gemacht. Manchmal musste ich es mir hinterher mühsam wieder abgewöhnen, aber das war mir in dem Augenblick egal, es war darin ein frechtrotziges Lächeln über die ganze Welt mit ihrer wachsenden Wohlgesittung. Ich klappe mein Handy auf und schreibe Melissa eine SMS. Ich beschreibe den kleinen Ort mit seinen hübschen kleinen Läden, die Boutique, in der ich vorhin etwas mutlos herumgestöbert habe. Zusammen hätten wir bestimmt etwas gekauft. Ein winziges besticktes Täschchen oder ein knappes buntes T-Shirt, Dinge, die nur für den Urlaub taugen und über die unsere Männer den Kopf geschüttelt hätten. Ich weiß nicht, wie und wo Melissa diese kleine Nachricht erreichen wird, aber ich musste ihr in diesem Moment einfach sagen, dass sie mir fehlt hier.

Wenig später erhalte ich tatsächlich eine Antwort, in der Melissa schreibt, dass sie sich gerade in Frankfurt aus der übervollen S-Bahn gequält habe und ich bemerke den rauen Unterton, der mir klarmacht, dass sie in einer ganz anderen Stimmung ist, mir sogar ein wenig böse kommt, böse darüber, dass ich hier bin und sie dort und wieder einmal stelle ich fest, dass eine SMS für Gefühle zu kurz und gleichzeitig zu direkt ist.

Ich gieße zum dritten Mal Wasser in das Glas, weil mir von dem Getränk auf der sonnigen Terrasse genossen, schon ein wenig schwummrig im Kopf ist. Gunther hätte wohl gefunden, dass mir das recht geschieht, was musste ich auch am Nachmittag schon.

Ich bemerke einen dichten rabenschwarzen Haarschopf am Tisch links neben mir, riskiere einen Blick in ein offenes Gesicht, von Wind und Sonne gegerbte Haut, mindestens so alt wie ich, vielleicht älter. Auch er wirft mir einen Seitenblick hin, der mehr ist als ein Bemerken, der schon zu fragen scheint. Ein Blick, der gar etwas in mir erkannt zu haben scheint.

Mein Getränk sieht so dünn aus, wie Zitronensaft und ich schäme mich dessen ein bisschen, als der Franzose es zum Anlass nimmt, das Wort an mich zu richten. Was trinkst du da und ein ungläubiges „Ah, non“ auf meine Antwort hin. Doch, es ist Pastis, nur stark mit Wasser verdünnt – wegen der Hitze, füge ich entschuldigend hinzu. Er bestellt sich auch einen und fragt nach meinem Namen. Ein Name, der sehr deutsch klingt, sich aber in vielen Sprachen gut aussprechen lässt und dann sogar seine deutsche Sachlichkeit verliert, wie jetzt im Französischen. Er sieht mich wieder so ein bisschen ungläubig an, reicht mir die Hand und wiederholt meinen Namen. Ich bin Max, sagte er dann und wir müssen lachen, weil das schließlich auch ein deutscher Name ist und ich denke gleich, Max, das klingt wie ein kurzer Knall, wie eine Ohrfeige und fühle mich ein bisschen unwohl, weil ich weiß, dass Gunther bald kommen wird. Ich heiße eigentlich nicht Max, aber jeder hier nennt mich so, fügt er hinzu.

Wir trinken und er fragt, woher ich komme und wo im Ort ich untergebracht sei. Ich erzähle bereitwillig und ehrlich erstaunt über mein recht flüssiges Französisch, dass ich aus Frankfurt sei und hier in einem kleinen Häuschen oberhalb des Dorfes wohne. Lange habe ich nicht mehr als ein, bis zwei Sätze in dieser Sprache gesprochen, deren Klang mich sofort zurückversetzt in meine frühen Jahre mit Gunther, in der wir erste Urlaube ohne Eltern verbrachten. Urlaube am Meer, in denen wir uns ein Päckchen Mentholzigaretten kauften, das wir bis zum Ende des Urlaubs aufrauchten.

Oh, aus Deutschland. Ich bewundere die Deutschen, sagt Max und wir lachen wieder, weil er mir in der Aussage ein verstecktes Kompliment macht und gleichzeitig eine spöttische Ironie aufblitzt über die Nachbarn, mit ihrem Hang zur Disziplin und Perfektion. Ich denke, dass er sich ganz schön was rausnimmt und in diesem Augenblick fährt Gunther in unserem mattroten Wagen an der Terrasse vorbei. Er lächelt und sein meliertes Haar schimmert schön im Licht. Wir grüßen uns mit den Augen und ich bemerke wie er sich freut, dass ich da auf ihn warte und alle es sehen können. Max tut so, als habe er ihn nicht bemerkt. Das war mein Mann, sage ich. Ah non, quel domage, sagt Max, hebt in gespieltem Schreck die Hände und rückt mit dem Stuhl ein wenig von mir ab. Gleichzeitig streift er vertraulich meinen Arm und sagt: Ich wollte mich ja nur unterhalten. Wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Vielmehr wollte jeder von uns den anderen erkunden, diesem ersten Erkennen einer gewissen Verwandtschaft tiefer auf den Grund gehen. So unterschiedlich wir beide äußerlich auch wirken – er rau und verlebt, dunkel und ich blond mit einem in die Jahre gekommenen Kleinmädchengesicht – hat doch jeder beim anderen diesen Drang bemerkt, diesen Drang, den Menschen und den Dingen auf den Grund zu gehen, der ein Lebensmotor scheint. Mein Schreiben und offenes Sprechen. Sein Forschen unter dichten Brauen, das Fragen in seinen Bersteinaugen. Ich werde verlegen unter diesem Blick und flüchte in ein Lächeln. Ist er eifersüchtig? fragt Max. Nein, nicht sehr, sage ich. Mir fällt ein, was Gunter vorhin noch gesagt hat und ich schüttle den Kopf. Was? fragt Max. Ach. C’est drôle, sage ich. Als ich vorhin hinuntergehen wollte in den Ort, sagte mein Mann noch im Scherz: Lass dich nicht ansprechen. Also doch eifersüchtig, sagt Max.

Gunther kommt an den Tisch. Er trägt ein schönes helles Hemd mit kleinem Rautenmuster und wirkt sehr ausgeruht. Ich gebe ihm einen artigen Kuss – wir lächeln und auch bei ihm scheint eine Frage in den Augen zu stehen. Ich sehe ein wenig hilflos zu Max hinüber, da es offensichtlich war, dass wir gerade unser Gespräch unterbrochen haben. Er bemerkt das und begrüßt meinen Mann, stellt sich vor, fragt ihn, ob er Französisch versteht. Un peux, sagt Gunther und es ist sofort klar, dass er viel weniger versteht als ich. Max sagt, dass er mich sympathisch findet und dass wir uns nett unterhalten haben. Gunther lächelt höflich zurück, nickt. Ich geh’ mir ein Bier holen, sagt er und geht in das Lokal.

Ich bewundere euch, sagt Max. Ihr seid entzückend und ohne Atem zu holen, fügt er diese kleine Frage, die nur aus drei Worten besteht, hinzu und die in jeder Sprache die gleichen Gedanken als Hypothek im Gepäck trägt, genau wie diese anderen drei Worte, die der Frage meist um Jahre vorausgehen. Liebst du ihn? Mir entweicht ein kurzer verblüffter Atemstoß über diese Unverfrorenheit. Wie kommt er dazu, denke ich und gleichzeitig dass er wirklich in meinem Gesicht etwas gesehen haben muss und mit dieser Frage den Nagel auf den Kopf getroffen hat, denn das die Frage, die ich mir seit geraumer Zeit selbst stellte. Wobei die Frage, wenn ich sie mir stelle von dem Wörtchen noch begleitet wird. Ich nehme einen letzten großen Schluck von meinem verdünnten Getränk. Es schmeckt nun vollends schal, wie die eigene Zunge, wenn man morgens aufwacht. Ja, schoss es mir durch den Kopf, in unseren artigen Ferienaktivitäten lag an manchen Tagen auch so etwas Schalgewordenes, das aus der Wiederholung zu kommen schien. Als wir jung waren, waren diese Urlaube die größten Abenteuer unseres Lebens, weil wir alles zum ersten Mal taten, zum ersten Mal so weit weg fuhren von zu Hause, zum ersten Mal in einem kleinen Häuschen zusammenwohnten, zum ersten Mal zusammen kochten, zum ersten Mal abends nebeneinander einschliefen und morgens nebeneinander aufwachten. Dinge, die heute zu unserem Alltag gehören und kaum noch schätzen können.

Biensûr, sagte ich. Natürlich liebe ich ihn – er ist mein Mann, füge ich noch hinzu, als könne das dann gar nicht anders sein. Und jahrelang war das auch nie anders, bis, ja bis wann eigentlich? Das fragte ich mich oft und das war so eine Frage wie die nach dem Huhn und dem Ei. Ich wusste nicht mehr, was zuerst da gewesen war, eine Art Grundent-täuschung vom Leben oder diese Frage, die mich irgendwann ankam in der Zeit, als Melissa ihren Mann wegen eines anderen verließ, wegen eines anderen den sie nur zwei Wochen zuvor kennen gelernt hatte und bei dem sie sich vollkommen sicher war, so sicher wie nie vorher im Leben. Und von da an fragte ich mich, wie das denn eigentlich bei mir sei und ob es so ein Gefühl zwischen Gunther und mir eigentlich jemals gegeben hatte. Es war so lange her, dass ich es einfach nicht mehr wusste und dieses Nichtwissen machte mich genauso krank wie es die Gewissheit gemacht hätte. Wir waren jung gewesen und hatten alles miteinander entdeckt, bis wir alles voneinander wussten und es scheinbar nichts mehr zu entdecken gab. So fühlte sich das an, an diesen schalgewordenen Tagen, an denen wir es einander nicht recht machen konnten, obwohl der Himmel unvermindert blau war und wir in all der Schönheit traurig waren, traurig um dieses verlorene erste Mal des Sehens und des Liebens. Und dieses Bewusstsein war schlimmer, als sein Kleinmädchenblick zu verlieren, schlimmer als eines Tages diesen wissenden Blick über all das bei sich selbst zu entdecken, den Max gesehen haben musste.

Ah, non, sagte Max. Liebe, das ist Leidenschaft, das ist Schmerz und Kampf und Tod. Ich schüttele den Kopf und bedauerte, dass mein Getränk alle war. Neben diesen Tagen, die mit ihrem schalgewordenen Gefühl antreten, um den ganzen Rest des Lebens auch so erscheinen zu lassen, gibt es noch etwas. Es gibt diese kleinen Erlebnisse, dass wir zufällig in einen Ort kommen, wo gerade ein Weinfest stattfindet und unsäglich melancholische Musik auf einem Akkordeon gespielt wird und wir vor Freude zwei Kanister Wein kaufen, der uns zu Hause vielleicht gar nicht mehr schmeckt. Und dann gibt es noch diese vielen regnerischen Wintertage, an denen ich abends heimkomme und insgeheim darüber lächle, weil Gunther mich in der Tür fragt, wie viel Salz denn ins Nudelwasser kommt und ich sage zwei Esslöffel, wie immer.

Und ich sage zu Max, Liebe verändert sich, sage ich. Sie wird leiser, verständnisvoller, sanfter, tiefer – wenn es Liebe ist, füge ich noch hinzu. Max winkt ab, eine andere Lebensauffassung ist das, sagt er und redet sich fast ein bisschen in Rage. Ich bin krank, wenn ich liebe, elend, jedes Mal wieder. So wie bei euch, da ist doch kein Leben. Die Worte treffen mich hart und empfinde die ganze Wucht unserer abgekühlten Annehmlichkeiten. Ich hasse Max und weiß doch, dass seine Worte den Kern meiner inneren Verfassung an diesem Tage treffen.

Gunther kommt aus dem Schankraum mit seinem Bier und einer angebrochenen Schachtel Zigaretten, eine angerauchte in seinem schönen, geschwungenen Mund. Er setzt sich neben mich und sagt, ich weiß jetzt, welcher von den beiden Wirten Guy und wer Roger ist. Sie heißen tatsächlich so. Wir können das kaum glauben, weil Guy ein kleiner Dicker mit Schielaugen und Roger ein Schmaler mit gelber, faltiger Haut ist und beide trotz dieser schönen, majestätischen Namen ein bisschen aussehen wie gewohnheitsmäßige Trinker, die morgens schon am Büdchen stehen. Sie sehen nach Lebenskämpfen aus. Wie sie wohl geliebt haben?

Wir sehen hinüber zu dem Lokal, in das wir nachher zum Essen gehen wollen, beobachten wie der Wirt die Gerichte an die schwarze Tafel schreibt, fragen uns, wann wohl die richtige Zeit zum Hinübergehen sein würde und während Gunther seine Zigarette raucht, sage ich leise nach links hin, wo Max sitzt: Ich kenne diese Liebe von der du sprichst und ich denke an Melissa – sie kann einen verbrennen, bis nichts mehr da ist von einem.

Max zieht Luft durch die Zähne und nimmt einen Schluck Pastis. Der Wirt gegenüber tänzelt scherzend und singend mit den Gästen über die Holzterrasse, sein junger Gehilfe im bunten Hemd immer hinterdrein. Der Gehilfe ist schwarzhaarig und sehr hübsch, hübsch von allein. Der Wirt macht die fehlende Jugend mit seinem gepflegten Äußeren und echter Herzlichkeit wett. Auch eine Art von Liebe, denke ich und eine, die für den Älteren noch mal andere Qualitäten brint, Gelassenheit und Nachsicht.

Max empfängt eine schmale, blonde Frau mit ebenfalls gegerbter Haut an seinem Tisch und präsentiert sie uns als seine Freundin Jeanette. Das tut er mit einer gewissen Genugtuung. Er küsst sie und hält sie innig an beiden Händen, wie um eine große Nähe zu demonstrieren. Diese Gesten machen ihn mir nur weniger glaubwürdig. Wir wissen beide, dass wir weder unsere Unterhaltung, noch den Abend einfach so abgebrochen hätten, wenn wir allein gewesen wären.

Irgendwann stehen Max und seine Freundin auf und gehen ohne einen Gruß. Ich kann wieder ruhig atmen und lache mit Gunther über den Wirt gegenüber in Vorfreude auf das kommende Essen. Der schielende Kellner bringt uns zwei frische Biere und nimmt mein Pastisglas mit.

[Siehe auch >>>> dort.]

7 thoughts on “Max oder liebst du ihn. Der zweite Seminartext. Von Ingrid Walter. Zu kommentieren freigegeben.

  1. Beim Pastis kann man nicht bleiben. Doch was bleibt, ist kein Elend. Aber schlimm schaut es sich manchmal an – einander und im Spiegel. Dann wieder Lachen und ein frisches Treiben. Gut.

  2. Ungeordnete Gedanken Schöne Idee – das Leben wird in einer verdichteten, zufälligen Begegung befragt. Leider erklärt die Autorin zuviel, statt es einfach nur zu erzählen.

    Beispiel: Ich bewundere die Deutschen, sagt Max und wir lachen wieder, weil er mir in der Aussage ein verstecktes Kompliment macht und gleichzeitig eine spöttische Ironie aufblitzt über die Nachbarn, mit ihrem Hang zur Disziplin und Perfektion.
    Warum muß man die Ambivalenz des Kompliments noch erklären? Wäre es nicht an den Schriftsteller, diese zu erzählen, so dass der Leser selber spöttische Ironie und Werbung um die Person wahnimmt?

    Ich wollte mich ja nur unterhalten. Wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Vielmehr wollte jeder von uns den anderen erkunden, diesem ersten Erkennen einer gewissen Verwandtschaft tiefer auf den Grund gehen.
    Wieso wissen “wir beide” das?

    Ihr seid entzückend und ohne Atem zu holen, fügt er diese kleine Frage, die nur aus drei Worten besteht, hinzu und die in jeder Sprache die gleichen Gedanken als Hypothek im Gepäck trägt, genau wie diese anderen drei Worte, die der Frage meist um Jahre vorausgehen. Liebst du ihn?
    “Ihr seid entzückend und ohne Atem zu holen – Liebst du ihn?”

    Usw.

    Mein Einwand (der spontan daherkommt, ohne großes Nachdenken): Das Tempo des Augenblicks sollte sich in der Erzählung spiegeln. Die Reflexionen könnten dann beim Leser selber stattfinden. Derzeit zeigt sich das Geschriebene eher als zu behäbig, zu abgeklärt.

    Und über die Grundenttäuschung des Lebens würde ich gerne mehr erfahren (die Melissa-Geschichte ist unnötig).

  3. die altkluge perspektive der erzählerin geht einem natürlich irgendwann schwer auf die nerven. man erwartet natürlich nun irgendwas, was sie rausbringt aus dieser gleichmäßigen milde. man ahnt auch, da kommt auch noch was. so ganz nimmt man ihr natürlich auch nicht ab, dass sie diese abendlichtperspektive wirklich durchhalten kann. letztlich fragt man sich dann auch, müssen alle amour fou geschichten immer so beginnen?
    irgendwer musste josepha k aus dem gleichgewicht gebracht haben, als sie am donnerstag früh die scheidung wollte, taumelte wilhelm unglücklich gegen das gartentor. das auge war nicht mehr zu retten.
    man denkt eher an einen film, wenn man es liest. das muss ja nicht übel sein. ich denke dann aber auch, bitte jetzt den irrsinn einbrechen lassen, ganz schnell. oder jemandem en kalb zulaufen lassen. irgendwas, was nicht allein amour fou heisst, bitte bitte.

  4. Ich habe mich gefragt: WAS ist dieser Text? Ist er wirklich ein Auszug aus einem Tagebuch-Eintrag? JA! Dann möchte ich ihn nicht kommentieren, weil er für sich steht.

    Insgesamt wirkte der Text auf mich (als Leserin!) eher fiktional, vielleicht ein Auszug aus einem Romanmanuskript? Ich könnte mir gut damit den Beginn eines Romans vorstellen. Als Einstieg wäre dann die Begegnung mit Max noch stärker heraus zu arbeiten. Wenn es in dem Roman um den Konflikt der Entscheidung zwischen zwei Männern z.B. ginge oder um die Frage, ob man bei dem bisherigen bleiben möchte. Denkbar wäre aber auch, dass so der Ausbruch aus einem fest gefahrenen Leben beginnt, ein Seitensprung, eine Beziehung zu einem Geliebten…. also etwas in der Art. Auch eine Kurzgeschichte könnte ich mir vorstellen.

    Aus der Sicht der Leserin ist mir manches jedoch zu “spekulativ”, etwa im 6. Absatz, wenn es heißt: “Auch er wirft mir einen Seitenblick hin, der mehr ist als ein Bemerken, der schon zu fragen scheint. Ein Blick, der gar etwas in mir erkannt zu haben scheint.”
    Dafür möchte ich dann den Beweis haben, d.h. es müßte dann im Folgeabsatz oder danach ein Satz kommen, der das (was er in ihr erkannt zu haben scheint) unterfüttert, etwa weil dieser Max dann etwas “Anzügliches” oder “Zweideutiges” sagt oder weil er ihr unverblümt in den Ausschnitt (statt in die Augen) blickt (dies nur als Bsp., wie die Autorin es auflösen KÖNNTE)…. Solche “spekulativen” Stellen in Bezug auf diesen Max finden sich im weiteren Verlauf des Textes noch mehrmals.

    Ansonsten… sind einige sprachliche Unsauberkeiten drin, die es aufzulösen im Sinne von zu zeigen gilt, Bsp: “artiger Kuss” – was ist ein “artiger” Kuss? Einer den sie ihrem Ehemann auf die Wange hinhaucht oder einer, der mit spitz geschürzten Lippen flüchtig auf die Stirn gehaucht wird…. oder weil sie mit ihren Lippen nur flüchtig seine Wange streift.

    Was die Erzählerinnen-STIMME betrifft, gefiel mir der Text recht gut, im Gegensatz zu anderen Kommentatoren hier, und dies zeigt eben, dass die Lese-Geschmäcker verschieden sind und jede/r einen Text anders rezipiert. Meiner (subjektiven) Meinung nach steckt in dem Text noch wesentlich mehr drin. Es wäre durchaus reizvoll, das raus zu holen. Will sagen, je nachdem, was die Autorin damit vorhat, ein Nachbessern, Ausformulieren an der einen oder anderen Stelle würde lohnen.

    1. Dem kann ich mich anschließen. Ich wäre gespannt auf die weitere Entwicklung. Zumal der Max ja als Figur so gezeichnet ist, dass man sich denkt ola la….da ist noch nicht alle Tage Abend. Da sind noch nicht alle Messen gelesen, da ist noch Kaffee in der Kanne…etc… Und auch wie die Autorin nochmal darauf hinweist, wie frech, kurz und knackig Max klingt, Max, zack zack..und man als Leser denkt: Alle fahren mit der U-Bahn, ausser Gunter, der liegt drunter. Aber dass die Autorin extra nochmal darauf hinweist, wie knackig Max dagegen rüberkommt, lässt dann so eine gewisse Authentizität aufkommen ala – nee nee, die Geschichte ist nicht ausgedacht, der Name Max ist mir selbst sogar so stark aufgefallen, dass man das auch einfach nochmal erwähnen muss, nomen est omen. In Max steckt ja auch Maximus also groß usw… der Große..da kann man als Leserin sich seinen Teil denken und eine rafinierte Namensgebung reicht aus, und gleich läuft ein ganzer Film ab. Und dabei hat die Autorin auch noch das Klisché des “Frenchlovers” vermieden, der ja eigentlich Jean oder Pasqual heissen müsste.
      Bei ihr heißt er unerwartet Max.
      Raffinisert gelöst finde ich dabei den Verzicht auf einen französischen Namen
      Es ist auch insgesamt sehr stimmig, dass es dann ein schwarzhaariger Franzose ist, denn Franzosen sind ja bekanntlich so die erotischen Liebhaber mit Schmackes in den Lenden, die lassen auch mal alle fünfe gerade sein und geben sich ihrer Leidenschaft hin, und wissen Frauen auch einfach mal zu nehmen, das finde ich aiuch sehr genau beobachtet und sehr realistisch erzählt eigentlich.
      Und stark ist auch der Hinweis, dass er “in dieser Gegend” Max genannt wird.
      Ich will damit sagen: Hätte Max einen französischen Namen, wäre alles sehr hart am Klisché dran, aber so – mit Max – ist die Autorin der Falle ganz subtil ausgewichen. Klar weiterarbeiten kann man an so einer Geschichte immer.

  5. Jetzt kommt Leben ins Schreibzimmer Ja, was ist das für ein Text? Hört er dort schon auf? Ist es ein Anfang? Das wollte ich auch gern wissen, deshalb habe ich diesen Text für die Dschungel ausgewählt. Eine der drängensten Fragen in dem Seminar von Alban Herbst war: Wenn ich ein literarisches Blog eröffne, was kommt da genau hinein? Kommen “fertige” Erzählungen und Kurzgeschichten hinein und stellt man die Kommentarfunktion aus oder stellt man eben einen Text hinein, an dem man noch arbeiten möchte, bei dem man spürt, dass da noch einiges drinsteckt. Diese Frage ist für mich durch dieses kleine Experiment mit meinem eigenen Text jetzt ganz gut beantwortet: Die Möglichkeit durch das Netz am Unfertigen zu arbeiten und das Medium so in die eigene Arbeit einzubeziehen ist für mich die weitaus interessantere.

    Zu den Einwänden kann ich auch etwas sagen: Ja, Ich erkläre manchmal zuviel, das ist ein altes Leiden, irgendwie sind das wohl Sätze, bei denen ich mir selbst den Sinn klarzumachen versuche.

    Die zufällige Begegnung, die einen das Leben revidieren lässt, ja, das finde ich spannend, da möchte ich weitermachen.

    Die altkluge Erzählhaltung würde ich eher als ziemlich abgeklärt bezeichnen, schließlich ist die Erzählerin auch wegen dieser Haltung in der geschilderten Lebenssituation. Der Irrsinn muss einbrechen…ja, verstanden, es muss weitergehen mit der Geschichte.

    Nah am Klischee, finde ich auch spannend, besonders, wenn es um Liebe geht. Mich interessiert, warum wir alle so gern darauf hereinfallen, was ist denn daran?

    Ich freue mich über diese lebendigen und unmittelbaren Reaktionen zu meinem Text, schließlich ist diese Erfahrung im Netzt eine neue für mich…das selbst dann zu lesen, über den eigenen Text, von mir unbekannten Menschen geschrieben, irre. Diese Erfahrung zu machen, war wahrscheinlich einer der Hauptgründe, warum ich das Seminar besucht habe.

    Ingrid Walter

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