Von den Trögen. Das Arbeitsjournal des Montags, dem 18. Juli 2016.


[Arbeitswohnung, 8.15 Uhr]

Mal wieder eine Magenattacke, was blöd ist, wenn man telefonisch Vorbewerbungsgespräche führen will und sollte. Magendarmtee also, statt Kaffee. Mein Bett wie in ‘ner Matratzengruft. Besser, ich wechsel mal die Bezüge. Hübscher Doppelsinn. Schon darum werde ich heute, nach zweitägiger Pause, unbedingt wieder zum Training radeln.

Gestern kam ich nicht mehr dazu. Von frühmorgens bis in den frühen Nachmittag an meiner >>>> Polemik gegen Clemens Setzens ZEIT-Artikel zu Keith Jarrett gesessen, dann eingestellt, danach korrespondiert, u.a. mit jemandem, der Jarretts bereits wieder nächstes Konzert besucht hat, ihm dann auch begegnet ist. Er war es, der mich auf Setzens Text erst aufmerksam gemacht hat; der wär mir ohne das entgangen. Ich lebe so entfernt von allem in quasi meiner eigenen, von den Kulturbetrieben fast isolierten Welt.
„Übrigens ist Jarrett ein sehr freundlicher, zuvorkommender, auffallend kleiner Mann, wenn man ihn so erlebt“, schreibt mir der Brieffreund. Er, Jarrett, habe Europa nur noch verlassen wollen, wohnte für die Zeit seiner Tournee in Nizza, und zwar keine 100 Meter von der Stelle entfernt, an der >>>> der Lastwagenattentäter erschossen wurde. „Wenn man mal Leichen vom Hotelfenster aus gesehen hat, mag man nicht mehr dorthin zurück.“

1982, meine erste Begegnung mit Jarretts Musik. Klar, Köln Concert. Ein Freund brachte mir, der ich gerade aus der obsessiven Leidenschaft zu B. herauswar, vor ihre Tür gesetzt quasi, zwei Tonband-Cassetten mit, nicht als Trost, sondern wie einen Schubser, mich nach einer nächsten Frau umzusehen. Jarretts Köln Concert und Chopins Nocturnes.
Es war Frühling.
Dann der Raum 309 des Philosophikums Frankfurt am Main.
„Warte mal. Ich möchte dich kennenlernen. Darf ich?“
Sie lachte, nahm mir den Hut vom Kopf und setzte ihn sich selbst auf. Setzte sich in die Straßenbahn, behielt ihn, bis wir uns nächstentags trafen.
Frédéric Jarrett, Keith Chopin. Adorno-Arbeitsgruppe mit Manuela Müller, Iris Radisch, Axel Rucker und „Rollo“, dessen richtigen Namen ich bis heute nicht weiß. Er war der einzige Apfelweinjunkie, der mir jemals begegnet ist. Wiederum Manuela Müllers Wohnung in der Bockenheimer Wurmbachstraße, wo wir uns stets trafen, wurde Jahrzehnte später zum Spielort in >>>> Argo. Was aus Iris Radisch wurde – in jener Zeit die schönste Frau der gesamten Universität, und zwar mit großem Abstand – ist allgemein bekannt; was aus Manuela und Rollo wurde, weiß ich nicht; Axel Rucker fand man vor zwölf Jahren hier in Berlin >>>> tot in seiner Wohnung auf – bereits verwesend. Ich wußte nicht, daß wir wieder in derselben Stadt lebten; seit ich aus Frankfurt weggezogen war, hatten wir keine Verbindung mehr. Er hatte sich hier in eine quasi Eremitage zurückgezogen. An der Universität war er ein sinnenfreudiger Mann gewesen, allerdings – im Sinne von „bequem“ – leicht ermüdbar. Er eröffnete ein Café, das nach Beethovens opus 111 benannt war. Ich bediente dort ein paar Wochen lang. Die Tortellini kamen aus der Dose und wurden in der Mikrowelle erhitzt; es ist nicht schwer, den Katzenfuttergeruch zu reaktivieren, den sie danach verströmten. Noch heute wundere ich mich darüber, daß sie die Bestellrenner waren. Das reichte allerdings nicht hin, das Café auf Dauer am Laufen zu halten; die seinerzeitige Intelligenzija blieb dem Laumer und dem Bauer treu. Es lag dies allerdings auch daran, daß Rucker sein Café als persönliches Wohnzimmer betrachtete und sich dort entsprechend benahm. Es konnte vorkommen, daß er Gästen im Bademantel öffnete, Schlappen an den nackten Füßen.

Ich hatte angefangen, den >>>> Wolpertinger zu schreiben, kam allerdings lange nicht über die Erste Abteilung hinaus. Immerhin studierte ich noch, und zwar intensiv, war mir aber schon der Unwahrscheinlichkeit bewußt, tatsächlich einen Abschluß zu machen. Ein freier Schriftsteller zu sein, das reizte zu sehr.
Ich hatte Paulus Böhmer kennengelernt, es war sofort eine Freundschaft entstanden. Joachim Veil, damals Jungstar bei Suhrkamp, riet >>>> Harry Oberländer dringend, mehr Fleisch zu essen. Bisweilen saß >>>> Elmar Podlech bei uns, gestorben 2008, ein heute a u c h schon vergessener Name, ganz wie Veils. Sein Hörspiel Tod und Leben des Ferdinand Lasalle war seinerzeit berühmt.
Melusine Huss führte noch ihre legendäre Buchhandlung, die ein paar Jahre später Jürgen Lentes übernehmen würde; ihn hat man ebenfalls, vor kurzem erst, >>>> tot in seiner Wohnung gefunden. Wiederum zu Böhmer gehörte noch unabdingbar >>>> Uve Schmidt, der der erste war, mir zu prophezeien, daß der Literaturbetrieb jemanden wie mich, wenn er ihn überhaupt hineinließe, sofort wieder ausscheiden würde: „Du bist kein Lobbyist, nicht verläßlich, verweigerst Schulterschlüsse, siehst nur die Kunst. Das ertragen deutsche Betriebsnudeln nicht.“

Lange lange her, das alles.
Und jetzt, fünfunddreißig Jahre später, versuche ich, einen Job als Lehrer zu bekommen. Als stünd ich wieder ganz am Beginn. Daß da ein Werk ist, interessiert keine Sau. Was sollen Sauen mit Kunst aber auch anfangen? Interessiert sind sie allein an den Trögen. Ich derweilen, siehe oben, beginne damit, meine Toten zu zählen. Mein Glück freilich ist, sehr junge, vergleichsweis’, Kinder zu haben.

ANH

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .