Regen. Das Arbeitsjournal des 30. Augusts 2010, eines Montags. Mit Bemerkungen zu SALT und TWENTYFOUR, Achte Staffel. Kim dazu und die Maschinisierung. Dazu arkadisches Latein.

9.17 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Die Freunde, alle, beruhigen mich. Manchmal brauche der Körper das. „Nimm dir vor, zwei Stunden täglich zu arbeiten, im übrigen laß dich treiben. Man kann nicht immer nur unter Hochdruck stehen.” So der Profi. Ich aber denke: man muß, jedenfalls i c h muß. Nein, ich muß nicht, aber ich sollte. Antriebsschwäche ist ungut: Ich gehöre nicht zu den Menschen, die der Betrieb auffangen wird. Im Gegenteil. Was ich heute bin, d a ß ich bin, ist einer permanenten, sehr entschiedenen Kraftanstrengung zu verdanken; hätte ich diese Kraft nicht besessen: was immer ich schrieb, es wäre vergessen, und d i e s e n Reim laß ich stehen. Also brauche ich den Griff in meinen Zopf, um mich aus dem melancholischen Sumpf zu ziehen. Auch wenn ich gar keinen binden kann. Ich weiß dennoch, daß das geht, die Welt mag dagegenhalten, was sie nur will. Nur geht’s offenbar momentan nicht. Das Bizarre daran ist, daß mir das in einer Zeit geschieht, da ich nach vielen Jahren einmal nicht mehr existentiell gefährdet bin. Dazukommt, selbstverständlich, daß meine Idee einer Familie zerbrochen worden ist; imgrunde schon seit zwei Jahren; wenn ich aber ehrlich bin, was „wahr” bedeutet, „nüchtern”, dann schon seit vieren, wenn nicht sowieso schon seit achten. Dann nur immer wieder vorübergehende Konsolidierung, schließlich der Schnitt, den ich nun endlich tat, der aber, für die Kinder, nicht so klaffen und schließlich zwei einander fremde Gewebe entstehen lassen kann, nicht sich verhärten lassen kann, wie ich das für mich bräuchte. Ich bin, auch für die anderen Kinder, zu intensiv, zu überzeugt, ein Vater, um sie alleinezulassen, wenn sie rufen. Ob sie nun genetisch die meinen sind oder nicht. Sie haben gerufen. Sie rufen weiter. Das ist das nächste Lehrstück, mein lebenshärtestes bisher, in Ambivalenz. Aber ich habe, anders als bei meinem Sohn, kein Sorgerecht; ich kann ihnen die Sicherheit zu vermitteln versuchen, daß ich für sie da bin; bei Entscheidungen aber habe ich allenfalls eine nicht stimmberechtigte Beratungsfunktion. Das ist, neben meiner Stellung im Literaturbetrieb, eine weitere Entmächtigungsdynamik, mit der ich umzugehen lernen muß. Ich bin nicht sonderlich strategisch… (Die Löwin: „Strategische Menschen sind nie authentisch.” Ist aber denn Authentizität wirklich ein Wert? Das ist eine Lebensentscheidungsfrage, aber vielleicht gar nicht so sehr Entscheidungen zugänglich, ja sehr wahrscheinlich sogar nicht; wahrscheinlich ist, ob einer authentisch zu sein wagt, allein eine Frage von Prägung und – wichtig! – Mentalität. Stang sagte: „Sie sind einer der großen Virtuosen der Gegenwartsliteratur, aber fast alle im Betrieb, die eine Bedeutung haben, schlagen das Kreuz, wenn ich Ihren Namen nur nenne.” Egal.)
Gut tut mir >>>> diese Niebelschütz-Diskussion. Sie erlaubt mir, meine Position schon mal vorabzuformulieren, auch noch einmal zu durchdenken. Wahrscheinlich setze ich mich übermorgen in der Serengeti hin, wohin ich reisen will auf fünf weitere Tage, und schreibe den Artikel dann in einem Zug nieder. Hoffentlich. Ich steh ja im Wort. Jedenfalls bisher… Video-Orgien, Filmorgien. Eben hatte ich den Gedanken, daß sie für mich eine Rolle spielen wie Halluzinogene für andere Autoren spielten; jedenfalls spricht ihr Suchtcharacter dafür. Ich fand im Netz der Anderswelt (http://fiktiv.ba, wobei “ba” ganz sicher >>>> für Buenos Aires steht) >>>> eine Adresse, über die sich auch zur Zeit noch laufende Filme online ansehen lassen, als qualitativ akzeptable, bisunter sogar gute Streams. Man wird nach 72 Minuten allerdings rausgeschmissen und soll dann bis zum Weitergucken 54 Minuten warten. Der Trick, das zu umgehen, ist einfach: Sie fahren den Computer kurz runter und nehmen kurz den Router vom Netz. Verbinden ihn wieder, fahren den Computer neu hoch, dann haben Sie eine neue ID und können einfach weitergucken, wenn sie den Stream neu geladen haben; man muß sich nur die Adresse merken. So sah ich jedenfalls gestern nacht „Salt”. Ich schaue Filme mit der Jolie mit positivem Vorurteil. Hier ist es mir unverständlich, aus welchem Grund >>>> Daniel Sander so im KulturSPIEGEL schwärmt. Der Film ist über weite Strecken schlichtweg öde, ergeht sich in Autorasereien, hat im übrigen ein plumpestes Agentenbild; vor allem zeigt die Jolie auch nicht den Hauch ihres schauspielerischen Könnens; da sie zudem durch den gesamten Film nicht nur bar jeder Erotik ist, sondern auch asexuell wirkt und sie der Regisseur die einzige Szene schauspielerisch völlig vertun läßt, in der sie die Chance gehabt hätte, mimische Präsenz zu zeigen, bleibt nach dem Ansehen nur die Leere eines entseelten Entertainments. Es geht um die Szene, in der die Agentin es tarnungshalber aushalten muß, daß vor ihren Augen der Mann, den sie liebt, exekutiert wird. Was hätte eine Großaufnahme nur des Gesichts von Romy Schneider daraus gemacht! Bei der Jolie ist da nur Maske. Was bin ich dankbar dafür, für diesen Film nicht ins Kino gegangen zu sein… – Anders dann, auch das entdeckte ich, die achte Staffel von Twentyfour. Die – sehr berechtigte – Diskussion über Folter einmal beiseite: Von dem allzu offensichtlich dämlichen neuen Direktor der CTU abgesehen, sind hier alle naslang mimische Höhepunkte, querdurch die Besetzung, auch wenn Kiefer Sutherland unterdessen so sehr Jack Bauer geworden ist, wie Christopher Lee einmal Dracula war und das imgrunde bis heute noch ist; wir können uns auch William Shatner ja nur noch als Cpt. Kirk vorstellen, so, wie wir, wenn wir Christian Brückner hören, nur noch Robert deNiro sehen. Fünf Folgen sah ich; als ich zu Bett ging, war es drei Uhr nachts. Was mich allerdings reitet, zwischendurch immer wieder mal in Kiplings „Kim” zu schauen und Niebelschützens Aufsätze zur Literatur parallelzulesen, weiß ich nicht. Unterbewußt (das Wort ist heikel, das ist mir bekannt) scheine ich d o c h irgendwie zu arbeiten -: scheint e s zu arbeiten: ich selbst bin davon ausgeschlossen.

Eigentlich hatte ich heute nachmittag schon in die Serengeti fahren wollen; jetzt muß ich auf morgen warten, auf Post nämlich warten: sowohl für Niebelschütz wie in einer rechtlichen Angelegenheit, die meinem Jungen zugutekommen wird. Außerdem will ich für meinen Jungen heute noch kochen: acht Stunden (!) Schule hat der zehnjährige Bub, und nachmittags obendrei Cellostunde. Bei seiner Freundin wiederum läßt die Schule den katastrophalen Unfug durchziehn, daß die Kinder von der siebten Klasse direkt in die neunte kommen; die achte soll übersprungen werden. Bitte sage mir jemand, wo die organische, eine menschlich wachsende Bildung da bleibt; man hat ja zudem den Gymnasialgang von 13 auf 12 Klassen heruntergefahren. Sehen wir der Abschaffung des Humanismus tatsächlich widerstandslos zu? (Ich habe zunehmend Fantasien von All-Überwachung, von All-Funktionalisierung, von digitaler Maschinisierung des Menschen; je mehr sie von erlangter Freiheit sprechen, desto kleiner wird sie. Wir, auch ich, machen das freiwillig mit.)

Ich bin Zeuge: Von 19 Uhr abends bis heute früh um sieben regnete es unausgesetzt, schüttete, goß. Manchmal denke ich, daß, als man mich zeugte, sich >>>> die gerufene Seele zu weit nach Norden verirrt hat; wahrscheinlich geriet sie in einen dieser Regen hinein und pladderte mit ihm in meine Eltern.

14.34 Uhr:
Immerhin sind zwei der Niebelschützbücher angekommen, die frühen aber noch nicht. Jedenfalls das kleine Provence-Büchlein, das sich wie eine Landschaftsrecherche zu den Kindern der Finsternis liest; in der Tat gibt es hintendrin eine Karte der Provence, die ziemlich genau die Umrisse, Stadtlagen und Flußläufe jener Karte haben, die Niebelschütz selbst für seinen Roman gezeichnet hat; nur daß er alles umbenannte. Welch ein Stutzen aber, als ich das Arkadien-Buch aus dem Schuber zog und aufschlug: P e n t a m e t e r! man faßt es nicht; Niebelschütz hat seinen Reisebericht, den er eine „Respektlose Epistel an die Freunde” nennt, im antiken Versmaß geschrieben. Weshalb „respektlos”, das wird sich wohl weisen. Doch nicht nur das. Sondern das Buch hat durchaus genau den Umfang meiner Bamberger Elegien. Wie seltsam! Wie auf verbindende Weise aber eben erschreckend auch.
Noch habe ich nicht gelesen, nur geblättert –
Auf dem Schmutztitel Arkadiens eine Widmung mit seltsam lateinischem Motto; jedenfalls lese ich In memoriam avum patriumque, was, hieße es In Erinnerung an Onkel und Vater, einen grammatischen Fehler trüge; vielleicht fehlt aber ein i, oder ich kann es nicht lesen. Dann Leser, dann… fänden wir die eigenwillige Zueignung Zur Erinnerung an die Vögel und Väter, was

ah, mein Junge kommt! Es gibt Schnitzel und Rotkohl und selbstgestampften Kartoffelbrei…

15.54 Uhr:
… ja nun nicht völlig ohne poetischen Wert ist. E., den ich, über dieses Latein irritiert, anschrieb, antwortet nun: „Gut möglich, dass der Autor (Niebelschütz selbst?) eine altlat. Kurzform gewählt hat, um das rituelle bzw. weihevolle dieser Widmung zu unterstreichen. Geläufig sind mir die Formen nicht, können aber nichts anderes bedeuten als dass er das Werk seinen Großvätern und Onkeln (Vaterbrüdern) widmet.” Ich habe das Buch aus dem Antiquariat, die Widmung stammt n i c h t von Niebelschütz, sonst hätte ich auch nicht nur dreifuffzich bezahlt. Denke ich mir.

So, ich werde mal zu lesen beginnen.

(Nicht zu fassen, wer mich gerade besucht hat. Welch eine Welt. Und wie sie sich dreht.)

6 thoughts on “Regen. Das Arbeitsjournal des 30. Augusts 2010, eines Montags. Mit Bemerkungen zu SALT und TWENTYFOUR, Achte Staffel. Kim dazu und die Maschinisierung. Dazu arkadisches Latein.

  1. Werter Herbst, ein kleiner technischer Hinweis zu den Anderswelt-Streams: Das beschriebene Problem können Sie wiederum noch einfacher komplett umgehen und zeitgleich zudem die Qualität des Geschauten erhöhen. Schauen Sie sich die Sachen nicht über Brandoload an, sondern über einen der externen Divx-Hosts, die Sie finden, wenn Sie auf “Mirrors” klicken (am besten funktioniert die Methode mit den Anbietern “Dattelup” oder “Kicherstream”), installieren dann im Firefox folgendes Add-on [ https://addons.mozilla.org/de/firefox/addon/3006/ ] und laden sich die entsprechende .avi-Datei einfach direkt auf den Desktop, wo Sie sie dann wunderbar per VLC-Player anschauen können. Das klingt jetzt etwas umständlich, ist aber auf die Dauer tatsächlich die angenehmste Methode, ich spreche da aus Erfahrung. Und legal ist es auch noch, da Sie ja selbst keine Filme anbieten. Ach ja, ein weiterer Tipp zur Qualität: Warten Sie, bis die Filme auf DVD erschienen sind, zumeist stehen sie dann kurze Zeit später in entsprechender Qualität online. So, genug der Nerderei, muss jetzt noch einen Film gucken gehen… 

    1. @zak. Danke für Ihre Bemerkungen. Nur ist mir der von Ihnen angegebene Link ganz unbekannt, und ich war doch eben sehr erschrocken, als ich ihm folgte, weil ich wirklich nirgendwohin kam. Ist Ihnen vielleicht ein Fehler bei der URL unterlaufen?
      Ich selbst sehe Filme fast immer aus der Videothek oder aber über ein ganz anderes Netzwerk der Anderswelt, worin >>>> ein Hoster aus Buenos Aires – jedenfalls nehme ich diesen Standort an -, nämlich ein Kino in Toronto (Buenos Aires.to) am offenbaren Rand der hiesigen, nicht aber der dortigen Legalität agiert: http://fiktiv.ba. Da sich dieses also im Bereich der Phantastischen Literatur abspielt, mag es angehn. Tatsächlich bekam ich eben den Anruf einer Juristenfreundin, mit der ich das Netzwerk diskutierte. Wir leben ja in – ich sag es mal s o – einer Zeit.

      Lächelnd,
      Ihr ANH. 

    2. Oh, da frage ich mich nun aber auch, wo denn dieser Link da bloß herkam. Leider kann ich meinen Kommentar nicht mehr bearbeiten, könnten Sie dies vielleicht für mich tun?

      Ebenfalls lächelnd,

      zak 

    3. @zak. Das wäre enorm viel Arbeit; vor allem müßte ich das als Sie-Gast machen; insofern: es lohnt sich, sich als Kommentator zu registrieren, weil sich die Kommentare dann immer auch bearbeiten lassen. Zudem habe ich die Links ja gar nicht, die Sie meinen. Kompliziert. Nur: Was, liebe(r) zak, ist mit Ihrer Site geschehen? Ich bin doch jetzt sehr froh, daß Sie diesen Crash offenbar geistig gesund überstanden haben. Es gab doch ganz sicher Verletzte, Tote vielleicht… Oder liegen Sie im Krankenhaus und sehen diese Filme, um sich vom Elend abzulenken, aus der Anderswelt?

  2. zu 15:54: “nicht ganz ohne poetischen Wert”, aber leider auch nicht ganz korrekt, was E. dort mitteilt. “in memoriam” wird als formel tatsächlich regelmäßig mit dem akkusativ verwendet, was sich E. – hätte er einen moment nachgedacht – sogar aus dem deutschen hätte herleiten können, denn auch da ist es noch so. heißt es doch

    in memoriam Wolf v. Niebelschütz

    und nicht

    in memoriam Wolf v. Niebelschützens,

    nicht?
    kurzum: einem großvater und einem onkel wird hier gewidmet, wenn man statt “patrium” “patruum” liest.
    besten gruß an E., er möge etwas mehr nachtschlaf einplanen, um bei so etwas fürder nicht zu “schlafen”.

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