61: Das Arbeitsjournal des Sonntags, dem 7. Februar 2016. Vor Karlsruhe. Mit Bemerkungen zu Gaspar Noés poetischem Liebesfilm Love.


[Arbeitswohnung, 11.36 Uhr
Prokofiev, 7. Sinfonie (Nikolai Malko, 1955]

Leichte Agonie: anderthalb Tage, quasi, niedergelegen. Möglicherweise waren d o c h die Austern schuld. Denn Ciane, gestern fast direkt vor der Vorstellung, erwischte es ebenfalls; aber sie schüttelte es offenbar schneller als ich ab, wohl weil bei mir der Lebensrundungsfrust noch draufkam: >>>> Es ist den Menschen nicht klarzumachen, sie verstehen es wahrscheinlich wirklich nicht, was es bedeutet, vor einem verlorenen Leben zu stehen, hinter einem fast schon, literarisch versagt zu haben, wenn man doch gar nichts anderes ist als die eigene Literatur. Schon dieser Gedanke, dieses Empfinden läßt sich offenbar nicht vermitteln.
So wachte ich heute morgen denn auch auf: zäh, verschliert, immerhin den Magen wieder ausbalanziert. Aber ohne Lust zu schreiben. Es habe sich doch etwas gedreht, mit dem Traumschiff, schrieb mir UF: eine jahrelang bestehende Sperre sei aufgebrochen.
Das stimmt. Aber es ist nicht genug. Es ist nicht genug, weil ich über das, was ich vorgelegt habe, nicht hinausgehen kann, weil ich imgrunde alles gesagt habe, was von meiner Seite künstlerisch gesagt werden konnte. Ich müßte jetzt noch einmal nachlegen, auf dem relativen Erfolg des Traumschiffs aufbauen. Aber habe mein Pulver verschossen. Die wirklich großen Arbeiten liegen ja vor, aber liegen eben in der Vergangenheit, sind nicht angemessen wahrgenommen worden. Alles, was ich jetzt noch tun könnte, wären literarästhetische Wiederholungen, oder ich schriebe banal auf den Tag. Was ich in Arbeit habe, die Triestbriefe etwa, und was also noch fertiggestellt werden könnte, ist jetzt schon mehrfach abgelehnt worden. Und was die Lyrik anbelangt, die mich nun zu beschäftigen hätte, wurde ich eh noch nicht erwähnt. Die enttäuschten Hoffnungen wegen der Bamberger Elegien wirken nach.
Kraftverlust also. Ich habe keine Angst vor dem Alter, weil ich etwa alt werde, bewahre! Ich habe vor ihm Angst, weil die Wahrscheinlichkeit so verschwindend klein geworden ist, daß sich noch etwas wenden wird. Damit das geschieht, muß ich tot sein. Dann, freilich, könnte es noch werden.
So denke und fühle ich hin und her: ein echtes Hamsterrad. Zu lange bin ich drin gelaufen und wie der Hamster immer auf der Stelle.
Ich mag nicht mehr. Und muß doch, rein aus ökonomischen Gründen. Keine gute Voraussetzung für Kunst, allenfalls eine für Kunsthandwerk.

Aber eigentlich wollte ich etwas anderes schreiben. Nämlich bin ich >>> Schaakeijs Hinweis gefolgt, fand den >>>> Film im Netz, sah ihn mir gestern nacht an, mit Zettel an der Seite und gezücktem Stift. Ich schaue viel lieber daheim als im Kino, weil ich näher am Geschehen sitze und eben Notizen machen kann, weil ich auch stoppen und zurückschauen kann, weil ich die Handschrift verfolgen kann, Anspielungen, Leitmotive usw. Und weil der Ton bei mir über die große Anlage läuft: Ich nehme mit den Ohren besser als mit den Augen wahr, seit je. (Als Junge schnitt ich Filme mit dem Cassettenrecorder mir, also nur den Ton, und „sah“ mir die aufgenommenen Filme dann immer wieder mit den Ohren neu an).
Also.
Love. Von Gaspar Noé. (Der mir seit >>>> Irreversible ein Begriff hätte sein müssen).
Es ist mir schleierhaft, weshalb man bei diesem Film von einem „Porno“ sprechen kann. Nichts ist er weniger. Aber es reicht dazu offenbar schon hin, einen Phallus zu zeigen, wie eine Frau ihn reibt, ihn streichelt, ihn küßt. Dabei sind gerade diese Szenen von ergreifender Innigkeit, nicht zuletzt wegen der Musiken, mit denen Noé sie unterlegt, Goldberg, Gymnopédies, fast durchweg, auch in den, sagen wir, Pop-Stücken meditativ, extrem ruhig, ineinandergeschmiegt.
Erzählt wird aber nicht etwa, wie Schaakej denken läßt, eine Dreierliebe, sondern die Geschichte eines unbedingten Paars, in die eine Affaire hineinkommt, übrigens von den beiden Liebenden begonnen, von einem der beiden aber weitergeführt, und dann wird diese Dritte schwanger von ihm – worauf die Liebe zerbricht. Und die Frau fehlt ihm, wird ihm immer weiter fehlen, der Film dreht sich in Erinnerungen, findet aus ihnen nicht mehr heraus. Leiden tun schließlich alle, auch die junge Mutter. Noé erzählt die Vorgeschichte eines SichAbfindens und AbfindenMüssens, aber NichtKönnens.
Das geht sehr nah.
Schleierhaft ebenfalls, daß ein Kritiker schrieb, es gehe in dem Film „nur“ (!) um Sex. Dabei thematisiert der Film sein Thema expressis verbis selbst – womit er an vorderster Stelle der ästhetischen Moderne mitwirkt; auch die Art, wie hier ständig in ein- und dieselben Szenen kurze Verdunklungen hineingeschnitten werden, ist bezeichnend: Einzelszenen werden so rhythmisiert. Das ist von ganz erstaunlicher Modernität, zeigt ein ganz erstaunliches Formbewußtsein und, vor allem, -können. Dabei werden die Personen nie denunziert, sondern alles formt Verfallenheit. Was dabei verstören mag, ist, daß Noé die Idee persönlicher Autonomie mit dickem Stift durchstreicht: Sie ist Illusion.
Mit dergleichen macht man sich, gerade ich weiß dies sehr wohl, Feinde. Die Wahrheit findet wenig Gefolgschaft.
Vor allem läßt Noé keine Ironie zu; man liebt nicht ironisch. Der Film ist einer über Unbedingtheit. (Frappierend für mich, übrigens, daß die erste Begegnung der beiden jungen Liebenden genau dort stattfindet, wo ich vor Jahren >>>> zwei andere Liebende einander erstmals begegnen ließ, nämlich in dem Tempelchen auf dem Inselberg des Buttes-Chaumont; auch da ging es um Unbedingtheit, an der schließlich beide scheitern, wenn auch aus je verschiedenen Gründen). Mich würde sehr interessieren, was Noé, kennte er sie, zu meiner Novelle zu sagen hätte.
In anderem hat Schaakej recht, etwa daß die deutsche Synchronisation nicht gut, ich meine sogar: erbärmlich ist, vor allem in den den Film leitenden inneren Monologen des jungen Mannes. Bisweilen vergreift er sich sehr im Ton, was die Ausdrucksweise anbelangt; er ist zu grob für zugleich solche Innigkeit des Gefühls – auch dann, wenn diese verbalen Grobheiten ein Ausdruck fehllaufender Verzweiflung sind. Ich werde mir noch einmal die französische Fassung ansehen müssen, dann mit Untertiteln, um hier wirklich argumentieren zu können. Übrigens will dieser junge Mann Filmregisseur werden und sagt einmal, er wolle Filme aus Blut, Sperma und Tränen machen: Existenzessenz.
Was ihm wie uns von allem bleibt? Dieses:



Noé, Love, Schlußbild


Und es bleibt, daß jemand, wiewohl allewelt sagt, man müsse sich abfinden, sich nicht abfinden kann – und es auch nicht will.
***

Morgen abend Traumschifflesung >>>> in Karlsruhe.

5 thoughts on “61: Das Arbeitsjournal des Sonntags, dem 7. Februar 2016. Vor Karlsruhe. Mit Bemerkungen zu Gaspar Noés poetischem Liebesfilm Love.

  1. Auto-Vervollständigung … gab heute, weil ich schnell das ganze Gdicht suchte, einige Hölderlin-Wörter aus dem Gedächtnis in die Suchmaschine ein:

    … / ich bin nichts mehr …

    Und die Auto-Vervollständigung machte mir daraus bzw. aus dem letzten Wort “mehr” den Suchvorschlag:

    … mehr familienhaus kaufen

    Jetzt überlege ich, ob ich in einer solchen Welt überhaupt weiter leben möchte.

    Egal wen juckts: April und Mai und Julius sind halt ferne,/
    Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne!

  2. @ANH zu “Love” Ah, wunderbar, dass Sie ihn sich angesehen haben und also ihre Gedanken dazu hier nun zu lesen sind! Nein, “Love” ist wahrscheinlich nichts weniger als ein Porno, aber ich dachte, ich wecke mit dieser Bezeichnung vielleicht die Aufmerksamkeit des einen oder anderen Lesers hier. Die Originalsprache ist übrigens nicht Französisch, sondern ein rührend gebrochenes Englisch, dass sich auch ohne Untertitel sehr gut verstehen lässt (Aomi Muyock, die die Elektra spielt, ist z.B. Schweizerin). Und ja: Noe macht tatsächlich in unnachahmlicher Weise Gebrauch von stereoskopischer Technik, weshalb es sich wirklich lohnt, den Film mit 3D-Brille im Kino zu sehen.

  3. Das ging mir … nun ganz anders, ich fand das 3D sinnlos.

    Als Irreversible-Begeisterte war ich auf Love sehr gespannt, und ich finde, der Film hat vieles richtig gemacht, wie Du, Alban, schreibst. Aber die Geschichte in 3D zu filmen, war so überzogen wie viele der Beziehungsbilder, denn Liebe geht auch in dieser Absolutheit anders.

    Gruß & Kuss!

    1. @Maria zu Noé. Welche Beziehungsbilder meinst Du?

      (Zu der 3D-Version kann ich nichts sagen, weil ich den Film in 3D nicht gesehen habe, kann mir aber vorstellen, daß Du recht hast. Freilich habe ich, außer Camerons Avatar, überhaupt noch nie einen Film gesehen, dessen 3D-Technik, geschweige denn -Poesie, überzeugend gewesen wäre.)

      Eine noch weitere Bemerkung zu dem Film >>>> dort.

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