VORSPIEL IM FRÜHEN MORGEN BERLINS:
Alles bereit, erster Latte macchiato, Morgenpfeife. Nachts noch Bloch exzerpiert, „Italien und die Porosität“ von 1925. Ein nur kleiner Aufsatz, an dem besonders interessant ist – und wie diese wunderschöne, dem angemessene Sprache zu Herzen geht! -, wie anders als der Neapel gegenüber höchst distanzierte Walter Benjamin Ernst Bloch die Stadt einfühlt:Das bürgerliche Hausinnere zeigt am wenigsten Sinn für schöne, feste Wohnlichkeit, sondern die Stücke im Zimmer sind beliebig, umstellbar und variabel wie das Straßenbild: die Wohnung nimmt teil am Freien, ist gleichfalls eine Mischung aus Interieur und Öffentlichkeit. So bildet die Tür, auf die Straße oder einen, wenn auch noch so kleinen Balkon führend, oft das einzige Fenster; die Lichtöffnung ist also kein Teil der Wand, selber raumschließend, sondern eine pure Einmischung der Straße, mit Gewalt des Lichts darauf hinzwingend. Umgekehrt hat aber das Freie nun wieder viel vom Zimmer…
[Bloch, GA 9, S. 508 ff.] Und eine Bemerkung, nirgendwo anders auch nur ähnlich gedacht, warf unversehens ein Licht des Begreifens auf die nach 1950 eingesetzte Baumassenkatastrophe, die Napule aufgrund der Bauspekulation geradezu wütend – ein extrem massives, unendlich häßliches architektonisches Betongrauen, gleichsam eine „eigene“ Lava – dem Vulkan entgegengewälzt hat:Die üblichen Häuser werden nicht so sehr nach einem festen, nur für dieses Haus bestimmten Plan gebaut, sondern entstehen fast sorglos, Zimmer neben Zimmer und derart, daß immer neue Zimmer nach Bedarf darüber oder lieber noch daran, daneben gebaut werden können. Daraus und nicht etwa aus dem antiken Sinn für die Horizontale (…) ist auch das sich breit Erstreckende der meisten italienischen Häuser zu erklären.
[S. 509/511.] Ich werde heute nachmittag mit anderen Augen auf das blicken, worüber ich bislang immer hinweggeblickt habe. Und: Enorm, wie zeitgenössisch mir Blochs, völlig anders als Benjamins nahezu gleichalter Aufsatz vorkommt, wie noch immer gültig, auch die Perspektive, aus der er Florenz betrachtet: Die Stadt, schreibt er, sei – ganz Italien vom Süden aus übersehend – die Ausnahme.
Alles bereit, erster Latte macchiato, Morgenpfeife. Nachts noch Bloch exzerpiert, „Italien und die Porosität“ von 1925. Ein nur kleiner Aufsatz, an dem besonders interessant ist – und wie diese wunderschöne, dem angemessene Sprache zu Herzen geht! -, wie anders als der Neapel gegenüber höchst distanzierte Walter Benjamin Ernst Bloch die Stadt einfühlt:
[Bloch, GA 9, S. 508 ff.]
[S. 509/511.]
Ich habe Florenz nie gemocht.
: 5.59 Uhr.
Siesta, 15.15 Uhr:
[Allogio del Conte.]
Ich habe Florenz nie gemocht. Was ist es, das mich aber hier im Süden sofort umfängt und an sich zieht?
Ich werde mir diese Frage in den nächsten Tagen öfter stellen, gerade, nachdem ich auch während des Fluges von den Schattenseiten, schweren Schatten, gelesen habe, in Savianos drittem Buch, dessen Kapitel über den Müll besonders – wäre doch das Wort nicht so falsch! – „erhellend“ ist. Heute abend werde ich dazu schreiben, jetzt will ich hinaus, nur diesen Eintrag noch beenden
– um von dem Empfang in diesem Hotelchen zu erzählen: Das Zimmer war noch nicht bereit. Wir plauderten. Einen Café? wobei gleich über „Café lungo“, ein wenig abfällig, erzählt wird, weil man befürchtet, ich erwartete solch eine Plürre. Aber ich erzähl von meiner Pavoni… – ach, „Ah!“s und „Oh!“s und „veramente?“s – und auf die Terrasse hinaus, die drei Zimmer verbindet, im ersten Stock gleich über der Gasse, sechs oder sieben Meter im Quadrat; die Freundin der Hotelière kommt mit einem Stadtplan, was ich sehen möge, o nein, ich sei so oft schon hiergewesen, das tue mir leid, aber nein, ich brauchte keine Führung mehr. Sie hakt freundlich nach, prüft, aber als ich Stella, den Stadtteil, erwähne, vom Vomero erzählte, sogar vom Palazzo Donn’Anna, schlägt sie lächelnd ihre Karte wieder zu, übers vielleicht entgangene Geschäft kaum enttäuscht, eher geschmeichelt.
Ein nächster Gast gesellt sich uns bei, Russe, Zentralrußland, gerade in Spanien gewesen; ein hagerer Mann mit schütterblondem Haar und sehr langen Händen. Wir sprechen ein Kauderwelsch aus Italienisch, Spanisch, Englisch, er macht an der Stazione Zoologica ein bestimmtes Examen in Meeresbiologie, das, absolviert man es hier, einem, so erzählt er, fast alle anderen Länder öffne. Schokoladeüberzogenes Gebäck kommt aufs Tischchen, die Glasur schmilzt in der Wärme – kaum war ich angekommen, wechselte ich die Lederjacke gegens Jackett; was bin ich froh, nur zwei Tshirts drunterzuhaben; heute morgen, in Berlin, war noch der dicke Rollkragenpullover nötig. Hier nun schwitze ich zum ersten Mal.
Dann meinen kleinen Raum eingerichtet, den Anzug auf den Bügel gehängt, den Schreibtisch für die Arbeit hergerichtet (den kleinen Fernseher vom Schreibtisch in den Kleiderschrank hinweggehoben), WLan angemeldet, auch fürs Ifönchen, die ersten drei Bilder hochgeladen und diesen Ankunftstext geschrieben.
Ich bin da.*******
– um von dem Empfang in diesem Hotelchen zu erzählen: Das Zimmer war noch nicht bereit. Wir plauderten. Einen Café? wobei gleich über „Café lungo“, ein wenig abfällig, erzählt wird, weil man befürchtet, ich erwartete solch eine Plürre. Aber ich erzähl von meiner Pavoni… – ach, „Ah!“s und „Oh!“s und „veramente?“s – und auf die Terrasse hinaus, die drei Zimmer verbindet, im ersten Stock gleich über der Gasse, sechs oder sieben Meter im Quadrat; die Freundin der Hotelière kommt mit einem Stadtplan, was ich sehen möge, o nein, ich sei so oft schon hiergewesen, das tue mir leid, aber nein, ich brauchte keine Führung mehr. Sie hakt freundlich nach, prüft, aber als ich Stella, den Stadtteil, erwähne, vom Vomero erzählte, sogar vom Palazzo Donn’Anna, schlägt sie lächelnd ihre Karte wieder zu, übers vielleicht entgangene Geschäft kaum enttäuscht, eher geschmeichelt.
Ein nächster Gast gesellt sich uns bei, Russe, Zentralrußland, gerade in Spanien gewesen; ein hagerer Mann mit schütterblondem Haar und sehr langen Händen. Wir sprechen ein Kauderwelsch aus Italienisch, Spanisch, Englisch, er macht an der Stazione Zoologica ein bestimmtes Examen in Meeresbiologie, das, absolviert man es hier, einem, so erzählt er, fast alle anderen Länder öffne. Schokoladeüberzogenes Gebäck kommt aufs Tischchen, die Glasur schmilzt in der Wärme – kaum war ich angekommen, wechselte ich die Lederjacke gegens Jackett; was bin ich froh, nur zwei Tshirts drunterzuhaben; heute morgen, in Berlin, war noch der dicke Rollkragenpullover nötig. Hier nun schwitze ich zum ersten Mal.
Dann meinen kleinen Raum eingerichtet, den Anzug auf den Bügel gehängt, den Schreibtisch für die Arbeit hergerichtet (den kleinen Fernseher vom Schreibtisch in den Kleiderschrank hinweggehoben), WLan angemeldet, auch fürs Ifönchen, die ersten drei Bilder hochgeladen und diesen Ankunftstext geschrieben.
Ich bin da.
Nein, ich habe Florenz nie gemocht.
20.30 Uhr:
Das wiederholt sich mir immer mit Neapel.
Es kann nicht nur eine Projektion sein, sondern etwas an dieser Stadt ist es, etwas in ihr, von dem ihre meisten Bewohner vielleicht gar nichts wissen; unabsehbar ist aber, daß sie es im Herzen haben – trotz aller Not, die hier größer ist als anderswo in Italien, die hier grausamer ist, die hier korrupter ist, die hier, eigentlich, auch nicht „zivilisiert“ ist, sondern archaisch; auf jede fast unfaßbare Schönheit kommen hier drei Katastrophen, die an Grauen sich kaum überbieten lassen: „Die erste Stadt der dritten Welt in Europa“, so hat vor Zeiten ein Bekannter sie genannt. Dagegen – und dazu – Ernst Bloch: hier sei alles Bazar.
Das stimmt. „Bazar“ meint „Soukh“, selbstverständlich.
Und ich l a s auch, es waren winzige Lädchen voller Fernsprecher:
Serengeti Phone Center
Pone Center all’arabica
Die San Biagio ist touristenbelebt; wenige hundert Meter nordwestlich von ihr sind die Häuser in die Ruinen eines riesigen römischen Amphitheaters hineingebaut; da bin ich bereits im Februar gewesen; dort auch finden sich Eingänge in die unterirdische Stadt, Napoli sotternanea, die bis zum Posilippo reicht: Tausende Gänge, Katakomben, Höhlen im vulkanischen Tuff, auf dem Neapel errichtet ist.
Bis zur Via Toledo vorgestoßen, der Enkaufs- und auch Prachtstraße östlich des Vomeros, Betonung auf “Vo”; für das Gefühl ist es südlich, dann hinunter zur Stazione marittima, wo die großen Fähren liegen; die nächste nach Sizilien legt seit Jahren, wahrscheinlich Jahrzehnten, um 20.30 Uhr ab; ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich die schon genommen. Gegen sechs kommt sie in Palermo an. In einem kleinen Trödelladen umarmen sich zwei alte Männer, auf der Straße davor wedelt ein Schwarzer seine Handtaschenware, die auf den Boden gebreitet, mit einer Plastiktüte vom Tagesstaub frei: zäh tut er das, zäh und bestimmt. Läßt sich nicht stören. Siebzehn Schritte weiter schläft sein auch wohl Landeskollege neben den seinen an einem Sims. Aber noch zuvor habe ich – daß Männer Arm in Arm gehen, ist hier normal – ein elegantes Schwulenpärchen gesehen. Da geriet in dies alles Weltstädtischkeit.
Bis zur Hafen-, na ja:, -„promenade“ vor: elend, Bausünden, nicht nur meerseits die Lagerhallen; die sehen weißGöttin auch in London nicht besser aus, aber gegenüber, 50er-Jahre-Bauten, die über die sechsspurige, aber achtspurig befahrene, wenn’s klappt, Straße auf die endlose Mauer schauen, die den Freihandelsbereich abtrennt. Schaut man hinüber, sieht man über den Lagerdächern die Schlote der Fähren, ja sogar ein Stück Brücke, dahinter die Ahnung eines Oberdecks; dahinter aber, wiederum, den riesigen Vulkan mit seiner, hat Helmut Krausser behauptet, ein wenig kleineren Frau.
Ich liebe an dieser Stadt auch ihre Häßlichkeit. Sie ist enorm. Ich liebe sie. – Warum?
Aber ich bin ja noch auf der „Promenade“ – nein, das ist nicht die berühmte, die so sehr an The Queen’s Neckless gemahnt, Bombays eben, nicht die Riviera di Chiaia mit dem wahrscheinlich und zu recht berühmtesten Golfblick der gesamten Welt, Capri mitten darin und östlich Sorrent auf der langen Protuberanz von Land, die ins Meer geht. Sondern wir sind an den, sagen wir, „Docks“. Und da nun, 50er-Jahre-„Porosität“, alles plötzlich voller junger Leute, zwischen zwanzig, schätze ich, und dreißig, teils studentisch in Jeans, teils aber in Anzügen mit Krawatten; man spielt Kicker auf der Straße vor den beiden Cafés, die hier „Bar“ heißen, was ein spanisches Lehnwort ist, „Barre“ sagen die auf Sizilien und rollten dreifach das „r“, man hört laut Musik, man überquasselt sie, alles ein einziger Flirt, zu dem sich ein Schwarzer gesellt hat, hochgewachsen und höher noch wirkend, weil er ein knielanges blauweiß gestreiftes Hemd trägt, darunter eine ebenso gestreifte, locker fallende Hose, und sein Käppi ist gleichfalls blauweiß gestreift. Der nun, ja, er – tanzt. Hat sein Geschäft auf einen Sims gestellt, eine Auslage zum tTagen, päckchengroß, mit transparenter Plaste verschlossen – hat das abgestellt und tanzt.
Ich hole mir einen Café, setze mich zu alledem hinzu, notiere, lasse den LS11 mitlaufen, für die O-Ton-Aufnahmen, beobachte, trinke aus, gehe wieder, als auch der Schwarze gegangen ist – in seine beginnende Nacht, die, da bin ich mir sicher, noch das Geschäft nicht abgeschlossen hat.
Vom Hafen weg ins Viertele. Via Fratelli Ruggi: alles Juweliere (in Wahrheit eine Mischung aus privatem Pfandhaus und Juwelier: „compro d’oro“), noch mehr Juweliere, Rua Roscana. Da, an der Ecke, und sie selbst meditiert aus dem Eingang heraus: Annaoro, wir würden „Gold-Ännchen“ sagen.
So komm ich auf den berühmten, berüchtigten, für Neapels Geschichte so zentralen Marcato:
So bin ich hier nun schon „Nikolai“; der zweite meiner Namen scheint den Napolitani besser über die Zunge zu gehen als das doch eigentlich einfachere „Albano“, das ich ihnen vorgeschlagen habe. So bin ich hier nun schon „Nikolai“ und morgen abend zum Essen eingeladen; Michele, der Chef des Hauses, will selbst kochen. Was ich vorzöge, Fisch oder Fleisch. – Für mich die Gelegenheit! „Dann koche übermorgen ich!“ Was hab ich mir in Neapel immer gewünscht, daß ich selbst kochen könne. Aber wie denn, in Hotels? Dies hier ist fast Familie: Als ich, meine Tüten mit mir, frage, ob ich vielleicht einen Teller und ein Glas bekommen könne und auf der Terrasse zu Abend essen dürfe, sagt Michele: „Wir sind eine einzige Familie“. Er sieht die Tomaten, die ich gekauft, und protestiert: „Das mußt du anders machen, die mußt du erst waschen.“ Klar, hätt ich aber schon gemacht. Ist ihm egal, er wäscht sie noch mal. Und dann richtet er sie mir an, schneidet sie, versetzt sie mit „Cippoline“, besonders sanften, kleinen Zwiebeln, mischt Olivenöl dazu, tut etwas Basilico darauf, bringt mir alles hinaus.
So bin ich hier nun schon „Nikolai“. Es ist wie eine neue Taufe.
(Auch von den Frauen will ich sprechen.)
Und Abend ist es geworden: