Nach Manon: Das Lesungs- und Puccinis Krausserjournal des Montags, dem 14. November 2011. Aus Misona vor Paderborn. Und in Paderborn: abends.



Das Leben hält die sonderbarsten Überraschungen bereit,
und wenn ich auch überzeugt bin, am Ende rechtzubehalten,
schaudert mir vor den Möglichkeiten,
die gut organisierte Schweine zu Lebzeiten besitzen.

Giacomo Puccini bei >>>> Krausser, Gärten 185.
6.16 Uhr:
[Kassel, Misona 88.]
Bis hierher bin ich gestern gekommen und dann, sagte man früher, abgestiegen. Es war eine lange Fahrt in, der reisenden Menge wegen, zu engen Abteilen. Aber ich las, brachte >>>> Eros zuende, begann Puccinis Gärten. Wie Cori aus des Komponisten Leben hinausintrigiert wird (und er läßt sie hinausintrigieren), ist ziemlich schmutzig. In diesen Partien schmerzt mich das Buch, das ich im übrigen, wie bereits Melodien und Eros, teils hoch fasziniert, teils milde meditierend, teils auch eitel selbstprojezierend, lese: die aus manchem Nebensatz schimmernden Identifikationen Kraussers übertragen sich auf mich, wobei auch das wieder ein projektiver Akt ist – so, wie der Möglichkeitenraum in der von Krausser erfundenen, in ihrer Leisenis schmerzlichen Abschiedsszene auf dem Ponte Vittorio Emanuele:Eine Pause entsteht. Für beinahe zehn Minuten starren beide in den Fluß, als sähen sie unten, auf einem Schleppkahn, den großen Konjunktiv vorübertreiben, das Leben, wie es hätte verlaufen können.
Ich bin um halb fünf aufgestanden, habe das Mädel geweckt, das bis da neben mir schlief, eine Angestellte des Hauses, von der ich mir nicht sicher bin, ob es sich nicht sogar um eine Haustochter handelt, derart klein ist der Betrieb. Ich nenne sie aber Manon, nannte sie gleich schon so, wohl weil ich >>>> das Hörstück der Lescaut widmen möchte.
„Ob ich schon einen Kaffee bitte bekommen kann?“
Sie brauchte eine halbe Minute, um sich zu besinnen: Wer bin ich, wie komm ich hierhin, wer ist dieser fremde Mann? Wie wir an- und schließlich ineinandergerieten, weiß ich aber auch nicht so recht mehr im Detail.
„Es ist sowieso besser“, hauchte ich in den Duft ihres jungen Frauenhalses, den die linke Schlagader in filigransten Quasaren vapomimisierte, „wenn du verwehst, Manon – niemand soll dich finden.“
Sie hatte nachts geklopft, es war schon nach halb zwei Uhr, ich hätte keinen Anschluß nach Paderborn mehr bekommen; – ob ich noch etwas brauchte? und war dann geblieben – eben weil ich sie, ohne zu fragen, mit Manon ansprach? „Würden Sie, Manon, bei mir bleiben?“ Keine Erklärungen sonst, keine Versicherungen, sowieso, und ihrerseits keine Bitten. Nur Haut, Feuchtigkeit an Haar, so, wie sich Otter ineinanderrollen, um zu schlafen, die Schnäuzchen je in der/s andren Bauchfell. Ich brauchte das sehr, nach dem Seminar, bei dem sich anzustrengen war, ein Lehrer zu sein, der nicht mitspielt, vielmehr die Amoretten nur betrachtet, die sich balgen.
Um Manon nicht zu beleidigen, legte ich – aufgestanden, kurz ins Bad gegangen, zurückgekehrt und die schmale Schlafende momentlang betrachtet – zwei Fünfziger auf das Tischchen gleich neben der Tür und einen abgeknickten Margueritenkopf darauf, den ich von den Blumen in der Vase nahm, die auf dem Fensterbrett steht. Als sie dann mit dem Kaffee kam, Kännchen, Tasse, Dosensahne, war das Geld schon wortlos fort. Ich saß bereits und las. Mein WeiterZug geht erst mittags, 14.02 Uhr. Vielleicht bekomme ich das Buch bis dahin durch, dann will ich noch mal an die Tagebücher und ab morgen, bereits wieder in den Zügen nach Berlin, mit der Niederschrift des Typoskripts beginnen. Die Löwin wird dasein, vielleicht schon mich erwarten, nach Berlin von Wien gereist. Sie grollt immer ein wenig über meine ihr entzognen Nächte; doch es gefällt ihr, daß ich sie habe und nehme, hat und nimmt sie, denk ich, selbst, dem mir das ganz ebenso gefällt. Sind wir gut drauf, erzählen wir uns. In aller, versteht sich, Dezenz. Eine Form der Lebensliebe, freier Menschen würdig.

Daran, daß Helmut Krausser einer unserer – Ihrer, Leser:innen, auch – großen Schriftsteller ist, kann ein Zweifel gar nicht bestehen. Man muß nur dreivier dieser wie nicht für, sondern aus der Ewigkeit geschriebenen Sätze lesen, um das zu spüren; alleine Boshafte wolln das vergällen – boshaft aus Not, wahrscheinlich, vielleicht aus Neid, der aber auch ja Not ist, ein Ausdruck von Not, oder weil, was gleichfalls der Not entstammt, man sich vor solch einem Ausnahmedichter fürchtet, Konkurrenz, was immer, – vor allem die moralische Freiheit, ich kenn das gut, wird gefürchtet. Ich hab mich nun eingearbeitet genug, um selbst dort, wo ich selbst manches manchmal gar nicht mag oder verstelzt erzählt finde oder, wie in >>>> Thanatos, auch über weite Strecken öde, – um selbst dort noch sagen (in mir, immer wieder, ausrufen) zu müssen: meine Güte, welch eine Größe! Wenn einem, der so viel Arbeit jetzt schon hinterläßt, und der Mann ist ja noch ziemlich jung, einmal was danebengeht, dann begreife ich das als eine Gehetztheit der Produktivkraft, auch als Ringen, als einen Kampf mit dem Material und auch als Spur, die eben nicht zur Leichtigkeit, einer wohlfeilen, entstellt, als einen Akt des Gegen-Entertainments, wie etwa Kraussers Macke, allzu oft, nervig oft, jene, jener, jenes zu schreiben, wo der einfache Artikel genügte oder meinethalben einer des Demonstrativs. Das sind alles Beckmessereien, davon genervt zu sein, geschweige, das auch noch auszudrücken. Und diese Angst vor dem Pathos, in der so viele Kritiker leben, oder die Wut darüber, daß Krausser sich, fühlt er sich ungerecht beurteilt, wehrt, bzw. daß er damit, sich zu wehren, droht.
Muß alles rein in das Hörstück, irgendwie. Dieses Irgendwie bereitet mir noch Unbehagen, aber wenn ich erstmal dranbin, werd ich‘s einfach runterschreiben, ich denke: wie aus einem Fluß. Problematischer wird die Produktion sein. Ich bin mir immer noch unsicher, ob mit Studio oder ohne. Vielleicht lasse ich mir das ARD Hauptstadtstudio für einen Vormittag buchen, nur zur Sicherheit, wahrscheinlich für den kommenden Montag. Dann werde ich vier volle Tage haben, um das Stück zusammenzubauen, mit allen Musiken usw. >>>> Die Ausstrahlung wird an einem Mittwoch erfolgen, so bleiben Montag und Dienstag für Korrekturen.
Die Löwin, gestern am Telefon: „Du wirst immer dann gut, wenn dich eine Frau inspiriert. Frauen und Musik.“ Daß ich dann im Zug >>>> beinah dasselbe bei Krausser in Puccinis Gärten las!

Weiterlesen, >>>> Zweites Buch: Sybil. (Arme Cori. Wie meine Manon. Ich hin mir sicher, sie, Manon, Coris wegen genommen zu haben – ist sie doch, nehme ich jedenfalls an und füge ein „fast“ rechtshalber bei, ebenso jung.)

[Stenhammar, Erstes Streichquartett.]
Was die schwedische Kunstmusik anbelangt, so irrt >>>> Krantz, übrigens, sehr: Man muß nur diesen Stenhammar hören, um das zu begreifen, und >>>> Pettersson nun sowieso.

: 7.27 Uhr.
(>>>> Die Lesung wird um 16 Uhr c.t. beginnen und bis 17.45 Uhr dauern, inklusive Publikumsgespräch.)

11.02 Uhr:
Endlich dazu gekommen, >>>> Boris Kehrmann zu antworten. Das ist, insgesamt, eine ziemlich gute Diskussion um den –

Oh, es klopft. Moment –

21.20 Uhr:
[Paderborn, Galerie Hotel >>>> Abdinghof.]
Bereits auf meinem Zimmer.
Sehr schöne >>>> Lesung, riesiger Hörsaal, halb- bis dreiviertelvoll. „Wenn Sie da vorne lesen und sprechen, sind Sie wie eine Lokomitive“, sagt hinterher einen Hörerin; vielleicht hat sie auch „Dampfmaschine“ gesagt: sie wollte mein Hochgeschwindkeitssyndrom zum Ausdruck bringen. Gelesen Sainte Chapelle, Orgie ab etwa Mitte bis zum verspäteten Pfingstwunder, danach noch die Achte Elegie. „Kulturpessimismus“, ahnte eine andere. Nichts läge mir ferner. „Nichts liegt mir ferner“, sage ich. Aber man hätte drüber sprechen müssen: daß es zu einem Optimismus gehört, der einer ist, daß man die Trauer nicht vergißt: über das, was wir immer auch verlieren, so sehr wir es lieben. Bildung dreht sich herum, dreht sich durch den Magen derer (auch meinen), die sie anders verstanden, anders erfahren haben, anders leben, anders erhalten möchten. Da eine Kommunikationsform finden. Daß es niemandem hilft, auch uns nicht, wenn wir jammern. „Sie sind jünger“, hat Gustav Mahler gesagt, „also haben sie recht.“ Dieses irgendwie vermitteln. Und in der Vermittlung etwas hinüberretten, indem wir es transformieren, es verwandeln, es umwandeln.
Später erst im kleinen Kreis. Vorzüglichen Glenfarglas gab es. Danach in den Ratskeller zum Grünkohlessen. War aus den Angeboten mein Wunsch, es hätte auch italienisches Essen sein können. Wollt ich aber nicht.
Ich gehe die Galerie der Poetik-Gastdozenten ab, sehe Judith Kuckart. „Judith“ rufe ich, almamatersch gedämpft. Sie inszeniere gerade in Paderborn. „Oh, haben Sie ihre Handynummer.“
Aber es nahm niemand ab.
Schade. Ich hätte sie gerne wiedergesehen. Und sie wäre gekommen, wär nicht, wahrscheinlich, grad Probe gewesen. Oder wäre danach gekommen. Aber sie nahm halt nicht ab.

Hab mich entschieden, den Frühzug zu bekommen, 7.15 Uhr; was bedeutet: zehn vor sieben ins Taxi. Dann werd ich um halb zwölf bereits an der Prenzlauer sein und zehn Minuten später in der Arbeitswohnung. Es ist gleich halb dreiundzwanzig Uhr. Ich habe ein Nichtraucherzimmer. An Arbeit ist deshalb ohnedies kaum zu denken, jedenfalls nicht frühmorgens. Auf der Heimfahrt werde ich den Krausserpuccini durchbekommen.

Ich weiß, hier ging‘s um die Gastdozentur. Ich hätte sie gerne. Wolln wir mal sehen. Gut, daß ich meinen Malt in dem Röhrchen dabei habe, massiv Silber, Geschenk vom Profi. Alleine zu trinken, indes, das ist was für Autisten. Zu denen gehöre ich nicht. Mag sein, daß meiner Dichtung das fehlt. Ich bin, denk ich manchmal, noch immer viel zu sozial.

„Abdinghof“, übrigens: jemanden nicht ver- sondern abdingen. Interessant. Nachschlagen, wenn ich daheim bin.

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