Wieder Verbeen: Arbeitsjournal. Dienstag, der 18. Mai 2010. Mit Azreds Buch auf der Burg Gurre. Direkt davor mein Ifönchen. Sowie danach Hentschels Mexikanische Roßkur.

6.04 Uhr:
[Am Terrarrium.]
Die Zwillingskindlein schlafen in „meinem” Bett; sie kamen nachts gegen drei Uhr herüber, und ich ließ sie. Ich hatte bis fast ein Uhr nachts anderthalb sehr schlechte Filme geguckt: >>>> anders als Cellini schau ich mir „Ballerfilme” und Härteres oft an; staunend über das Bedürfnis an gröbster Gewalttätigkeit, das es zu geben scheint, sonst wären die Videotheken damit nicht so voll. Es ist der Ausdruck für etwas objektiv in den Menschen Bestehendes, eine Art Ausgleich, denk ich, für etwas, das nicht laut werden soll, dafür aber bildhaft Laut wird. Man darf die darausschreiende Gewalttätigkeit nicht unterschätzen: sie füttert die Bereitschaft, Kriege mit sich führen zu lassen, es ist, fürchte ich, nicht nur ein ins Entertainment sublimierter Ausdruck des natürlichen Durchsetzungspotentials, das in der Sozialität allzu sehr gebunden wird; es ist mehr. Schließlich war ich angewidert und brach den letzten Film ab: Inszenierungen wie die „Saw”-Serie halte ich mittlerweile gar nicht mehr aus. Es sind aber „Renner”. So wenig heute morgen zum Sozialen.
Mitten in der Schlachterei, nachdem ich parallel mit شجرة حبة telefoniert hatte, kam mir ein lösender Gedanke >>>> zu Azreds Buch: Ich werde mein >>>> Hörstück über Verbeen zu einer Erzählung umbauen; es bedarf gar keiner großen Umstellerei, ich muß nur die dialogische Form etwas auflösen und den Text zu einer narrativen Montage formatieren; dann paßt er wie die Zunge in den Mund in diesen Band „Geschichten und Fiktionen”, zumal ein anderthalb-Stunden-Hörstück nirgendwo mehr wiederholt werden wird, einfach, weil es die Formate der langen Sprechstrecken beim Rundfunk längst nicht mehr gibt. Schon Imke Wallefeld hatte für den WDR gefragt, ob ich das Stück um eine halbe Stunde kürzen könne: das ist ein Drittel – um es, wie sie gern würde, in ihren Sender zu übernehmen und die Ausstrahlung zu wiederholen. Das scheiterte dann aber an der Redaktionskonferenz, die keinen Grund dafür sah, eine Fiktion auszustrahlen. Eigentlich will man Literatur, die man doch möchte, nicht: es stört das genuin Literarische an ihr, man hat es so gerne authentisch. Gut. An die Umarbeitung setze ich mich heute vormittag, bevor ich wieder >>>> zur Burg Gurre reite… radle, wenn Sie mögen.

Jetzt erst einmal die Kinder. Der Große zur Schule, die Kleinen in den Musikkindergarten, ich selbst danach kurz zum Hautarzt (meine Hände sind immer noch nicht in Ordnung, was mich ziemlich nervt); dann an den Schreibtisch in die Arbeitswohnung. लक kommt heute nacht aus Cannes zurück. Und als ich gestern dann endlich schlafen ging und mein Mobilchen, das ich fortan auch i-Phonchen nennen könnte, als Wecker stellte, erzählte es mir von 16 (!) verpaßten Anrufen. Keines davon hatte es gemeldet. >>>> Zagrosek gehörte zu den vergeblichen Rufern, auch Birkelbach, der Pressechef des Konzerthauses, er sogar mehrfach. Um ein Uhr nachts zurückzurufen, das allerdings, meine lieben und unlieben Leser, gehört sich nicht.

(Die >>>> Fuldaer Thalia-Buchhandlung hat Die Niedertracht der Musik bestellt. À propos: Morgen abend lese ich abermals in Berlin aus Selzers Singen; ich werde Ort und Zeit nachher gesondert annoncieren. >>>> Der Veranstalter nennt mich einen „Berliner Kultautor”, was viel Witz hat, wenn man daranhält, daß ich auf einer anderen >>>> Veranstaltung von „Autoren auf dem Prenzlauer Berg” nicht mal befußnotet bin. Seit sechzehn Jahren gibt es mich nicht auf dem Prenzlauer Berg. – Guten Morgen, Hühnchen & Hühncheriche.)

9.28 Uhr:
Es wird mir n o c h mehr Freude bereiten, in Zukunft statt von dem Bongartz (>>>> eine schöne neue Website hat sie) gedankten „Mobilchen” von „meinem Ifönchen” (hess.: „Ifönschn”) zu sprechen. Das ist beschlossen.

Von Barenboims Kindergarten zurück, auf dem Weg mit Zagrosek telefoniert; wir werden uns morgen zu den nächsten Gurre-Vorproben sehen. Die heutige Pressekonferenz im Konzerthaus spare ich mir, ich bin ohnedies immer direkt informiert. Jetzt hier zusammenpacken; Weiteres dann, wenn ich an meinem Schreibtisch sitze. (Hab in der UBahn, auf der Rückfahrt, wieder in Grimms Deutscher Mythologie gelesen und bringe dabei einiges mit der Wilden Gurre-Jagd schlüssig zusammen. Aber, wie geschrieben: mehr nachher).

12.21 Uhr:
[Arbeitswohnung. Arnold Schönberg, >>>> Gurrelieder.]
Zweieinhalb Stunden in der durchgefüllten Arztpraxis gesessen. Aber die Zeit gut mit Jacob Grimm, als „Gurrezeit” nämlich, gefüllt; von dort aus jetzt noch Abstecher in den Deutschen Aberglaube sowie zu Ranke-Graves, von dem ich mir die Antwort auf ein paar Detailfragen erhoffe. Vorher will ich aber noch die Veranstaltung von morgen abend annoncieren, und auf eine Email ist zu antworten, die mich vorhin zu >>>> MEERE sowohl erreicht wie sehr gefreut hat. Außerdem ist, bevor ich mit Insel und Burg Gurre weitermache, die letzte Azred-Erzählung fertigzustellen.
Espresso. Cigarillo. Um halb drei kommt mein Junge zum Essen.

14.01 Uhr:
Die letzte Azred-Erzählung ist fertig und hinausgeschickt. Bis eben habe ich dran gesessen. Wird einige Friemelei beim Setzen sein, da es portugiesische, niederländische Stellen und auch ein Gedicht auf Farsi darin gibt (Übersetzungen in den Fußnoten; ich war ihretwegen erst im Zweifel, aber daß man die Texte versteht, ist für die indirekt erzählte Handlung wichtig; die paar englischsprachigen Stellen habe ich hingegen unübersetzt gelassen).

21.30 Uhr:
[Am Terrarium.]
Warten auf लक, um 22 Uhr lande, heißt es, ihr Flieger, gegen 23 Uhr wird sie dann hiersein. Ich nehme mal an, nach einem kleinen Plausch werde ich dann in die Arbeitswohnung zurückradeln.
Der Nachmittag verging wie ein Fingerschnippen, nachdem mein Sohn erst um halb drei aus der Schule kam, mit mir zusammen saß, ich dann meinen Mittagsschlaf machte und quasi gleich nach Aufstehen und Espresso losschießen mußte, um die Zwillingskleinen abzuholen. Der Einkauf sodann, darauf das Terrarium richten, beide Kinderzimmer und die Küche in Ordnung bringen, wobei die Kleinen tatsächlich zum ersten Mal, nach etwas Mucken, zugegeben, ihr Zimmer nun ja: fast alleine aufräumten, der Große saugte sogar alleine auf. Jedenfalls sieht hier jetzt nicht mehr so aus, daß man, kommt man aus der Glamourwelt heim, sogleich auf dem Absatz kehrtmachen möchte. War mir wichtig. Und mein Sohn hat ein wirklich ausgezeichnetes Bild gemalt, mit Acryl, für die Rückkehr seiner Mutter. Das liegt schon neben einer Flasche Rotwein, die ich noch besorgt und zum Atmen auch schon entkorkt habe, auf dem Wohnzimmertisch.

Zu Gurre bin ich bei alledem dann doch nicht mehr gekommen. Außerdem habe ich mich festgelesen. Normalerweise vermeide ich es, Bücher von Kollegen zu lesen, die mit mir zusammen in einem Kleinverlag erscheinen; das Risiko späterer Unstimmigkeiten, Unwohlheiten usw. ist mir zu groß, da ich ja doch immer sage, was ich denke, da ich so überhaupt kein Taktiker bin. In diesem Fall reizte mich aber schon der Titel zu sehr. Und in der Tat: Henky Hentschels >>>> „Mexikanische Roßkur” lohnt sich, und zwar trotz der neuen deutschen „Recht”schreibung und einiger Satzfehler, die sehr vermeidbar gewesen wären. Eine klare, knapp erzählte Geschichte, ein Road-Movie bislang, ich bin erst auf der 40sten der 111 Seiten, werde jetzt weiterlesen, bis die Tür geht. Angenehm, daß der Verlag unter die Reiserzählung nicht „Roman” geschrieben hat. Das wäre es nämlich n i c h t, ist es nicht. Aber eine Erzählung ist es. Gut und bildreich geschrieben, man fährt mit dem Buch mit. Seine literarischen Helden verschweigt Hentschel dabei nicht: Hemingway und Lowry, die in der Tat besser schrieben als er, radikaler, jedenfalls nach Stand der S. 40, sowie Bukowski, der schlechter als er schrieb, viel schlechter. Hentschels Buch ist wie ein guter Spielfilm, der nicht zu den besten gehört, die je in dem Genre gedreht wurden, aber zu den guten.
Dazu ein Ardbeg. Und immer wieder in die Küche, um zu rauchen.

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