Das Nichtarbeitsjournal des Sonntags, dem 29. August 2010.

9.26 Uhr:
Bei uns im kaltdeutschen Lande zeigt sich eine Idee Gerhard Kellings, ist mein Eindruck: nicht die Zeit bewege sich, sondern sie ist ein Raum (also ist jede Zeit immer schon da), durch den wir uns bewegen; neu ist: der Kalender bewegt sich mit uns. Das erklärt den Eindruck >>>> eines zu frühen Herbstes. Tatsächlich i s t bereits Herbst; wir und unser Kalender sind schon längst da, wir haben Siebenmeilenstiefel an, nur reißen wir die Blätter zu langsam ab. Ich kann Ihnen, so hoff ich, versichern, daß, wenn wir den August hinter uns haben, Kalender und Jahreszeit wieder synchron sein werden.
So gesehen, b i n ich zwar längst >>>> „resetet”, aber in meiner eigenen Gegenwart noch nicht ganz angekommen: es steht zu befürchten, daß „noch nicht ganz” ein Euphemismus ist. Um mir das Geschehen vor Augen zu halten (ich lebe ungern unbewußt), seh ich dauernd >>>> Fringe. Dann nahm ich spannendweise Rudyard Kiplings „Kim” zur Hand, doch blätterte nur durch die Sätze. Ich schlief am Bildschirm fast ein, da war es zwei Uhr nachts. Wenn ich mir jetzt vorstelle, ich solle etwas planen, werde ich schon wieder müde. Überhaupt schlafe ich zu viel. Ich habe momentan gar keine Lust zu kämpfen. Muß das alarmieren? Sind der Grund die vielen fast bereits realisierten Vorhaben, die zu vielen? Als wäre das je für mich Kriterium gewesen, nicht eher g e r a de Motivation! Vier neue Bücher werden bis zum kommenden Frühjahr erscheinen, aber nur eines davon ist bereits angemessen zuendebearbeitet worden, die anderen warten. Dazu >>>> der Artikel zu Niebelschütz, die Rezension der Hörstücke Bernd Leukerts, aber auch wieder das unbedingte Gefühl, weitere Gedichte zu schreiben, ja das drängt sich v o r: es will ein schweifendes, nicht ein zielgerichtetes Leben, wie es das meine bislang immer war. Umdenken, Umfühlen, aber mitten in der Fahrt? Abspringen? Ich bin mir nicht sicher, ob das so etwas wie Erschöpfung in mir ist, etwas wie Aufgeben oder nicht sogar >>>> rentenneurotisch. Zur Selbstberuhigung sage ich mir, daß ich solche Zustände in meinem Leben immer mal wieder durchgelebt habe. Ich erinnere mich an eine mütterliche, in ihrem Beruf hochengagierte Freundin, die prinzipiell, sowie sie Ferien hatte, krank wurde: meist ging das bei ihr mit einem kompletten körperlichen Zusammenbruch los. Als ich sie kennenlernte, hatte sie vor Ferien geradezu Panik.

>>>> Fest der Kurt-Wolff-Stiftung heute nachmittag im Literaturhaus Berlin; eigentlich wollte ich dort hin. Aber ich vergaß das und verabredete, daß ich die Zwillingskindlein nähme. Nehm ich sie einfach mit ins Literaturhaus? Sehen lassen sollte ich mich dort einmal wieder, schon aus beruflichen Gründen. Doch meine Lust ist gering. Man muß das eine scharfe Antriebsschwäche nennen.17.17 Uhr:
Niebelschütz->>>>Diskussion; es ist ganz gut, wie sich hier die Voreingenommenheiten öffentlich präsentieren: etwa, des Dichters Spektrum sei „beschränkt”; das klingt, als hätte der Kommentator vielleicht den Kammerherrn, nicht aber Die Kinder der Finsternis gelesen, vor allem, weil er – stilistisch – Niebelschütz Golo Mann entgegenhält; wo d e m eine solche St ildifferent wie zwischen den beiden genannten Romanen gelungen ist, wäre zumindest zu belegen, um von Niebelschützens anderen Arbeiten, etwa den Vorträgen zur Dichtkunst zu schweigen, und von der Lyrik, die ich aber selbst noch nicht kenne.
Im übrigen liegt wieder der Kipling hier. Wiederum „Kim”. Und mein Junge sitzt da und führt endlich mal ein lateinisches Vokabelheft; das englische soll er morgen/übermorgen anlegen, damit er heute noch etwas Zeit hat. Cello muß auch noch geübt werden. Meinen Besuch im Literaturhaus habe ich geknickt, das klappt nicht mehr.
Einiges mit der Löwin geskypt, meine Stimmung ist ziemlich gedrückt, hellt sich zwischendurch mal auf, ganz genauso wie draußen der Himmel, fällt aber mit ihm immer wieder ins Graue zurück. Dann regnet es wieder. Es zieht mich nach Süden, aber Hand aufs Herz: was sollte ich da? Meine Sprache ist Deutsch, keiner anderen werde ich jemals so nah sein, also auch nicht anderen Menschen. Wäre ich Musiker, es wäre anders. Bin ich aber nicht. Ach, mein Cello. Auch das ist auf einer Strecke geblieben, die ich einfach zu spät befuhr: Menschen wie ich haben keine Hobbies; was sie tun, tun sie völlig, oder es stirbt.

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