Αἰαιαη oder Die Erleuchtung. Das Arbeitsjournal des Montags, dem 23. September 2013. Abermals: Das Leben als einen Roman betrachten. Sowie neuerlich Meere: Nunmehr als eine Installation im Netz.

7.40 Uhr:
[Arbeitswohnung. Britten, Violinkonzert op.15.]

Ich habe mich darein verliebt, in dieses Violinkonzert, das noch gar keine oder doch wenig Züge der späteren Musik Brittens enthält, man ahnt den Britten noch gar nicht recht, das Stück atmet gänzlich in Neoklassizismus, verwandt mit Szymnowski, mehr noch wohl mit Martinů. Aber es ist von einer gezogenen elegischen Weite, die Empfindung trägt, auch ein menschliches Pathos, leises Fragen darin. Αἰαιαη ist fließend auszusprechen, man darf die Silben gar nicht konturieren, sie haben keine Konsonanten, Sie werden es auf der Zunge spüren: Aїaìe, das altgriechische Eta noch ein, sic!, „e“, nicht „i“, aber fast nur aspiriert –
Jetzt höre ich das Konzert zum vierten Mal in Folge. Irgendwann versteht man, was im Kopf des Komponisten vor sich ging und fühlt es nach, wie er diesen Melos und seine Inkarnationen mit sich herumtrug, selbst wenn er nur Milch einkaufen ging. So trage ich Αἰαιαη. Und habe nach Verschlüsselungen gesucht, gnostischen unter anderem, weil ich anfangs an Esclarmonde gedacht habe, éclair du monde, die Frauin Foix, dann an Morgane le Fay, aber das sind alles schon, wenn auch variable, Belegungen, die ich zumal schon selbst in meinen Büchern durchdekliniert habe. Mit >>>> Argo soll das abgeschlossen sein, ich will davon keine weitere Fortsetzung schreiben; selbst >>>> Deters, sollte er sich abermals hier melden, werde ich wahrscheinlich löschen. Die >>>> vierundzwanzig Jahre sind seit langem schon vorbei – aber wissen wir, wie T e u f e l zählen? doch der odyssee’sche Faust ward nicht geholt, sondern beginnt ein neues Kapitel. >>>> Das Leben als einen Roman betrachten. Zum Beispiel sind Sie, sagen wir, auf einem Empfang, und Sie sind nicht unbegleitet, sondern haben ihn zu einer ersten Verabredung genutzt. Um Sie stehen, in Abendgarderobe wie Sie selbst, die Menschen und haben Gläser in den Händen. Es gibt eine hohe, nach beiden Seiten geschwungene Freitreppe, die Dame aber trägt, in Relation, noch viel höhere Pumps. „Da müssen Sie mir helfen“, sagt sie und hakt sich zum Hinaufsteigen bei Ihnen ein, das ja kein Steigen sein soll, sondern ein Schweben, als berührte man gar nie den Boden. Sie spüren, wie sich eine Hand um den Jackettärmel und Ihren Bizeps legt, gleichsam stutzt, noch einmal nachfühlt, kurz, hauchend geradezu, dann tut die Frau den ersten Schritt. Und als Sie, nebeneinander gehend, das ist der Sinn des Einhakens, oben auf der Empore angelangt sind, wo weitere Menschen stehen, plaudern und trinken, läßt sie, die Frau, die Hand, wo sie ist. Da ist es unversehens, als wäre gar nichts anderes denkbar, fühlbar muß das genannt sein, als wäre das so und nur so gewollt, nämlich von Geschicken bestimmt, denen Sie eine Allegorie sind, Sie und sie, und sind allein zu ihrer Verwirklichung an diesem Ort, ihrer neuen Realisierung, der durch die ganzen Jahrhunderte andere Realisierungen vorhergegangen sind und in den kommenden Jahrhunderten weitere und immer weitere folgen werden, verwirklicht dann von ganz anderen Menschen als Ihnen, der da längst schon selbst verweht, >>>> zurückeingegangen in Erde, sein wird, den es aber jetzt ergriff. Es sind Erleuchtungsmomente; so, nie anders, zeigt sich das, was wir Göttinnen und Götter nennen und unter ihnen selbst dann verstehen, wenn wir nicht an sie glauben. Wir spüren da ihren Atem. – Wie? Sie sagen, Sie ahnungsloser Pragmatiker: „Nur ihren Atem?“ Und Sie lachen auch noch, machen sich lustig? Vergessen Sie nicht: ihr Licht, der Götter, hielten wir nicht aus, es würde uns verbrennen. Gestern bereits >>>> spielte ich drauf an. Denn weil wir das wissen, lösen wir schließlich doch die Berührung, schon weil wir uns setzen und nach dem schweigenden spürenden Gang miteinander zu sprechen beginnen, jetzt wieder ins menschliche Maß, in unsere nämlich eigenen Kategorien, zurückgekehrt. Aber man kann nie wieder ganz unerleuchtet werden. Das ist, als ob da ein Glanz geblieben, den unsere Haut verstrahlt, wo sie nicht bedeckt ist: ein kaum wahrnehmbares Leuchten im Antlitz, selbst an den Händen, in den Handinnenflächen, an Hals und Nacken dort, wo kein Haar darüberfällt. Deswegen ward es hochgesteckt, noch bevor wir überhaupt wußten. Aber wir ahnten es vielleicht.
Es gehört zur Allmacht der Göttinnen und Götter, daß sie – modern sind. Daran erkennen wir ihr Weiterwirken. Sie machen sich die neuen Medien längst zunutze, wehen durch Chats und Foren, tauchen in Blogs auf, schicken bisweilen Dämonen, die, >>>> wie Puck tut, Fehler begehen und sie dann auszuwetzen haben, weil die Oberone dieser Welt nicht nur segnen, sondern auch furchtbar strafen können. Vergessen Sie also bloß nicht, während Sie dies lesen, daß wir im 21. Jahrhundert leben! Mir selbst ist das aufs entschiedenste bewußt.
Ich spreche, selbstverständlich, von einer Mystifikation. Doch ohne sie – wo wären wir? Changer la via schreibt Aragon; ich werde es Ihnen wieder und wieder wiederholen, werde beharren, mal heißblütig, mal milde, und genau dadurch Welt verändern. Denn Mystifikationen pflanzen sich fort, und nicht „nur“ imaginär, sondern vollkommen konkret. Sie können Kinder zeugen, die ihrerseits schon alte Leute, eh sie sich versehen, werden. Aber sie waren dann. Ganz, wie auch wir gewesen. Ich schreibe an einer Poetologie des Lebens, glaube nicht an die Trennung der Sphären. Αἰαιαη. Αἰαιαη oder Die Erleuchtung – welch großartiger Romantitel, auch wenn der Buchmarkt etwas gegen das alte Griechisch hätte und die Vertreter sofort „unverkäuflich“ einwenden würden. Allerdings schwingt >>>> „Ada or Ardor“ auf ganz derselben Frequenz: was in Αἰαιαηs Namen das alte Eta leistet, steigt bei Nabokov mitten aus dem „or“. Anders als seines ist aber dieser mein Roman noch nicht geschrieben, sondern gerade erst begonnen. Während Sie, auf dem Empfang, als um Gehör gebeten wird und man sich in Reihe gesetzt hat, immer wieder zur Seite schauen, dieses Profil rechts neben sich anschauen und es nicht fassen können. Da müssen Sie die Augen schließen; auf keinen Fall möchten Sie aufdringlich sein.
Aber dann, in einer andren Szene des Romans, die auch nicht Sie geschrieben haben, sondern Kairish hat sie inszeniert, erheben sich die beiden greisen Paare, und Sie, das ist die zweite Erleuchtung, verstehen. Und hören, in der nunmehr dritten, Brittens Violinkonzert: jetzt zum fünften Mal.

: 9.06 Uhr.

*******

Zweiter Latte macchiato, zur Hälfte bereits ausgetrunken. Achtundfünfzig Jahre bin ich alt und immer noch nicht fertig.

10.15 Uhr:
[Britten, Cello Symphony.]
Und >>>> d i e s e s fand ich eben. Bei solcher Schönheit ist jede Frage nach dem Copyright restlos obsolet. Eine Installation, in der sogar Sie selbst die Lesegeschwindigkeit bestimmen können.


(Ich muß mich jetzt endlich an die alten Finanzsamtsangelegenheiten setzen, um einem Zustand entgegenzugehen, der sich einmal „geordnet“ nennen lassen wird.)

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .