Gesundend I, dennoch nicht recht wohl. Das Arbeitsjournal des Dienstags, dem 4. Dezember 2012. Zum Konzept des Angepaßtseins (eine Art Meditation).

8.52 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Ich gebe mir nicht gerne zu, weil ich den Umstand tatsächlich nicht mag, vor einem ins Auge gefaßten Ziel in die Knie gegangen zu sein. Läßt sich aber nicht mehr vermeiden, wenn das Auge weiter klar gucken können soll. Also ich werde es bis Freitag nicht schaffen, Argo insgesamt zum Lektor zu geben. Das wurmt mich, bringt auch meine weitere Planung durcheinander; aber es ist so. Bin gestern bis TS 392 von 848 gekommen; der ganze Roman, selbst unabhängig von der hexametrischen Erissohn-Rede, ist bis übermorgen, wenn ich ausdrucken will, nicht mehr fertigzubekommen. Pragmatisch die Löwin: „Dann geben Sie Herrn Schmidt schon mal dreihundert Seiten, was soll‘s denn? Eine Woche später die nächsten dreihundert Seiten und wieder eine Woche später die letzten dreihundert Seiten. Er wird doch sowieso daran arbeiten müssen, nicht einfach runterlesen. Deshalb macht das dem Buch überhaupt nichts.“ Stimmt selbstverständlich; ohnedies war einmal geplant, daß ich ihm den Text wochenweise gäbe, bzw. schickte, immer je ein Bätzchen nach Fertigstellung. Aber ich hatte dann diesen Ehrgeiz… –
Dennoch bringt mich die Krankheit jetzt in Verzug, weil ich viel später als geplant die Neue Fröhliche Wissenschaft wieder werde aufnehmen können, später dann aber auch das Sterbebuch, weil ich vor allem im Januar das neue Hörstück fertigen muß und will, für das der eigentliche Ansatz, den ich im Kopf hatte, nicht funktioniert; nicht meinetwegen, sondern wahrscheinlich formaljuristischer Gründe halber. Ich will nicht öffentlich darüber sprechen, damit nicht Chancen, die vielleicht doch noch bestehen, gefährdet werden. Das Thema ist objektiv heikel. Ich will es poetisch behandeln, aber eben das ist wahrscheinlich nicht klarzumachen; die Vorbehalte sind zu groß; es sind Justitiare im Spiel, die rein berufshalber ein Risiko weder eingehen wollen noch dürfen. – Beiseite das bis Januar.***

Der Latte macchiato schmeckt wieder, aber Früharbeit funktionierte nicht. Mir träumte gewaltig. Ich wollte meinen Hut aus einem Klassenzimmer holen, in dem ich unterrichtet hatte. Einige schöne junge Frauen saßen herum. Es kam zu Flirts, die nicht völlig jugendfrei waren – schon das ein Risiko in der „Position“, die ich in diesem Traum hatte – einem langen, ausgedehnten, ausführlichen Traum. Und mein Mantel hing auch noch dort, den mir vor ein paar Jahren >>>> Eisenhauer geschenkt hat; auch im realen ist er immer wieder die Freude von Frauen; „er“ meint beide, den Mantel und ihn. Wie auch immer, die Frauen hatten umgeräumt, alles, was liegen- und hängengeblieben war, war mit durchsichtiger Folie abgedeckt, als ob revoviert werden müßte. Ich möge bitte am Nachmittag wiederkommen. Da war dann aber das Chaos schon im Gang. Eine, wie sie genannt wurde, Chica hatte eine ganze Horde junger Männer auf sich. Viertels war sie wollüstig glücklich, viertels überfordert, zum dritten Viertel lockte und balzte sie aber weiter und war zum vierten Viertel in Panik. Eine wirklich bizarre Situation, in der ich meinte, den Retter spielen zu sollen. Was Unfug war, mich mit ihr an der Hand aber immerhin davonrennen ließ.
Die Schule, jedenfalls Lehranstalt, lag in Koblenz, ausgerechnet. Es fing zu stürmen an, zu regnen, und dann, dann wurde der Rhein zum Meer. Flutwellen türmten sich auf und rollten, zwanzig Meter oben die Gischt, gegen die Häuserwände, die nicht mehr lange halten konnten. Ich sah drei, vier, vielleicht sogar schon fünf Zunamis, die im Rhein in Reihe standen, dann vorrückten. Wir flüchteten auf eine Parkhöhe, sahen herunter, wie die Häuser einfach unter dem Wasserdruck zerkrachten. Davon wachte ich auf, verwirrt, etwas unterkühlt, wie wirklich durchnäßt. Erster Griff zum Ofen. Warm. Nicht ausgegangen. Aber das Oberlicht des rechten Fensters stand weit offen. Offenbar ist es kalt geworden über Nacht. Schon der Blick hinaus: auf den Mülltonnen, tatsächlich, Häufchen Schnees. Noch war aber nicht ganz klar, was nun noch Traum, was bereits Wachsein.
Griff zum Telefon, um die Löwin anzurufen. Ob es auch in Wien geschneit habe. Nein, nur geregnet habe es. „Koblenz, stellen Sie sich vor! Wie komme ich auf Koblenz?“ Im selben Moment wurde es mir klar. „Und der Rheingraben hielt noch“ ist ein Leitmotiv, seit Thetis, in der Anderswelt-Serie, und in Argo bricht er. Die Flutwelle, die ich im Traum sah, baut sich in Argo auf und schlägt mit voller Wucht in Buenos Aires hinein. Ich hatte eine Möglichkeit des Romans geträumt. Indessen die Chica aus dem Film stammt, den ich gestern nachts gesehen habe. Die Wasser, sozusagen, „legten“, sie beruhigten sich, flossen zu den Seiten aus, wurden, wadentief nur, weite See: Realität.

Wirklich, der Latte macchiato schmeckt wieder. Rekonvaleszenz. Trotzdem sollte ich es nicht übertreiben, lasse das Bett noch offen – für den Fall, daß mir doch noch mal mau werden sollte. Aber ich werde mich jetzt gleich an Argo machen. Das DTs für gestern ist schon geschrieben.

***

Gestern auch gab es diese Auseinandersetzung, in der dann wieder mal jemand meinte, mich >>>> einen armen Wicht nennen zu müssen; ich erinnere mich, daß es dieselbe Formulierung in Der Dschungel schon einmal gab; liegt aber Monate, vielleicht auch Jahre zurück. So etwas kommt i m m e r von Leuten, die selbst nichts vorzuweisen haben außer Besserwisserei und der Angst, sich selbst zu zeigen; deshalb verstecken sie sich in ihrer kommentierenden Anonymität. Wogegen nichts zu sagen wäre, wofür ich alles Verständnis hätte, versuchten Sie nicht, mich aus Ihrer Position der Verkniffenheit zu attackieren, persönlich, wohlgemerkt. Man kann nur ahnen, daß sie in ihrem Leben nichts zuwegegebracht haben, vielleicht ist ihnen alles zerknallt, wohl, weil permanente Angst und permanentes Geducktsein zu ihren Prägungen gehört, unter denen sie so kaputtgegangen sind, daß ihnen jeder Charakter zuwider ist, der frei seine Stirn, aber eben auch seine Schwächen zeigt. Aus Furchtsamkeit Angepaßte wollen – wie klug sie sonst auch immer seien – Angepaßtheit überall um sich herum, es sei denn, jemand ist gefeiert; den feiern sie dann als Unangepaßten mit allen anderen mit: die Unangepaßtheit muß abgesichert sein. Die Sache ist, objektiv betrachtet, nicht ohne Tragik; subjektiv betrachtet, ist sie ärgerlich und verletzend. Das merken diese Leute aber nicht. Ihr Geducktsein ist ihnen zur moralischen Norm erstarrt. Damit die nicht gefährdet wird, bleibt ihnen gar kein anderer Weg als der der Anonymität; jedenfalls, wenn sie sich öffentlich äußern.
Es können dennoch g u t e, nicht nur kluge Menschen darunter sein; allein ihre Ängstlichkeit verführt sie gegenüber ganz bestimmten, wahrscheinlich aber nur wenigen anderen Menschen zum Unrecht, ja nötigt sie. Handelten sie anders, bräche ihr Lebenskonzept auseinander. Anderen Angepaßten gegenüber sind sie gütig, vielleicht sogar aufopfernd. Psychische Dynamiken sind kompliziert. Guten Morgen.

12.31 Uhr:
Neben >>>> der nächsten Argo-Stelle gibt es >>>> in der Berliner Gazette eine Erweiterung der >>>> Pornographiediskussion von vor vierzehn Tagen:

 In einer halben Stunde Mittagsschlaf. Mein Kopf funktioniert wieder; ob mein Körper schon mithält, wird sich zeigen.

2 thoughts on “Gesundend I, dennoch nicht recht wohl. Das Arbeitsjournal des Dienstags, dem 4. Dezember 2012. Zum Konzept des Angepaßtseins (eine Art Meditation).

  1. 12.26 Uhr: Argo bis TS 413. Eine für sämtliche Geschehen erläuternde Rolle hat die kurze Ansprache des Majors Böhm vor zweiundzwanzig freiwilligen Infonauten, denen allerdings verschwiegen wird, worauf sie sich wirklich eingelassen haben, was bedeutet: welche Wirkung ihre – in dieser Szene – militärische Mission hat. Ich habe >>>> die Stelle soeben eingestellt.

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