Das Arbeitsjournal des Donnerstags, dem 18. April 2013. Von Katastrophen und anderen Kleinigkeiten.

8.32 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Eines jedenfalls kann man sagen: >>>> Mein Neapel-Aufenthalt hat in Berlin die Heizperiode abgeschlossen; ich werde nachher die Kohlen- und den Ascheneimer und das Auffangmetall und die Ofeninstrumente in den Keller bringen. Insofern ist Angenehmes zu vermelden. Die Sonne scheint, die Vöglein singen. Und dennoch, kaum kam ich an, gestern, Flughafen Schönefeld, kaum, tatsächlich, ich war noch auf dem Weg zur Gepäckaufgabe und hatte soeben das Ifönchen wieder eingeschaltet, erreichte mich ein Anruf: man müsse mit mir sprechen, usw., und ich hörte sofort am Ton, daß hier jetzt etwas ins Rutschen geriete. Ob ich bitte nachher zurückrufen könne, erwiderte ich, ich sei gerade erst aus dem Flugzeug gestiegen. – So dann, abends, getan.
Wiewohl ich sowas längst geahnt, rutschte der Berg unter meinen Füßen; man merkt immer dann erst, wie schräg der Hang geneigt ist, auf dem man doch schon lange steht. Die unter Neapels San Lorenzo maggiore ausgegrabenen Stätten, eine halbe Agora, über die wir heute spazieren können, nachmal’ges Forum; und wir sehen die Bäckerei der Antike, die Wäscherei, Färberei, hören das Lärmen der tätigen Menschen, all das wurde bewahrt von einer Schlammlawine, die nach den Erdbeben der Jahre 62 und 64 und dem Ausbruch des Vesuvs von 69 n.C. über die Gegend ging und die Gebäude verschloß – so plötzlich kann das kommen. Denn zwar wissen wir, wo wie leben, er ist, der Vulkan, doch gar nicht zu übersehen, und dennoch sind wie überrascht, wenn es sich dann meldet. Er ist nur zuzeiten ein freundlicher Hausberg; spaziert man über seine Gipfelregion, hat man sowieso ein anderes, schärferes und härteres Bild.
Solch eine Lawine nun.
Man kann da nicht einfach stehenbleiben und, vielleicht, herumjammern. Man muß handeln. Entweder sie aufhalten oder wenigstens fliehen, vor allem die eigenen Lieben in Sicherheit bringen. Und wird deshalb nüchtern, wird vollkommen klar. Für Sentimentalität ist keine Zeit; wir heben sie uns für später auf.
Ich war also nicht mal schockiert, sondern, plötzlich, hellwach. Und handelte.
Wer konnte jetzt noch, derart kurzfristig, zehn Jahre Lebensarbeit retten? Nein, „retten“ ist zu viel gesagt, wer aber ihr „beispringen“, die Seiten zu stützen, damit das Gebäude stehenbleibt? – Zwei fielen mir ein; der erste schon, als ich nachts noch anrief, sagte zu: atmete zwar mehrmals sehr tief durch, aber sagte zu. – Freunde.
Man muß vertraut sein mit meiner Arbeit, g u t vertraut sein, um das zu können, und dann, vor allem, muß diese Ästhetik auch wollen. Hier, von Anfang an, lag ein Problem, das eben war der Vulkan, an dessen Hängen ich gebaut hatte. Doch ich bin selbst wie ein Napolitano: Kaum ist der Schlamm erstarrt, ist die Lava erkaltet, baue ich neu darauf.
Insofern hat mich der Anruf zwar geradezu unmittelbar aus Neapel herausgerissen, aus jedem Nachklang (was auch schon nicht sein darf, weil doch das Hörstück zu schreiben ist), mich andererseits aber mitten drinbleiben lassen. Inwieweit sich auch das andere Beben, das nun schon wochenlang unter meinem Grichtsvollzieher-Hörstück daherläuft, unterdessen beruhigt hat, wird heute nachmittag ein ganz anderer Anruf zeigen.
Vorher muß ich zum Zahnarzt, um 10 Uhr ist Termin; ad hoc – ebenfalls noch gestern – bekam ich einen. Das wird ganz gleichfalls keine angenehme Sitzung werden. Komm ich von da zurück, muß ich die Neapel-Notizen sichten, die mitgebrachten Propekte, Erklärungen, meine Aufzeichnungen von davor, will ich auch die Notate Napules fortsetzen, nunmehr mit der Nummer 9, zudem die bisherigen Beiträge untereinander verlinken und aus der Arbeitsjournal-Rubrik zu den anderen Reisenotaten verschieben usw. Und trotz allem Chaos will ich die getrennt verwahrten Anzüge des Sommer hervorholn und die des Winters bis zum Oktober wegtun; Papier gegen Motten ist zu besorgen, dazu ein großer Karton. Vor allem aber den inneren Zweifel, der selbstverständlich jetzt immer wieder hochquillt, dämpfen. Eine ganze Konstruktion ist befragt, die zugleich eine künstlerische Lebenskonstruktion ist; sie hat mich seit nunmehr zwanzig Jahren begleitet und bestimmt. Selbsthaltung also ist verlangt und, in sehr bestimmtem Sinn, daß man dem eigenen Werk ein guter Vater ist.
Verzeihen Sie, daß ich nicht konkreter werde; es wäre unklug, jetzt, es zu sein. Konkret allerdings muß ich gegenüber den anderen sein, die ganz direkt mitbeteiligt sind. Das bedeutet: Nachrichten schreiben und telefonieren, jedenfalls Gespräch führen. Denn immerhin: Die richtige Hilfe ward schon gefunden. Dafür bin ich dankbar. Sehr. Die Löwin, eben am Telefon, brachte es vielleicht auf den Punkt: Vielleicht ist alles nun erst gut, vielleicht ermöglicht erst die neue Situation, daß meiner Arbeit das beste geschieht, was ihr zu wünschen wäre: daß an ihr jemand mitfeilt, der sie auch will.

So steht er da, der kleine Pulcinell: ein wenig wie ratlos, wieder einmal, aber bereit doch weiterzusingen.

Guten Morgen.

12.06 Uhr:
„Unter der Brücke muß die Freiheit wohl grenzenlos sein“, sang, als ich neunzehn war, Reinhard May. Das hat sich auch der Schmerz gedacht, der erst nicht richtig zu orten war; erst das Röntgenbild zeigte den Teufel. Also mußt sie raus und ist nun auch raus:

Der Zahn, der sie hielt, ist nicht mehr zu retten; momentan sitzt ein Provisorium drüber und drunter ein Medikament, um die Entzündung wegzubekommen. Am Dienstag wird’s dann weiter gehen: kleine nette Extraktion. Mein Lieblingszahnarzt, freilich – in keiner anderen Praxis wird so viel gelacht wie >>>> in seiner mit ihm -, kommt drumrum, denn er ist da im Süden. Sein Kollege wird’s übernehmen. Wirklich: kleine Katastrophen; ich bausche die Angelegenheit auch nur balancehalber auf, sozusagen aus schicksalsästhetischen Gründen. Jedenfalls soll ich bis zum Dienstag „nur rechts essen“, so auch die kleinen Calamari heut abend.

Die Hände gerieben und weitergemacht, erstmal mit der Entwinterung der Arbeitswohnung. Außerdem freu mich irre über die neuen, aus Napoli, Schuhe:

Das ist doch sehr viel wichtiger als mein bedingtes Panik-Geschiebe. Und obwohl links halb die Zunge taub ist und drittels die Unterlippe, schmeckt die Pfeife ausnehmend gut.

>>>> Notate Napules 9
Notate Napules 8 <<<

2 thoughts on “Das Arbeitsjournal des Donnerstags, dem 18. April 2013. Von Katastrophen und anderen Kleinigkeiten.

  1. Wirklich schöne Schuhe!, und da man beim Zahnarzt in den Behandlungspausen meist auf die eigenen Füße guckt, sollten Sie die auch bei der “kleinen netten Extraktion” tragen, der Ästhetik halber. Habe ich Ihnen schon mal erzählt, wie mir vor wenigen Jahren von zwei schönen jungen Frauen ein Weisheitszahn gezogen wurde …? Ein Erlebnis sondergleichen!

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