Über den allzu schönen Schein. Vincent Boussards Inszenierung von Händels Agrippina an der Staatsoper Berlin unter René Jacobs. Eine Wiederaufnahme am 2. Mai 2013.

[Fotografien (©): >>>> Monika Rittershaus.
Bild im Saal: ANH/iPhone.
>>>> Video.]




„Ich habe noch nie eine derart ästhetische Aufführung gesehen!“ rief meine Begleiterin leise aus, als wir nach vier Stunden das Schillertheater verließen. „Die Kostüme, die Bühne, alles wunderwunderschön. Das einzige, was mir gar nichts gegeben hat, war die Musik.“ Wir gingen durch die Nacht zum X9er-Bus weiter. Ich grummelte in mir, schwieg noch. Denn hier war grundsätzlich etwas schief gelaufen. „Da muß mehr Schmutz rein“, hatte ich schon in der Pause gesagt, aber selbst noch nicht richtig erfaßt, was ich eigentlich meinte, sondern nur dieses Unbehagen verspürt: ein lästiges, das bohrte. Und das, dachte ich, bei Händel, einem musikalischen Meister der dramatischen Manier –
Schon zu Anfang, mit Agrippinas erster „verworfener“ Arie, kam mir alles zu dünn vor, auch zu entfernt, zu ziseliert darum, als hielte man sich einen Kanarienvogel mit Hitlerbart und lauschte verzückt seinem Singchen. Selbstverständlich war mir klar, daß dies nicht nur an den für Musik nicht günstigen Verhältnissen der Interimsbleibe der Staatsoper lag, also am Sprechbühnensaal des Schillertheaters, sondern eben auch an den alten Instrumenten und der für unsere, nicht aber die Ohren des seinerzeitigen Hörpublikums sehr diskreten Besetzungsstärke, der sich die Stimmvolumen der Sänger:innen anpassen müssen und sollten. Wir sind heute, mit unseren völlig anderen internalisierten Hörerfahrungen, eine zu mächtige, zu poppige Pathoskraft gewöhnt, als daß wir die Kammerraserei der Protagonisten dieser Oper noch als besonders exzentrisch oder exaltiert erleben könnten; vielmehr kommt sie uns, alleine schon dynamisch, wie die von Handpuppen vor. Genau dagegen muß eine Inszenierung sich sträuben, dagegen muß sie anarbeiten, wenn sie nicht Oper als historisiertes Divertimento bieten will, was man sich halt anhört als gute Bourgeoisie, um sich akustisch unaufgeregt und ein bißchen retro eincremen zu lassen, auf daß der liebe Gott der gute Mann auch bleiben kann, der er niemals war.

Aber wie denn? „Historisierend“? Nein. Denn abgesehen davon, daß die Akademie für Alte Musik stets darum bemüht ist, mit originalen Instrumenten und Nachbauten solcher Instrumente einen vergangenen Zeiten möglichst ähnelnden Tonraum zu füllen, zeigen Vincent Boussard und sein Team eine in Ausstattung und Bühne sogar ausgesprochen moderne Aufführung. Daran kann es also nicht liegen, daß nicht wirklich Kunst wird, ebenso wenig wie an dem einen und mehr noch dem anderen Mätzchen, zum Beispiel den Herumliegereien und -schiebereien auf und über den Brettern, ja, nicht einmal an der vor allem in den ersten beiden Akten losgelassenen Manier, die Leute dauernd gegen eine Wand oder an ihr entlang laufen zu lassen; das ist moderner Operngemeinplatz und allenfalls ein bißchen peinlich. Im Buffofach ist der Kalauer, den man auf der Bühne als Ulk kennt, durchaus akzeptabel; es lacht halt, wer mag. – Nein, das Problem liegt anderswo.
Meine Begleiterin hatte recht: Diese Inszenierung ist zu schön.

So wunderbar der Einfall mit dem hohen, die gesamte Bühnenbreite transparent vom Zuschauerraum trennenden, luftbewegten Vorhang auch ist, aus so feinsten Perlensträngen, daß sich darauf und durch ihn hindurch mit Lichtspielen arbeiten läßt, sei es durch direkte, sei es durch Rückprojektionen;
– wie klug auch immer, wenngleich seit Renaissance der Barockoper bereits Zitat-für-sich, also nicht wirklich ein Einfall, das Geschehen sich von der Hauptbühne herunter- und direkt vors Publikum spielen zu lassen, wo dann tatsächlich Leben in die Sache kommt; ins Publikum mitten hinein traut man sich dann aber doch nicht;
– und wie auch immer, vor allem, virtuos die Sänger:innen zu singen und darzustellen vermögen;
es wird nur ergriffen, wer es sich vorgenommen hat, es zu werden. Sowas setzt man dann gegen den wirklichen Eindruck auch durch, schon, weil René Jacobs dabei und weil die Akademie für ihre vorzüglichen Interpretationen berühmt ist und weil die Sänger:innen in der Tat auserlesen sind. Nicht also, daß der Kaiser wirklich nackt durch diese Inszenierung ginge. Nein, das tut er nicht. Sondern er hat, sozusagen, zu viel an, und nicht nur zu viel, sondern sich vor allem in der Garderobe vergriffen. Alles in dieser Inszenierung ist gekleidet, nämlich aufs edelste und nicht nur die Menschen. Gekleidet ist die Bühne, gekleidet sind die Wände, gekleidet ist der Vorhang, der eigentlich Kleid ist; selbst die bisweilen an Nordlichter erinnernden Lichtspiele sind Kleider, und Kleider, letztlich, sind die Gesten, sind die Gesichter und die Leidenschaften, die sie ausdrücken. Alles löst sich im Glamour auf, einem hochgemotzten und in nur-Glanz polierten immerschönen Schein – dem der Warenwelt. Boussards und seines Bühnenbildners Vincent Lemaires Agrippina huldigt genau dem: der Warenästhetik, die wir aus den Hochglanzmagazinen kennen. Die ist, logischerweise, bis in ihr Innerstes affirmativ. Denn sie kennt ein Innerstes nicht. Sie kennt nur Oberfläche. So wird die Agrippina an der Staatsoper zu einem Musical, das die Revue-Ästhetik des Friedrichstadtpalastes für den gebildeten Bürger umgeläutert hat. Man kann auch sagen, ist aber wahrscheinlich faktisch falsch: Die Eintrittskarten sind hier teurer; das rechtfertigt es auch für unsereins, intellektuell guten Gewissens hineinzugehen. Daß die Kostüme von Christian Lacroix designt worden sind, tut ein übriges für Akzeptanz. Der Mann, wurde mir erzählt, sei ein berühmter Modeschöpfer. Der Agrippina hilft das nichts. Ich dachte nur: Ui, dann ist das aber teuer.
Vielleicht hätte er, Lacroix, das gewußt; das Regieteam jedenfalls wußte es nicht, das, was jeder Modefotograf schon gleich zu Anfang lernt: Man inszeniert so etwas nicht in den Beletages. Wirklich zur Geltung kommt Glamour nur vor Abriß. „Der Mond in der Gosse“ heißt ein großer Film Jean-Jacques Beineix’. Wo alles schöner Schein ist, nehmen wir auch das wirklich Schöne nicht mehr wahr.
Sogar das aber wäre noch akzeptabel – weshalb sollen sich Leute nicht gedankenlos vergnügen? -, rührte nicht Boussards Konzept an die Musik selbst und an die Inhalte dieser Oper.
Sie ist nämlich satirisch und kritisch, ja die Oper der schlechten, willentlich schlechten Charactere schlechthin. Jede geplante und erreichte Bosheit, auch Unmenschlichkeit, hält man sich hier als Tugend der Persönlichkeit zugute. Das wahrscheinlich von einem beim Vatikan in Ungnade gefallenen Geistlichen geschriebene Libretto, das aufs enthüllendste die Mechanismen der Macht teils in den Blick nimmt, bewundert sie nämlich auch. Das ist nicht ohne Macchiavell und teilt sich mit dem Volk in seiner Freude über gelungene Gesetzesübertretungen – ein durchaus italienischer und auch katholischer Mentalitäts-Umstand, der einem zum Beispiel heutzutage Berlusconi begreiflich macht. Dieses wäre mit der Agrippina herrlich nachzuzeichnen gewesen, pervers herrlich, selbstverständlich. Statt dessen haben wir es den ganzen Abend über mit dem Schein und dem immer n o c h schöneren Schein zu tun: mit schönen Schuhen und Kleidern von Frauen – nicht ungenial, den ersten Auftritt der Poppea mit einem hohen Stuhl, auf dem sie steht, zu verherrlichen, denn ihr fließendes Gewand umfließt ihn ganz – ; mit schönen Gewändern auch von Männern, mit den schönen Wänden, mit dem immerschönen Vorhang, und selbst, wenn dahinter das psychedelische Rot, das immer mal wieder, ja, wie eine Sonne scheint, Blut gemeint haben mag, das Flecken hinterlassen würde, sehen wir nichts als gläserne Granatäpfel leuchten, artifizielle, die auch im Inneren nicht bluten. Damit erklimmt das Verhängnis dieser Inszenierung ihren eigentlichen Gipfel, – nein, sie klimmt nicht, sondern surft hinauf und überzieht die Musik mit einem Toffee, in dem sie tändelnd erstickt, man möcht’ fast „händelnd“ schreiben. So kriegt sie vor lauter schickem Süß gar keine Luft mehr und kann sich um so weniger behaupten, als Jacobs sehr zu recht die ausgefeilten Rezitative betont, die schon für Händel ein Widerstand gegen den Evergreen waren, den er zugleich bedient hat. Anstatt unsere Ohren aufs Rezitativ zu lenken, damit auf das Kammerspielhafte der händelschen Dramaturgie, blendet Boussard die Augen, die man aber der Schönheiten wegen nicht schließt. Statt dessen hört man weg, freut sich aber, wenn mal eine Arie auftrumpft. Damit ist man dann genau wieder beim Friedrichsstadtpalast.
Für Leute, die sich nur unterhalten lassen wollen, ist das, mag sein, famos, für alle andern ärgerlich. Die kommen sich als unter Preis behandelt vor. Na gut, vom Entertainment sind wir sowas gewöhnt. Schlimm ist es deshalb nur für Jacobs’ konzentrierte Arbeit, die eine ebensolche Intensität dem Hörer abverlangen kann, und auch schlimm für die Sänger:innen. Doch standen sie alle selbst in dem Leim, auf den sie gehen mußten – mit Ausnahme Dominique Visses, dem einzigen Buffo unter den Countertenören, die ich kenne, einem wahren Oleg Popow der Szene:

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sowie Bejun Mehtas, dessen sängerische Lyrismen sich bisweilen behaupten konnten, obwohl Ottono fast schon ein Schwächling der Romantik ist. Aber er ist eine wirklich gute Haut, so daß hier wider die Inszenierung so etwas wie Wahrheit wurde, und zwar immer wieder, und Gerechtigkeit.
Alex Pendas Agrippina hingegen konnte, was ihr gegeben ist, nicht annähernd so Klang werden lassen wie etwa die obwohl in ihren Möglichkeiten nicht so privilegierten Sänger:innen der >>>> Monteverdi-Trilogie an der Komischen Oper Berlin und, was ein besonderer Jammer ist, die stimmliche, so helle Größe der eitlen und zugleich rührenden Koketterien von Sunhae Ims mehr als nur entzückenden Poppea ging nahezu gänzlich unter, schon gleich in der Perlenszene des ersten Akts, der wir vielleicht den Vorhang dieser Inszenierung verdanken. Bezeichnenderweise bekamen die Sänger:innen immer erst dann Präsenz, wenn sie die Bühne verlassen hatten und vor dem Orchester agierten. Da ahnte man dann, was Pendas Agrippina hätte werden können. Für Barockopern ist es ja überhaupt eine Frage, ob man die Musiker im Graben oder nicht tatsächlich mit auf der Bühne positionieren sollte. So wird das in der Gegenwart nicht selten – und jedesmal mit großem Gewinn – (wieder) praktiziert. Ich erinnere mich sehr wohl an >>>> Jacobs’ grandiose Marienvesper, mit dem Combattimento kombiniert, am selben Haus, wenngleich Unter den Linden, aber auch, eben dort, seiner Semele von Händel; Stunden wurden einem da ebenso zu Minuten wie in >>>> Grauns Cesare e Cleopatra. Da setzte sich auch, >>>> Alessandro de Marchi am Cembalo, Jacobs’ Auffassung der Rezitative nachdrücklich durch. Hier hingegen war vor lauter schönem Schein nichts mehr davon zu hören.

Mag sein, daß sich Boussard, Lemaire und vielleicht auch Lacroix gedacht haben: Alle Figuren dieser Oper operieren mit falschem Schein; tatsächlich ist er fundamental für ihre Intriganz. Also zeigen wir das mit allem Glitter, mit dem ein Herrscherhaus seine Menschen und wohl auch sich selbst blenden kann. Nur ist auf einer Bühne die Wiederholung realer Sachverhalte nicht einmal eine Wiederholung, sprich: Verdopplung. Es sei denn, Boussard wäre radikal gewesen wie Jeff Koons. Anders als dieser will er aber immer geschmackvoll noch bleiben und gibt deshalb dem falschen Schein den nächsten falschen Schein, der sich den Kitsch nicht traut, hinzu. So subtrahiert sich der eine vom anderen nicht, sondern verstärkt ihn, anstatt daß auf ein Mittel gesonnen wird, die nun besonders starke Blendung zu durchbrechen. Ich etwa, der Gedanke kam mir beim Abwasch, hätte ausprobiert, alle Sänger:innen über Mikrofon singen zu lassen, jedenfalls der tragenden Figuren; da hätte auch schon mal grob übersteuert werden dürfen. Ich hätte die Balance riskiert, die Boussards Team auf jeden Fall wohl wahren wollte, und René Jacobs sowieso. Eine Blasphemie, ich weiß. Doch sie hätte den satirischen, zum Teil sogar kritisch ätzenden Character des Stücks wiederbetont, dessen Protagonisten es, ganz wie dem Regisseur, genau darum zu ist, noch dort geschmackvoll zu wirken, wo sie das Mieseste antreibt, das ihnen zudem, abermals Machiavell, ihr Selbstbewußtsein ölt. Das ja nebenbei schon mal einen Doppelmord in Auftrag gibt. Da müssen wir von Kaiser Claudius’ Nachfolger, Agrippinas Sohn, um den ihre Intrigen sich drehen, noch überhaupt nicht sprechen: An der Komischen Oper hat ihm Barrie Kosky mit drei Schüssen, die Nero selbst abgibt, die Maske vom Gesicht genommen. Es ist nicht falsch, wenn Regisseure für Inszenierungen in ein- und derselben Stadt sich einmal anschaun, was mit verwandten Stücken die Kollegen tun. Große Namen schützen nicht. Sonst wäre alles eitel.


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[Besprochen ist die 6. Aufführung an der Staatsoper Berlin
seit der Premiere am 4.2.2010. – Eine besondere Erwähnung,
wieder einmal, verdient das Programmbuch. Es erzählt über
die Oper mehr, als leider realisiert worden ist, ja, erzählt
von einer eigentlichen, möglichen Agrippina von Händel.
Das gilt auch für die in ihm farblich beeindruckend wie-
dergegebenen Bilder Vincent Lemaires.
Für 7 Euro ist das Buch zu haben.]

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Georg Friedrich Händel
AGRIPPINA

Inszenierung Vincent Boussard Bühnenbild Vincent Lemaire
Kostüme Christian Lacroix Licht Guido Levi

Alex Penda – Marcos Fink – Jennifer Rivera – Bejun Mehta –
Sunhae Im – Christian Senn – Dominique Visse – Gyula Orendt
Akademie für Alte Musik, Berlin
René Jacobs

Die nächsten Vorstellungen:
5. Mai 2013, 18 Uhr
6. Mai 2013, 19 Uhr
>>>> Karten

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