Was darf ein Genie ODER Die Nobilitierung des beleidigten Kleinbürgertums ins Kunstrichterwesen. Clemens Setz besucht für ZEITonline Keith Jarretts Wiener Konzert.



Keith Jarrett, 2003
Bildquellen: >>>> wikipedia/>>>> Olivier Bruchez


Der Herr Clemens Setz durfte für ZEITonline in den >>>> Goldenen Saal zu Keith Jarrett. Da wäre auch ich gern gewesen. Und wie ein kleiner Junge nimmt Setz Platz: „Ich war aufgeregt.“
Sowas rührt uns. Guter Einstieg also in den Text: Die Sympathie der Leser:innen is‘ schon gewonnen. Fast fühlt er, der Herr Setz, des „Held(en) meiner Jugend“ Hand, also Jarretts, väterlich auf seiner Schulter bereits, vielleicht sogar den Finger auf der Stirn: dort, wo das Dritte Auge. Der Abend wird ihn, er vibriert, erleuchten; denn vorher nie hat er seinen Helden live erlebt. Was vielleicht an den hohen Eintrittspreisen lag; jetzt aber, nach Jahrzehnten des Verzichts, geht er als Presseverteter hin. Und wir, wir dürfen dabeisein.
Nur wirkt der Held, als er auftritt, nicht heldisch. Oh Schreck. Oh Enttäuschung. „Er sah nicht sehr glücklich aus“. Und sagt auch noch, dieser Held: Ich habe mit Euch nichts zu tun, die ihr euch permanent ein Bild, ähm… Foto machen müßt. Ihr geht mich nichts an, also auch du, lieber Clemens, gehst mich nichts an. Denn auch er, der Herr Setz, hat schon geknipst, wenn auch nur den Altar: „… vor dem Konzert hatte ich von meinem Platz aus ein Foto des leeren Klaviers gemacht und es auf Twitter hochgeladen.“ Wobei: ein leeres Klavier, was meint er damit? Fehlten dem Flügel die Saiten? Ja, Setz hat grammatisch sogar, denn er ist ein Stilist, das Klavier selbst hochgeladen. Fürwahr eine mediale Welt.
Da schon zieht ein sich dann noch viel schrecklicher zerfasernder Riß durch die Idolisierung. Denn Jarrett sagt nicht etwa, kommt, die ihr beladen seid, an mein Herz, sondern wehrt die erlösende Einswerdung ab. Das ist brutal, wir verstehen Herrn Setz. Doch wer lobe, schrieb Nietzsche, meine immer: du bist von meiner Art.
Anstelle nun aber in der gebotenen Distanz die vom Pianisten erbetene Konzentration zu leisten, ist der Junge als Jünger verletzt. Wie gerne doch wär er Evangelist geworden! – nicht grad zwar der fünfte, doch beinah fast so, nämlich, wenn auch nur online, in der ZEIT. Bloß will ihn Jarrett als Jünger nicht haben. Der Weg ist vom Jungen zum Jünger versperrt.
Drum spitzt der Herr Setz, übrigens ein Kollege von mir, seine Finger für eine neue Textdatei >>>> und rächt den Jungen in sich. Dabei ist er doch 34 unterdessen, man könnte ihn fast für erwachsen halten. Doch die Sehnsucht saß einfach zu tief. Weshalb er nun von „zynischer Musik“ schreibt, von der er aber nicht einmal weiß, „ob es gut war“. Er habe ihr, seiner schweren Kränkung halber, nehmen wir an, gar nicht mehr folgen können. Den Zusammenhang zwischen der permanenten Verwendung von Handies und dieser seiner Konzentrationsschwäche stellt der Herr Kollege Setz selbstverständlich nicht her, wiewohl sie Jarrett in einer Anrede des Publikums direkt zum Thema gemacht.
So ist in Wahrheit zynisch, oder dumm, alleine Clemens Setz. Denn Jarretts Empfindlichkeiten sind seit langem bekannt; nach dem Frankfurter Eklat von 2007 ging davon Botschaft durch den gesamten Blätterwald, auch da schon aufgeregt ‚betroffen‘ bis beleidigt, ja hysterisch. So daß Setz vor seinem Konzertbesuch nur etwas recherchieren hätte müssen, und zwar >>>> bei seinem Auftraggeber selbst, um zu verstehen, worum es eigentlich geht, sowohl Jarrett als aber auch prinzipiell: Was will Kunst, was will welche und vor allem: was unterscheidet sie vom Entertainment? Dazu kommen die verschiedenen Künstler:innen-Persönlichkeiten, ihre Narzißmen, ihre Verwundungen, ihr Temperament. Gerade bei einem Pianisten wie Jarrett, der sich doch schon längst nicht mehr ohne weiteres allein dem Jazz zurechnen läßt, auch wenn die Improvisation das Zentrum seines musikalischen nicht nur Denkens b l e i b t, nein vor allem Selbstverständnisses, reicht es nicht hin, solche Setze… Verzeihung, Sätze zu schreiben: „Aber es klang stellenweise immer noch herrlich. Besonders der Blues, dieser Rhythmus, derb und geil“ – ja, hat der junge Mann denn überhaupt nichts kapiert?
Schon in Jarretts Zeit des schweren Burnouts, 1996, war im ersten Teil des Neapelkonzertes zu hören gewesen, wie er suchte, weil er offenbar die Phrasen nicht wollte, zu denen seine Musik sonst würde, in die sie sich verdinglichen würde. Wie er damals das dann endlich gefundene Thema fast beiläufig verwarf, das seine Hörer:innen aber aufatmen ließ, darüber hätte Herr Setz, bevor er so abfällig schrieb, ebenso nachdenken können wie darüber, welche Wende schon La Scala von 1995, spätestens Radiance von 2002, allerspätestens das Pariser und Londoner Testament (!!) von 2008 bedeutet haben, ästhetische Lichtjahre vom berühmten Köln Concert (1975) entfernt; wie hier mit einem Mal die Improvisationen nach Alban Berg und Paul Hindemith klangen, und Bartók und Ligeti kamen hinzu – kurz, welche gravitätischen Spuren Jarretts europäische Studien von Bach bis zur jungen Moderne der Zweiten Wiener Klassik und über sie weit noch hinaus in seine Improvisationen gruben und -graben; daß ihn der unmittelbare Schönklang kaum noch interessiert, weil er nämlich für wohlfeilen Pop genommen wird (Setz: „Ich hatte manchmal Gänsehaut. Aber was heißt das schon.“ – genau!: was heißt das schon?). Und es ist zynisch, gegen Jarrett ausgerechnet Cage zu stellen, bei dessen Musiken einem wie Setz ganz sicher die Gänsehaut sowieso ausbleiben würde. Klar, daß er bei dem, was Adorno Anstrengung des Begriffs nannte und hier die Anstrengung des verstehenden Zuhörens wäre, nur noch eingestehen kann: „Ich weiß nichts mehr von dieser Musik. Sie geht mich so viel an wie ein heiliger Text.“
Es ist dieses Moment des Heiligen, also Unantastbaren, das Setz imgrunde stört, und zwar weil es ein negativer Spiegel der von ihm, Setz, selbst vorgenommenen Idolisierung ist. Dabei hätte er doch, als kundiger Rezensent, Jarretts Gurdjeff-Einspielungen von bereits 1980 kennen können: Sacred Hymns – und also wissen, daß dieses Pianisten Spiel wie das vieler anderer Berühmter einen zunehmend religiösen Grund bekam. Den muß man nicht teilen, muß auch nicht an Gott glauben, um die Kunsthöhe etwa der h-moll-Messe zu spüren und zu verstehen. Aber man spürt und versteht sie nur, wenn man das, sagen wir, Axiom der Messe akzeptiert. Nur so, wenn man es tut, ist auch zu begreifen, wieso Atheisten à la Berlioz erlösend schöne Requien komponieren konnten. Clemens Setz aber will – oder wollte, nur wies ihn Jarrett zurecht – Ergriffensein ohne Metaphysik; er beharrte und beharrt in seinem Artikel darauf weiter, auf dem Profanen, letztlich dem Pop. „Der Held meiner Jugend“, das ist Identifikation, ich bin wie er. Hiergegen brachte Jarrett zum Ausdruck: Nein, ihr seid nicht ich, ich bin nicht ihr, aber wenn wir uns gemeinsam konzentrieren, ohne freilich daß wir wissen, wohin die Klangreise geht, dann haben wir alle gemeinsamen Anteil, gehören wir alle der Musik und werden vielleicht, nur aber eben dann, in ihr einig.
Doch von alledem einmal abgesehen. Das Fotografierverbot gehört zum Standard jeden Opern- und Konzerthauses; nur bei der Unterhaltungsmusik ist es (oft) anders; da hat man mehr Angst vor Mitschnitten, die nachher auf den Schwarzen Märkten des Internets landen und die Einnahmen der CD-Verlage schmälern. Dies interessanterweise wird akzeptiert, also das Gebot der Zurichtung zur Handelsware. Da erhebt auch mein Herr Kollege Setz keinen Einspruch, denn der Raubdruck gefährdet ihn selbst.
Aber auch dieses alles beiseite. Selbst wenn Jarrett gegenüber Fotos o b j e k t i v irre Vorbehalte hätte und insgesamt die neuen Technologien für im Kessel des Teufels, an den er überdies glaubte, gebraut hielte, selbst wenn er nichts als querköpfig-starrsinnige Thesen verträte, ja selbst wenn er seinem Publikum nicht nachvollziehbare Wutausbrüche zumuten würde, wenn er auf die Bühne pinkeln würde, wenn er beim Spielen dauernd, und die Flatschen mit aus der Kehle heraufröhrendem Schwung, auf die Saiten rotzte, wenn er abends seine Premierenfeiersuppe direkt aus dem Teller schlürfen, statt einen Löffel zu nehmen, würde – womit i m m e r er den Konsens verletzte, das il ne fait pas: letztlich kommt es nur darauf an, was und w i e er spielt. Davon berichtet Herr Setz nun rein gar nichts oder bloße leere Stanzen („stellenweise klang es immer noch herrlich“).
Dabei wäre Keith Jarrett nun wirklich nicht der erste Künstler, dessen Macken zu noch zweihundert Jahre später hintertragenen Anekdoten würden. Als Rezipienten haben wir sie, solche Macken, zu akzeptieren, auch weil vielleicht die Kunst ohne sie nicht zu haben ist, nicht eine solch hohe von dieser ungeheuren Seltenheit. Denn weiß denn der Herr Setz, für welche Überwindungen, Widerstände, ja Leiden sie der Ausdruck sind, deren „reiner“ dann die Kunst wird, indem sie das Persönlich-Biografische von sich abschält? – Nein, er weiß es offensichtlich nicht. Dennoch darf er drüber schreiben, sogar für die ZEIT, und darf schreiben: „Ich konnte der Musik nicht folgen.“ Ja, verdammt, dann schweigt man und verfaßt nicht eine „Kritik“!
Es wissen von diesen Zusammenhängen offensichtlich nur wenige Menschen noch. Die Schleifung des Künstlers vom nur schwer integrierbaren Sonderling zum bei BMW gestylten, aerodynamischen Manager seiner selbst, der wie ein Verkaufschef von Siemens und Bayer sich gesellschaftlichen Usancen anzuschmiegen habe, ist, jedenfalls im Herrn Setz, so vollendet vollzogen wie in den meisten Leuten der die Kultur bestimmenden „guten“ Kreise, von den Kultusministern bis hinab zu den Öffentliche Gelder verteilenden Juroren.
Aber wie?! Da wagt es dieser junge Mann, ausgerechnet Cage als seinen Betriebsgenossen zu nennen? Gegen Jarrett? Es ist nicht zu fassen. Klar, die Toten lassen sich unschwer ans Herzerl drücken, heute liebt man auch Genet. Der würde unterdessen, lebte er denn noch, keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen; auch Einar Schleef entspräche nicht mehr den Haltungen, die Zuspruch und Förderung erlauben. Breton gar würde wie aussätzig gemieden, denn der schlug mit seinem Gehstock einem Kritiker den Arm entzwei. Was sich nun wirklich nicht gehört.
Insofern geht es hier gar nicht, oder nur beiläufig, um die Meinung meines Herrn Kollegen Setz. Vielmehr steht sein Artikel für eine nicht mehr nur noch „Tendenz“ der gegenwärtigen öffentlichen Kunstbeurteilung. Alleine deshalb gehe ich auf ihn ein; Keith Jarrett muß der Setz nun wirklich nicht stören. Wohl aber alle, die nicht Star und trotzdem nicht bereit sind, sich den Marktgeboten, mittlerweile sind es unausgesprochene Gesetze, ohne Widerstand zu beugen. Alle, denen Widerstand überhaupt noch ein Begriff in der Kunst ist. Deshalb, nur deshalb und um deretwillen, mithin für die Kunst-selbst, ist des Herrn Setzens beleidigtem Text eine deftige Ohrschelle zu verpassen, anstelle ihn achselzuckend beiseitezulegen, was man eigentlich tun sollte. Und ihm sein Honorarchen gönnen.

Als ich formulierte, >>>> der Pop sei die Ästhetik des Kapitalismus, vergaß ich, ironisch hinzuzufügen: und seine Werkzeugkiste*. Aus der hat Herr Setz den Hammer gekramt, um ihn zu schwingen. Wir sind doch einig mit unseren Stars, wir tragen ihre Schuhe, ihre Jacken, wir appliziern uns ihre Tattoos; wir sind sie und alle eines, so wie es auch keinen Unterschied zwischen den E- und den U-Künsten gibt. Und selbst wenn wir selbst nicht so wie Jarrett Klavier spielen können, hat er uns gewiß sein zu lassen, daß wir es zumindest könnten, und darf nicht etwa zeigen, wie 1996 in Neapel, daß er sich selbst nicht sicher ist. Dann sind wir‘s uns nämlich auch nicht. Das läßt sich nicht ertragen. Dagegen schrieb vor mehr als einhundert Jahren Gustav Mahler, ob einem Kunst gelungen sei, das werde man als Künstler möglicherweise niemals erfahren.
Der Herr Setz hingegen berichtet: „Gegen Ende spielte Jarrett einige Stücke, die er entweder kopfschüttelnd lachend beendete oder mit einem Achselzucken begann.“ Woraus er, Setz, ‚folgert‘: „Er schien uns zu sagen: Ihr beklatscht ohnehin alles, also was soll’s, hier ist ein Blues.“ Schon dieses uns ist infam, zumindest gegen die Möglichkeit blind, daß hier jemand wirklich sucht, eine Suche aber eben n i c h t bedeutet, daß man auch findet. Vielmehr unterstellt des Herrn Setz Formulierung ein allgemeines Einiges, das von Keith Jarrett, obwohl doch dessen Idol, beschädigt worden sei. Der Künstler, der seine Arbeit nicht schützt, indem er nur Vollendetes, längst Fertiges also, und damit Verdinglichtes zur Aufführung bringt und dieses eben als Ware, ist ihm, dem affirmierten Rezensenten, Skandal. Dahinter dräut die Zielgruppenfrage: „Sie müssen, Herr Künstler, ans Publikum denken.“ Da Jarrett genau dies nicht tat, konnte mein Herr Kollege Setz weder mehr, noch wollte er es, hinhören. Anstatt von dem, was er zu erfassen versuchen sollte, zu erzählen, entblößt er seine Inkompetenz bis auf die osteoporotischen Knochen: „Ich weiß nicht, ob es gut war.“
Welch ein Armutszeugnis also, das ZEITonline auch noch abdruckt. Dabei hatte Jarrett nur gesagt, ich diene nicht der Quote. Was für jemanden mit der erlittenen Erfahrung eines >>>> langjährigen Erschöpfungssyndroms vielleicht schlichtweg, um am Leben zu bleiben, die notwendigste Maßnahme ist: niemandes Lakai zu sein und es niemals wieder zu werden, auch und schon gar nicht eines Publikums. Clemens Setz hätte Keith Jarretts Haltung also auch einfach nur menschlich verstehen können, selbst dann, wenn ihm ihre möglichen künstlerischen Gründe fremd sind, weshalb er sie nicht teilt noch jemals kennen wird.

[*) Die Hinzufügung stammt nicht von mir,
sondern während eines Gespräches mit ihr
von >>>> Phyllis Kiehl]




Zugrundeliegende Texte:
Clemens Setz, >>>> Wie ich Keith Jarretts Feind wurde
Wolfram Goertz, >>>> Seine zwölf Gebote


***

P.S.: Imgrunde, wenn nicht mal mehr Künstler Künstler verstehen, können wir sie abschaffen; und die Kunst selbst dient sich komplett dem Konsens und Konsum an. Womit sie sich selbst abschaffen wird. [ Aufgrund des >>>> dort formulierten Einwandes Andreas Wolfs gestrichen, also zurückgenommen. ANH, 18.7.]
P.P.S.:
„Wann wird der Kommunismus erreicht sein?“ „Wenn wir die Überflußgesellschaft erreicht haben werden.“ (Breschnew in den Siebzigern) || „Erst einer befreiten Gesellschaft stirbt Kunst ab.“ (Adorno in den Sechzigern)

44 thoughts on “Was darf ein Genie ODER Die Nobilitierung des beleidigten Kleinbürgertums ins Kunstrichterwesen. Clemens Setz besucht für ZEITonline Keith Jarretts Wiener Konzert.

  1. Argumentativ fein und dezidiert auf den Punkt gebracht – insbesondere den Aspekt des Warencharakters.

    Auch mir ist es ein Rätsel, weshalb die „Zeit-Freitext“-Redaktion die Kritik des Quengelbengels druckte, anstatt jemanden schreiben zu lassen, der sein Metier versteht. Auch sprachlich. Ein Konzertsesselbeleger, der der Musik nicht folgen kann und nicht weiß, was er hört, ist kein gut geeigneter Kritiker. Würde ein „Zeit“-Redakteur im Urlaubsflieger sitzenbleiben, wenn der Pilot kurz vor Start über Bordlautsprecher verkündet: „Leider kann ich das Flugzeug nicht richtig fliegen, aber runter kommen sie alle.“?

    Aber Kritik von Ahnungslosen scheint mittlerweile (oder seit einiger Zeit) auch die Feuilletons erreicht zu haben.

  2. @ANH Fast schon wäre ich, lieber Herr Herbst, ob des bösen Blutes Ihrer vorsätzlich ad personam gezielten Replik („ja, hat der junge Mann denn überhaupt nichts kapiert?“) auf einen, wie ich finde, klug und schön geschrieben Text in Ratlosigkeit versunken. Dann fiel es mir wie Brillengläser von den Augen: Hier kann es sich nur um die Antwort des böse blutenden „Universums“ handeln, das von Clemens J. Setz „unterbrochen“ wurde.

    1. „ad personam“. Was wollen Sie ausdrücken, lieber schaakej? Meinen Sie ein argumentum ad hominem? Nun jà, dies wäre dann eine tatsächliche Replik auf Setzens in seiner „Kritik“ eingenommenen Haltung. Wenn Sie aber meinen, ich hätte bewußt das eigentliche Thema vermieden und allein Setzens Person angegriffen, weil mir in der Sache selbst die Argumente fehlten, so haben Sie meinen Text nicht genau gelesen oder bewußt fehllesen wollen. Jedenfalls habe ich zu Jarretts Musik, um die es ja gehen sollte, geradezu extrem mehr geschrieben als der Herr Kollege Setz. Insofern scheint mir ‚ad personam‘, in Schopenhauers Sinn, vielmehr jener selbst geschrieben zu haben.
      In einem freilich sind wird einig: Jemand, der es vermag, per Handy ein Klavier zu Twitter hochzuladen, hat selbstverständlich einen klugen und schönen Text geschrieben. Wer wär ich, daran Zweifel zu haben?

    2. @ANH Also ich meine es ungefähr so: „Mit dem Argumentum ad personam unterstellt man dem Gegner, dass ihm allgemein die Fähigkeit das nötige Fachwissen fehle („Amateur“), so dass von ihm auf dem betreffenden Fachgebiet von vornherein keine zutreffenden Meinungen zu erwarten seien. Mitunter wird versucht, durch den Hinweis auf für bestimmte Zuhörer negativ besetzte Eigenschaften der Person (Geschlecht, Profession, politische Orientierung etc.) Vorbehalte gegenüber der Meinung des Betreffenden zu erzeugen. Da die Wahrheit einer Aussage jedoch nur von der Wahrheit der Prämissen abhängt, kann die Validität einer Aussage unabhängig von der Person getroffen werden.“ (Wikipedia, Artikel „Scheinargument“)

      Ein weiteres Argument, das sich gegen die Person des Argumentationsgegners richtet, ist das Tu-quoque-Argument, mit welchem versucht wird, das eigene Verhalten mit einem ähnlichen Verhalten des Gegners zu rechtfertigen.

    3. @schaakej (2). Ich habe dem Gegner nicht unterstellt, daß er kein Fachwissen habe; vielmehr hat er de facto keines gezeigt – in einem Text eben, der so etwas aber voraussetzen sollte. Es muß übrigens nicht einmal Fachwissen sein, also ein gesichertes; Engagement kann oft völlig genügen – und damit die Bereitschaft, sich einzulassen. Die hat Herr Setz verweigert.
      Es ist sein Recht, aber wie gesagt: dann hat man nicht drüber zu schreiben, also keine öfentlichen Urteile anzugeben.

      Zum tu-quoque-Argument: Ich habe mein Verhalten nicht gerechtfertigt, sondern – allenfalls – das Verhalten des „Gegners“ gespiegelt. Das ist etwas anderes. Im übrigen, ich schrieb’s ja schon, habe ich nicht nur gespiegelt, sondern nachgeholt, was Setzens Aufgabe gewesen wäre: über Jarretts Musik geschrieben und zudem darüber, was mir hinter seiner als so schroff empfundenen Haltung zu stecken scheint. Ein solcher Einfühlungsversuch wäre von Herrn Setz zu erwarten, nein sogar zu verlangen gewesen. Ansonsten gilt hier gleichfalls: Maul halten, setzen.

  3. Schlechter Text. Sie argumentieren nicht sachlich. Die meisten Argumente gegen Setz leiten Sie aus Unterstellungen ab, die Sie aus der nebenbei gefallenen Floskel „Held meiner Jugend“ willkürlich ableiten. Etwa dass Setz nach irgendeiner Art von Einswerdung mit dem Idol strebte und von Jarrett darin enttäuscht werde. Steht doch so überhaupt nicht bei Setz drin. Setz schreibt doch nur, dass er Jarretts Musik eigentlich mag, und dass er jetzt von dem Konzert so enttäuscht ist und der Musik nicht folgen kann, weil Jarrett einen Rahmen schafft, der ihm suggeriert, dass das Publikum eigentlich nur lästiger Störer bei einer Aufnahmesession ist. Wenn Setz schreibt: „Ich konnte der Musik nicht folgen“, dann begründet er doch auch, warum das so ist. Weil man eben tatsächlich nicht mehr vernünftig zuhören kann, wenn man zu sehr damit beschäftigt ist, darauf aufzupassen, nur ja nicht hörbar zu schnaufen. Aber Menschen atmen nunmal, sie husten auch, oder ruckeln ihren Arsch auf einem knarzenden Stuhl zurecht.

    Der ganze Salbader zur Warenhaftigkeit der Kunst geht doch ganz an der Sache vorbei, denn in Wahrheit ist es doch Keith Jarrett, der mit dem ungemein erfolgreichen Köln-Concert dieses Label „XY-City-Concert“ geschaffen hat und davon nicht ablassen mag, weil die Marke bis heute so gut zieht, obwohl er ein echtes lebendiges Publikum für seine Improvisationskunst offenbar gar nicht gebrauchen kann.

    Und was für ein Schmarrn ist bitte dieses „wenn nicht mal mehr Künstler Künstler verstehen, können wir sie abschaffen;“ Hat Goethe etwa Kleist verstanden, oder Schiller Hölderlin? Hat Brahms Wagner verstanden? Haben die Jungs der Gruppe 47, die Celans Vortragsweise mit der von Goebbels verglichen, Celan verstanden?

    Ich halte fest: Setz versteht Jarrett nicht, und Herbst versteht seinen „Herrn Kollegen“ Setz nicht, und dennoch müssen wir die Kunst nicht abschaffen. Die Kunst lebt geradezu davon, dass sie so heterogen ist und Widersprüche erzeugt, auch zwischen den Künstlern. An dem Tag, wo alle Künstler alle anderen Künstler komplett verstehen – an dem Tag müssen wir die Kunst nicht mehr abschaffen, da ist sie bereits abgeschafft.

    1. @Andreas Wolf. 1)
      Weil man eben tatsächlich nicht mehr vernünftig zuhören kann, wenn man zu sehr damit beschäftigt ist, darauf aufzupassen, nur ja nicht hörbar zu schnaufen:Hier liegt in der Tat Herrn Setzens Problem. Wenn man so etwas nicht kann, hat man keine Kritiken zu schreiben; so einfach ist das. Wenn Sie in klassische Konzerte gehen, ist Konzentration geradezu immer Voraussetzung wie der Umstand normal, daß permanent gehustet und geschnieft wird. Konzentration bedeutet aber gerade, daß man es vermag, sich davon nicht ablenken zu lassen. Das mag nicht jedem gelingen; jemandem aber, die/die über Konzerte dann schreibt, hat es das sehr wohl.
      2)
      Salbader zur Ware? Klar, das ist ein Pop-Argument. Lassen wir’s dabei. Ob allerdings Jarrett selbst das „XY-City-Concert“-Label „geschaffen“, nun ja, das, würde man juristisch formulieren, muß aus Gründen des Nichtwissens bestritten werden. Aber Sie scheinen vertrautere Informationen zu haben.
      3)
      Künstler verstehen nicht Künstler. Da haben Sie recht, Ihre Argumente stechen. Manchmal überwältigt halt auch mich eine Sehnsucht. Ich möchte sie eine Hoffung nennen. Was allerdings die „Jungs“ der Gruppe 47 anbelangt, da bin ich mir nicht sicher, inwieweit es sich tatsächlich um Künstler gehandelt hat. Aber das ist auch wurscht. Goethe und Kleist war allerdings eine absolute Katastrophe. Ich fürchte, ähnliches geschieht auch noch heute.

      Zu Ihrem „schlechter Text“, nun ja, das gebe ich an Herrn Setz und Sie zurück. Aus „Held meiner Jugend“ und „ich war aufgeregt“, also Jahre später, ist, was ich schrieb, durchaus ableitbar. Und es bleibt ein Fakt, daß Setz zu Jarretts Musik nichts als hohle Phrasen schrieb. Es konnte sich ja nicht konzentrieren. Kann vorkommen, auch zum Beispiel aus Ärger. Aber dann schweigt man hinterher halt. Schon weil es, wie abermals Nietzsche bemerkte, sehr schwierig ist, einem Größeren auf den Kopf zu spucken. Ich hingegen mußte mich nicht mal in die Zehenspitzen strecken.

    2. Setz‘ mangelnde Konzentration lag ja genau nicht am Husten der Sitznachbarn, sondern an Jarretts Publikumsbeschimpfung. Vielleicht sollten Sie den Text von Setz nochmal lesen, bevor Sie drüber schreiben.

      Und natürlich habe ich keine Insider-Infos über Jarrett und sein „XY-City-Concert“-Label. Aber es erscheint mir halt evident: Er hasst und beschimpft permanemt das Publikum und gibt dennoch immer Livekonzerte auf CD raus, jedes Konzert wird mitgeschnitten. Ihm gehts halt um die CD, die Ware, den Reibach – nicht um das Publikum des Abends. Die nerven nur. Das ist in der Tat mein Eindruck.

      Und mit der Andage, dass meine Texte immer scheiße sind, damit kann ich komplett leben. Hauptsache ich bin kein Herr Kollege.

  4. Im Übrigen, das hatte ich noch vergessen, geht mir diese Herablassung gegen den Strich, der Herr Kollege Setz hätte sich wohl bislang nie die hohen Eintrittspreise für Jarrettkonzerte leisten können, und gehe nun wohl nur mit gratis Pressekarte rein. Das ist so blöd, so ein Distinktionsgetue, gerade weil man hier immer lesen darf, dass der Herr Herbst auch in ärgsten Finanznöten ist und in die Oper auch nur mit Pressekarte reinkommt. Was doch auch völlig okay ist, aber warum dann dem Herrn Kollegen deswegen so ein bescheuertes Bonmot reindrücken? Versteh ich nicht.

    1. @Andreas Wolf (2). Weil er die Aufgabe, für die er bezahlt wurde und für die er ins Konzert gehen sollte, nicht wahrgenommen hat. Selbstverständlich gehe auch ich mit Pressekarten in Oper und Konzerte, aber schreibe dann auch über sie und klage nicht darüber, von den Künstlern abgewiesen worden zu sein. Die eigene Befindlichkeit hat in Kritiken allenfalls am Rande etwas zu suchen; jedenfalls sollte zumindest etwas über den eigentlichen Gegenstand der Kritik zu lesen sein.

    2. Was Sie nicht verstehen, und Keith Jarrett womöglich auch nicht: Solche Ansagen durchs Mikrophon, bestimmte Leute haben den Saal zu verlassen, oder wer hustet, zerstört meine Kunst – solche Ansagen gehören eben auch zum Konzert und bestimmen das ganze Ereignis mit, die gehören zum Abend. Und natürlich muss man als Kritiker auch darüber schreiben. Die Kunst wird durch ihren Rahmen mitbestimmt, und wenn Jarrett das Publikum von der Bühne herab als Haufen Arschlöcher bezeichnet, wie kürzlich München wohl wirklich geschehen, dann gehört das auch zur Performance und man darf als Kritiker auch darüber schreiben, wo liegt denn da das Problem?

    3. Interessanter Ansatz. Einerseits den Warencharakter der Kunst anprangern, andererseits aber einem Schriftsteller das Maul verbieten wollen, weil er ja schließlich mit Pressekarte reingekommen ist, also gefälligst das Produkt abzuliefern hat, für das er bezahlt wurde: Eine schön stromlinienförmige und DIN-genormte Konzertkritik. Am besten das Genie Jarrett einfach artig wegloben. Freie Meinungsäußerung bitte nur für zahlende Kunden! Was für ein Blödsinn.

    4. Unkorrekt „wenn Jarrett das Publikum von der Bühne herab als Haufen Arschlöcher bezeichnet, wie kürzlich München wohl wirklich geschehen“

      Das ist sachlich falsch. Wörtlich sprach er von den „flashing assholes“, d.h., es war eine ganz gezielte Anrede an etwa drei Personen mit Smartphone-Kamera. Die anderen 2000 hat er definitiv nicht gemeint, und die haben es auch genauso so verstanden. Jarrett schätzt das Publikum sehr als einen konstituierenden Faktor seiner Improvisation. Darüber hat er oft gesprochen. Er kann das, was er aus sich zuweilen herausholt, gerade nicht im Studio aus sich herausholen. Er braucht das Publikum mehr, als das Publikum ihn. Gerade deshalb reagiert er gereizt, wenn das Publikum nicht die Präsenz zeigt, die er für das Entwerfen seiner musikalischen Skizzen benötigt. Das ist dann echte Enttäuschung, weil er einfach jedes Mal viel will. Diese Logik aber kann nur verstehen, wer im Konzertsaal ist und innerlich mitgeht – mitleidet.

  5. ein sehr… … pointierter text, über den man im einzelnen sicherlich streiten könnte: ob etwa setz die grammatik so sehr entgleitet, wie hier insinuiert wird; mit welchen karten der (scheiternde) rezensent ein konzert besucht, scheint auch nebensächlich.

    den entscheidenden punkt trifft jedoch diese kritik der kritik genau: an setzens text lässt sich exemplarisch die einheit von kapitalistischer vedinglichung (jarrettals „held“, als superman der jugend gewissermaßen) und völliger ignoranz gegenüber dem sakralen (der kunst) ablesen. das arbeitet anh sehr treffend heraus: wer das vermeintlich immer schon bekannte, verehrte idol erwartet und dann mit dem unverfügbaren konfrontiert wird, das diese unverfügbarkeit auch noch herausstellt, kann durchaus so reagieren wie setz.

    nur: er hätte einen anderen text daraus machen können, als denjenigen, den die ZEIT abgedruckt hat. stichwort: ad hominem. mag der titel auch redaktionell gewählt sein, so trifft er doch den text ganz genau, denn setz selbst schreibt ad hominem, gegen einen „feind“ an und muss sich demnach auch entsprechende repliken gefallen lassen. hätt‘ er, setz, eine jeanpaulsche lösung gefunden, à la „wie ich keine rezension über keith jarretts konzert schrieb“ oder dergleichen, so wäre womöglich raum für selbstreflexion, gar -ironie, freigeworden. er hat sich dagegen entschieden und in der tat eine kleinbürgerliche haltung eingenommen (vgl. die zustimmenden kommentare auf der ZEIT-website), die, konsequent durchgeführt, zu folgendem führen würde:
    beim hören wagners dächten wir nur noch an dessen antisemitismus, beim lesen eines george-gedichts nur noch an die skurrilen praktiken seines kreises (der übrigens „publikum“ gar nicht schätzte und photographien selbstverständlich komplett kontrollierte), beim lesen nabokovs und carrolls nur noch an ihre ‚pädophilen‘ phantasien, bei faust-aufführungen nur noch daran, wie goethe den tod seiner engsten angehörigen eiskalt ignoriert, das ancien régime gestärkt und die todesstrafe unterstützt hat. dann geht es uns wie setz: wir verstehen nichts mehr vom dargebotenen, können (und wollen) nicht mehr folgen sondern schütteln das philisterhaupt: wie können sich die genannten personen nur erdreisten, uns ihre kunst zu ihren bedingungen aufzuzwingen?!
    per doodle-umfrage würde entschieden, ob jarrett noch auftreten darf oder sich schlankweg ins tonstudio zur aufnahme zurückzuziehen hat. dort könnte er dann – im geiste – mit glenn gould (auch so ein „zumuter“) um die wette brummen, ohne das publikum, vulgo: den könig kunde, zu belästigen.

    das ist offensichtlich nicht anhs weg, und der meine auch nicht.

    ob künstler künstler verstehen, scheint mir dabei auch zweitrangig. die frage ist, was kritiker von ihrem gegenstand verstehen müssen, um kritiken zu schreiben. als erstes (und wenigstes): ihr gegenstand ist das werk, nicht die person des künstlers.

    1. @Aikmaier „stichwort: ad hominem. mag der titel auch redaktionell gewählt sein, so trifft er doch den text ganz genau, denn setz selbst schreibt ad hominem, gegen einen „feind“ an und muss sich demnach auch entsprechende repliken gefallen lassen.“

      Hier irren Sie, würde ich sagen. Setz schreibt überhaupt nicht „ad hominem“, so wie niemand schon per se ad hominem argumentiert, sobald er die Verhaltensweise einer bestimmten Person kritisiert. Angenommen, ich äußere mich ablehnend gegenüber den Taten eines Terroristen oder Massenmörders – muss ich mir dann meinerseits etwa repliken ad hominem (also gegen meine eigene Person) gefallen lassen?

    2. @schaakej; Sie wollen… … ernsthaft jarrett mit einem terroristen oder massenmörder vergleichen? äpfel, birnen, weiteres obst…?

      oder ernsthafter nachgefragt: was ist denn jaretts „tat“? eine ‚publikumsbeschimpfung‘, wie man seit den 60ern derbere in theatern gehört hat? oder die musik, die er spielt? und je nach dem, wofür Sie sich entscheiden: was ist an dieser „tat“ verwerflich (wie, Ihren vermuteten standpukt vorausgesetzt, an der des terroristen oder massenmörders)?

      der titel zu setzens artikels stimmt ein auf alles, was folgt. und „feind“ suggeriert ein persönliches verhältnis, das vor allem durch das zufügen von schaden oder durch das absprechen persönlicher rechte gekennzeichnet ist. das ist nicht ad hominem argumentiert? – nochmals: ich habe persönlich gar nichts dagegen, dass setz sich durch jarretts ansprachen offenbar so hat beeindrucken lassen, dass er, worüber er schreiben wollte, nicht mehr schreiben konnte. kann passieren. dass er dann aber einen text einreicht (und dieser gedruckt wird), der scheinbar als kritik eines konzertes fungiert, im Detail aber ausschließlich (dies auch @andreas wolf) über seine befindlichkeit in abhängigkeit von jarretts befindlichkeit schreibt, schafft die probleme, die ich oben in anlehnung an anhs kritik skizziert habe.

      banal gesagt: setz hat die textsorte verfehlt, anh hat (mit zu diskutierenden spitzen) daran angeschlossen. über die feinheiten der begrifflichkeit will ich nicht streiten. entscheidend für mich ist, dass sich etwas an zeitgenössischer kritik (literatur~, musik~, vielleicht weniger kunst~) zeigt, was dringend kommentierenswert ist.

    3. @Aikmaier Oh je, Sie haben mich ja völlig missverstanden…das mit dem Terroristen/Massenmörder war lediglich als reductio ad absurdum Ihres nicht sehr konsistenten Arguments intendiert. Und was die „Verfehlung der Textsorte“ anbelangt: Womit belegen Sie denn, dass Setz eben genau diese Textsorte der Konzertkritik auch nur ansatzweise vorgeschwebt haben könnte? Dem Prätext der Kolumne („Freitext“) zufolge handelt es sich schlichtweg um einen Essay.

    4. @schaakej (3) @ Aikmaier (… um einen Essay), der seinen „Gegenstand“, nämlich die Entwicklung einer Musik (den improvisatorischen Prozeß eines Konzertes), auf „personality“ reduziert, zumal mit dem Fokus auf die selbsteigen gekränkte Befindlichkeit. Es rief aus dem Wald heraus, ich rief in ihn wieder hinein. Damit muß, wie ich selbst, rechnen, wer so & so etwas schreibt.
      Bleiben wird die Musik.

      (Ebenso bleibt der Umstand, daß Jarretts Empfindlich- und Ausfälligkeiten seit mindestens einem Jahrzehnt allgemein bekannt sind. Also steht hinter Setzens Text allenfalls eine tatsächlich verblüffende Naivetät, die sich mit Kenntnislosigkeit und einer ihm aus Jugend gebliebenen und nunmehr enttäuschten Schwärmerei amalgamiert hat.. Wenn ich mir einen Boxkampf anschauen gehe, muß ich damit rechnen, daß Blut spritzt; geh ich zu Jarrett, dann damit, daß er schimpft und Stille verlangt. Wer sowas nicht erträgt, kann zuhause bleiben, niemand zwingt uns. Jarrett verweigert sich schlichtweg den Quasigesetzen von „Gemeinschaften“, also ihrem Vorschein; daß er, wie jede/r Künstler:in, ein Publikum dennoch b r a u c h t, ist davon gänzlich unbenommen. Selbst Gould, nachdem er sich völlig zurückgezogen hatte, brauchte es – so kam es zu den legendären Aufnahmen im Fernsehstudio. Aber beide, Gould wie Jarrett, sahen/sehen dies nicht als warenökonomisches Tauschverhältnis: Genau damit widerstehen/widerstanden sie den Markt-Usancen. So gesehen handelt Jarrett hochgradig politisch, was er übrigens nicht einmal wissen muß.)

    5. @ schaakej; o ja, da muss ich Sie… wirklich …… missverstanden haben. und reductio ad absurdum erledigt auch meinen zweiten versuch zu erklären, was ich gemeint habe? naja, um begriffe streite ich, wie gesagt, hier nicht.

      anh hat das wichtigste zum thema „essay“ schon geantwortet (er kommt halt früher in die dschungel als ich), lassen Sie mich nur eine beobachtung hinzufügen:

      Sie haben sicherlich recht: wenn man „essay“ über den text setzt, ist er gerettet. das liegt daran, dass heutzutage, sobald essay drübersteht, alles mögliche drunterstehen kann, das schon durchgehen wird. leider, denn der essay war im deutschen – und französischen – weiland eine sehr anspruchsvolle textgattung. (näheres bei ADORNO, wenn Sie mögen.)

      stellen Sie sich vor: x geht ins kino, schaut, sagen wir: „the revenant“, und berichtet danach seitenlang über den unsäglichen bartwuchs leonardo di caprios, der es unmöglich machte, der handlung zu folgen; oder y berichtet über eine neue einspielung von mozarts es-dur-sinfonie, kv 16, zeigt sich aber nur seitenlang entrüstet darüber, dass der kleine wolfgang amadé im frühesten jugendalter wie eine zirkusattraktion herumgezeigt und -gereicht wurde, und wie skandalös es sei, das arme wolferl so um eine gehegt, behütete und am besten antiautoritär geprägte kindheit gebracht zu haben: da könne man die musik gar nicht mehr genießen; z schließlich muss über gottfried benn schreiben, sagen wir: anlässlich einer neuen auswahlausgabe, schreibt aber zeile um zeile nur über benns multiple frauengeschichten.

      all das trüge bestenfalls für eine (langweilige) glosse, nie und nimmer für einen „essay“ oder eine ernsthafte kritik. meinen Sie nicht?

      A.

    6. @ANH/Aikmaier Ich glaube, Ihrer beider Argumentation krankt entscheidend an der falschen Prämisse, Setz‘ Text hätte in wie auch immer gearteter Weise das Konzertprogramm jenes Abends zum Hauptgegenstand. Man sollte einen Text doch immer so stark wie möglich machen, um ihn angemessen kritisieren zu können, oder? Das wäre jedenfalls die feine englische Art. Also nochmal: Setz hat in der „Freitext“-Form des Essays, wie ihn die ZEIT-Kolumne als Textsorte voraussetzt, einen subjektiven Erlebnisbericht über ein Konzert Keith Jarretts verfasst. So what? Inwiefern ist dadurch bereits vorgegeben, was jetzt im Einzelnen die Gegenstände dieses Textes zu sein hätten? Mit gutem Recht wählt Setz als Thema das Verhalten des Pianisten VOR Beginn der eigentlichen Aufführung: Jarrett habe Teile des Publikums, inklusive des Autors selbst, zu unerwünschten Personen (i.e. „Feinden“) erklärt, weil diese Fotoaufnahmen der Bühne mit ihren Smartphones anfertigten. Im Folgenden versucht Setz aus Jarretts Aktion mögliche Konsequenzen für dessen ästhetische Position abzuleiten und diese mit einer mutmaßlich entgegengesetzten Position des aleatorischen Komponisten John Cage zu kontrastieren. So weit, so unverwerflich. Zu prüfen wäre jetzt eigentlich, ob Setz Argumente gegen Jarretts Position stichhaltig sind. Stattdessen konstruieren Sie beide die angebliche Prämisse des Textes von vornherein so, dass sein Autor nur scheitern kann. Indem Sie nämlich unterstellen, Setz habe von der ZEIT den Auftrag erhalten, über die musikalische Qualität von Jarretts Aufführung zu urteilen, erwecken Sie den Eindruck, jener habe seine als „immanent“ getarnte Konzertkritik mit ungerechtfertigten Argumenten ad hominem gegen Jarretts persönliche Verfasstheit vermengt. Tatsächlich aber urteilt Setz eindeutig und von Anfang an erkennbar allein über Jarretts Akt der Publikumsbeschimpfung, was mit der Musik des Abend zunächst einmal, wenn überhaupt, nur sehr indirekt zu tun hat, nämlich insofern, als dass der Autor die nötige Konzentration für ihr Verständnis nach eigenem Bekunden nicht mehr recht aufzubringen vermochte. Mitnichten ist damit aber ein kunstrichterliches Urteil über die Qualität der musikalischen Aufführung gefällt. Vielmehr ist Setz, wie gesagt, vorrangig an der ästhetischen Position Jarretts gelegen, vielleicht an Möglichkeiten ästhetischer Positionierung in der heutigen Zeit insgesamt. Die Frage wäre eben, inwieweit seine Ausführungen zu EBENDIESEM Thema Gültigkeit beanspruchen können. Ich selbst finde Setz`Standpunkt durchaus überzeugend, vielleicht aus einer geteilten Sympathie für die Sphäre des Rezeptionsästhetisch-Konzeptuellen in der Kunst, die ich momentan zumindest in der zeitgenössischen Literatur (vor allem der Lyrik) für durchaus unterrepräsentiert halte. Aber ich kann auch der Gegenposition etwas abgewinnen – sofern sie halbwegs fair und sachlich vorgetragen wird.

    7. @schaakej (ff) & ad Steffen Greiner: 1) Fair und sachlich ist Setzens Text s e l b st nicht, sondern von vornherein als eine Polemik angelegt. Schon nicht nur die möglicherweise von der Redaktion verfaßte Headline, auch der letzte Satz des setz’schen „Essays“ macht dies ebenso offenbar wie die vielen rhetorischen Figuren, mit denen sein Autor ihn ausgestattet hat. Selbstverständlich ist deshalb auch mein Text eine Polemik voller ebenfalls Stilfiguren. Eine Kritik der Kritik der Kritik hätte nun, wollte sie sachlich, nicht abermals polemisch sein, die Virtuosität und Schlagkraft der jeweiligen Figuren zu untersuchen, zumindest zu vergleichen.
      2) Eine ästhetische Position wird von Setz mit keinem Wort behandelt, allenfalls eine soziale und auch das nur als Bericht über eine eigene Unzulänglichkeit, für die der Autor aber Jarrett anstatt sich selbst verantwortlich macht. Was an Setzens Text „Konzept“ sein soll, außer der gewollten Perspektive seiner ausschließlichen, ja pubertären Selbstbefindlichkeit will mir nicht klarwerden.
      3) Setz hat ganz sicher den Auftrag gehabt, über das Konzert zu schreiben, möglicherweise „was auch immer“. Da mag in der Tat das Problem schon liegen. Nun kann duchaus ein Teil solch eines Berichtes, da gebe ich Ihnen recht, auch die tatsächlichen oder „erfühlten“ Befindlichkeiten des Publikums und auch des Autors selbst in den Blick nehmen, aber eben nicht ausschließlich. Ansonsten wird die Verpackung (das, sagen wir, Setting) des Konzertes über seinen Inhalt gestellt – was freilich den Usancen des kapitalistischen Warenmarktes entspricht, als dessen unbedingter Parteigänger Setz sich somit erweist. Deshalb halte ich seinen Text für im politischen Sinn reaktionär. Wobei er, Setz, auch nur mutmaßt (bzw. für uns als wahr unterstellt), wie es „dem“ Publikum ergangen sei; es gibt aber aus diesem – wie wir in den Kommentaren auf ZEITonline, aber >>>> auch hier lesen konnten – ganz unterschiedliche Stimmen, deren Differenzen Setz zugunsten eines allgemeinWirs unterschlägt, das der Markt als replikante und replizierbare Käuferschicht in den Griff bekommen will.
      4) Setz nimmt auch nicht mal versuchs(essay!)weise Jarretts Position ein oder versucht, sie zu verstehen, sondern d i f f a m i e r t von Anfang an seine, dessen, Haltung als egozentrisch, sogar als diktatorisch. Es ist bezeichnend, daß Sie selbst >>>> die ausgesprochen praktischen Erklärungen diadorims aus der Erfahrung der Probleme von Solokonzerten in sehr großen Sälen nicht in Ihr argumentatives Kalkül miteinbeziehen, sondern ebenso ignorieren, wie es Setz tat.
      5) Daß Setzens wie auch meine Polemik letztlich moralisch intendiert sind, scheint mir offenbar zu sein. Die Frage ist nur, um welche und wessen Moral es geht, also was sie jeweils erreichen möchte. Insofern geht es hier, ich schrieb es schon in meinem Text, um Politik.
      6) Dafür spricht auch, daß >>>> bei Facebook, wo zu diskutieren ich mich bekanntlich aber weigere, Steffen Greiner dieser Diskussion hier vorwarf, dass die ganze Diskussion theoretisch auf dem Stand der 1940er ist, das habe ich ja wirklich noch nie gelesen, so in freier Wildbahn des Internets, wie da Pop und sein „Warencharakter“ gegen „Kunst“ in Stellung gebracht wird – womit er tatsächlich einen zentralen Punkt meiner ästhetischen Positionen trifft: nicht, daß die Theorie auf dem Stand der 40er stehengeblieben sei (er meint ganz sicher diejenigen der Kritischen Theorie, namentlich Adornos), sondern daß spätere „populäre“ Postionen sich vereinnahmend über sie gewölbt haben, ohne sie tatsächlich widerlegt zu haben. Das „alles ist gleich“ (gewonnen aus einem ebenso schon fraglichen „alles ist gleich wert“) der Popular-Ästhetiken ist die kunstbetriebliche Entsprechung der marxschen Äquivalenzform: So lautet meine These. Mit ihr setzt seit langem >>>> meine Pop-Kritik an, mit der ich möglicherweise ein ebensolcher Don Quijote, wenn auch nicht aus der Mancha, bin, wie Setz meint, daß Jarrett es sei.

    8. „Indem Sie nämlich unterstellen, Setz habe von der ZEIT den Auftrag erhalten, über die musikalische Qualität von Jarretts Aufführung zu urteilen, erwecken Sie den Eindruck, jener habe seine als „immanent“ getarnte Konzertkritik mit ungerechtfertigten Argumenten ad hominem gegen Jarretts persönliche Verfasstheit vermengt. Tatsächlich aber urteilt Setz eindeutig und von Anfang an erkennbar allein über Jarretts Akt der Publikumsbeschimpfung, was mit der Musik des Abend zunächst einmal, wenn überhaupt, nur sehr indirekt zu tun hat“ … Lesen sie das doch einmal selbst und dann frage ich Sie. Sie haben eine Vorladung, der Richter behandelt ihren Fall so, dass sie sich fragen, was aber hat das alles mit der Sache zu tun und stellt es für alle so dar, als habe er sie rechtskräftig verurteilt, auch wenn er sie dann laufen lässt, ich glaube, Sie wären mit Recht stinksauer. Die Frage ist doch, besteht nicht auch für einen Herrn Setz die Pflicht, Respekt vor der Musik zu zeigen, zumal er diesen selbst auch wohl für sich in Anspruch nimmt, statt über die Publikumsbeschimpfung – nicht einmal korrekt – zu schreiben. Ich habe es einmal erlebt, dass über die schöne Elmau berichtet wurde, wo ein Lyrikertreffen stattfand und alle Spesenritter des Feuilletons dem Ruf der Elmau gerne mit Mann und Maus und Familie folgten, in einschlägigen ZEITungen durfte man dann nachher etwas über die Lieblichkeit der Landschaft lesen, kein/e einzige/r Dichter*in wurde erwähnt, klar, kann man machen, das ist dann aber respektlos und geringschätzend und eine Einstellung, die sich so ihrem Gegenstand und den Künstler*innen nähert, halte ich für verabscheuenswert. Aber vielleicht muss erst ein Herr Setz so einen Zugriff mal bei sich erlebt haben, dann geht ihm vielleicht auf, wie Kacke und no go das ist. Ich kann mich nur wiederholen, für Jarrett spricht die Musik, was spricht für Herrn Setz und diesen Artikel? Gar nichts, er ist überflüssig und ärgerlich. Eine sich kleingeistig gebende man wird ja wohl noch mal sagen dürfen Haltung, die die bourgeoise Überheblichkeitsgeste dahinter kaschiert.

    9. @schaakej; Sie jedoch… … verwechseln prämisse und kritikpunkt. es liegt doch auf der hand, dass ein artikel in der ZEIT über das jüngste deutsche konzert jarretts eine gewisse aufmerksamkeit erfährt. und nun lese ich den artikel und bemerke selbstverständlich (so viel auffassungsgabe dürfen Sie mir zutrauen), wie wenig es setz um die musik des konzertes geht. nur weil ich die prämisse erkenne, muss ich sie aber nicht umkritisiert lassen, zumal dann nicht, wenn ich in dieser ’schreibe‘ etwas für zeitgenössische kunstkritik (ganz global formuliert) typisches wiederkenne. diadorim hat ein beispiel gebracht, weitere ließen sich hinzufügen; meine eigenen, erfundenen und überspitzten, beispiele sollten eben darauf hinweisen.

      es spricht für Sie, dass Sie setzens – tja – ‚essay‘ als rein argumentativen text lesen wollen, dessen struktur sich nun an eine mutmaßlichen (eigentlich ja erst aus diversen äußerungen zu rekonstruierenden) argumentation jarretts messen lassen müsste. mir wäre das zu anstrengend. ich würde da einhaken, wo ein essayistischer text möglichkeiten verschenkt, die er gehabt hätte; möglichkeiten etwa zur selbstreflexion oder zum perspektivwechsel. der anschaulichkeit halber zwei beispiele aus setzen text (über denn ich dann auch lange genug geschrieben haben werde):

      1) er berichtet, wie er das leere piano photographiert. im text dient das nur dazu, den autor zu jenen zählen zu können, gegen die der musiker sich später wenden wird. nun gut, aber spannender wäre es doch gewesen, über grund, sinn und zweck dieser aufnahme zu reflektieren: mit jarrett wird nicht möglich sein; und diese momentaufnahme ihre ‚aura‘ nur aus der prämisse, dass eben keith jarrett und nicht etwa der klavierstimmer ans instrument treten wird. das aber kann die aufnahme selbst nicht abbilden.

      2) jarretts aussage „Maybe you liked what I played. But I wasn’t there.“ wird von setz nur als schlag ins gesicht des publikums und als grundlage für seine these von „zynischer“ musik genommen. dass darin auch eine erstaunliche und womöglich entwafnende ehrlichkeit eines musikers über das soeben gespielte steckt, die so sicherlich ihresgleichen sucht, wird nicht reflektiert.

      schon aus diesen beiden punkten geht für mich hervor, dass setzen text unterkomplex und damit als essay verfehlt ist; als kritik des konzertes ja, da scheinen wir uns einig zu sein, ohnehin.

      mich interessiert nicht, ob man in jarretts konzerten photographieren darf oder nicht. mich interessieren weder des künstlers noch setzen befindlichkeiten. aber mich interessiert eine haltung, die über den künstler allein aufgrund von dessen befindlichkeiten und der eigenen irritation über diese urteilt, ohne auch nur ein substantielles wort über die musik des künstlers zu verlieren. so kann kritik, wie essayistisch auch immer vorgetragen, meiner meinung nach nicht funktionieren. und dass setz eben mit dieser haltung nicht alleine steht, ja dass diese womöglich symptomatisch ist, worauf ja anhs kritik der kritik gründete, scheint mir diskutierenswert. obwohl setz ansonsten selbstverständlich schreiben kann, was und wie er möchte.

      A.

  6. Also, ich habe Jarrett live erlebt, dreimal, zunächst einmal würde ich neben Herrn Setz jemand zweiten hören wollen, der dabei war, ich nehme ihm nicht ab, dass es sich genau so zugetragen hat. Anderes Beispiel, Mark Kozelek hat neulich auch mal eine Journalistin beschimpft, von der Bühne herab, hieß es und dass er ein Kind von ihr wolle und was nicht alles mehr, große Aufregung in den sozialen Netzwerken und Aufruf zum Boykott seiner Platten, zeitverzögert kamen dann allerdings weitere Berichte, die seine Aussage einbetteten darin, dass er vorher Witze auf seine Kosten machte, dass er immer fetter würde und das mit der Bühne auch immer weniger Spaß mache etc, was will ich damit sagen, wir waren nicht dabei und ich halte Herrn Setz aufgrund meiner Erfahrungen bei Jarrett Konzerten nicht für einen verlässlichen Beauskunfter. Dazu, es grassiert scheinbar ein Virus unter Autoren, der heißt: ICH ICH ICH, tatsächlich interessieren mich Herrn Setzens Empfindlichkeiten beim Jarrett Konzertbesuch wenig. Kommt ihm nicht in den Sinn, dass es dabei nicht um ihn geht, wohl aber, dass es um ihn gehen müsse. Und, wer je in einer Philharmonie war, weiß, es ist nun mal verdammt noch eins mit Solo-Klavier und Improvisation nicht einfach den Saal so zu bespielen, dass sich entpackt, was man mit seiner Musik erreichen will, im Trio schon gibt es die Probleme nicht so sehr, es sei denn, das Trio spielt auch in Philharmonien, leider landet da sehr viel Sound auch von den Rängen auf der Bühne. Aber das kommt ja niemandem in den Sinn, dass Jarrett auch handfeste pragmatische Gründe haben könnte, das zu fordern und das eben nicht für sich, sondern für alle, die gekommen sind, ihn zu hören. Ich saß neulich in der Berliner Philharmonie neben einem Menschen, der sehr schwer atmete, es standen drei Klaviere auf der Bühne und das schwere Atmen hat mich sehr gestört, dass ich überlegte, nach der Pause setze ich mich um, aber nach der Pause ging der Besucher von selbst, es ging wohl auch ihm auf, ich bleibe für gewöhnlich auch daheim, wenn ich erkältet bin und zerhuste keine Lesungen et al. Jarrett zickt nicht rum, Jarrett versucht die besten Voraussetzungen für einen unvergesslichen Abend zu schaffen, vor allem für das Publikum, ist ihm ja auch gelungen, nur bei Herrn Setz halt anders als erwartet. Das ist nun mal kein animal collective konzert, wo man durch irre Verstärkung auf der Bühne eh nicht mehr mitbekommt, wie viel Biergläser im Publikum zu Bruch gehen. Finde ich alles nicht so schwer, zu begreifen, aber, da es ja nicht um die Musik gehen soll und ein Herr Setz sein Recht auf Störung gern gewahrt wissen will, weil er sich sonst selbst so massiv gestört fühlt, dass er nicht mehr folgen mag und kann, da kann ihm einfach auch nie zu einem Jarrett Konzert verholfen werden, das ihm Genuss bereiten wird, was allerdings tatsächlich nicht an Jarrett liegt. Für Jarrett spricht die Musik, was spricht noch mal für Herrn Setz? Man kann natürlich beanstanden, dass er es hätte netter sagen können, aber es wird ihn auch wohl etwas dazu gebracht haben, dass es manchmal weniger nett ausfällt, wenn man in so einer langen Bühnenkarriere tausendfach mit Wattebäuschen geworfen hat und bemerkt, das bewirkt nichts, fährt man andere Geschütze auf, die Effekt haben.

    1. Zwar hätte Setz über die Empfindlichkeiten des Helds seiner Jugend ein bisschen besser informiert sein müssen,… aber was mich etwas irritiert, dass man dem Rezensenten nicht auch eine gewissen Empfindlichkeit zugestehen darf oder muss, die ich aus dem Text eben auch herauslese: Diese innere Gespanntheit oder Aufgeriebenheit, wenn schon ein blasierter Kommentar des Nachbarn oder irgendeine äußere Dummheit einen aus der Bahn werfen könnte. Und wenn dies geschieht gleich die ganze Rezeption verunmöglicht. Meiner Meinung nach merkt man Setz‘ Text die fragende Bestürzung über das Scheitern der Rezeption noch an. – Und es ist doch völlig legitim auch einen Text über dieses Scheitern zu schreiben? Er sollte vielleicht nicht sich als Rezension tarnen oder allzu skandalnudelhaft herüberkommen.

      Ist es nicht sogar fast ein Ähnliches, wenn Herr Herbst in einem Werk eine popkonsumistische Regung vernimmt, so dass er dieses in Bausch und Bogen verdammen muss, ohne es überhaupt ruhig rezipieren zu können? – Das heißt, ich meine ja schon, dass man diese Empfindlichkeit und vielleicht auch Überspanntheit sogar benötigt, dass überhaupt ein ästhetisches Erlebnis stattfindet, aber das schließt gerade auch immer die Möglichkeit ein, dass einem alles um die Ohren fliegt.

    2. @Phorkyas: … bloß ist um die Ohren geflogen nicht mir mein Text, sondern dem Herrn Setz der seine.
      Das, sagen wir, popkritische Moment in meiner Polemik ist ja nur ein Aspekt unter vielen anderen Aspekten; selbst gestrichen bliebe noch genügend übrig, um Setzens Befindlichkeits“journalismus“ (fast bin ich versucht, mit Kraus „Journailleismus“ zu schreiben) als das zu offenbaren, was er ist. – Aber noch einmal: Es geht mir gar nicht um Clemens J. Setz, sondern um eine prinzipielle Haltung, die extremen Raum gegriffen hat; sein Artikel ist da nur ein Beispiel unter Hunderttausenden – aber eines, das aufzugreifen sich anbot.

      (Und noch einmal, aber nur am Rand, weil es in einen eigenen Strang gehört: Wenn ich „popkritisch“ schreibe, sind davon durchaus viele Kunstwerke ausgenommen, die allgemein für Pop gelten, bzw. als solcher vermarktet werden; Jarretts Musiken etwa sind für mich ganz sicher kein Pop, ebenso wenig wie viele Arbeiten Frank Zappas, Laurie Andersons und anderer; selbst Joni Mitchells Lieder sind kein Pop, sondern Folk >>>> mit weiträumigen Überschneidungen mit Jazz. Auch die „klassische Musik“ ist eben oft keine „klassische“; indem sie, wie ich >>>> dort schrieb, zu „Classics“ wird, wird auch sie vom Pop vereinnahmt und damit zur Ware-ganz.)

    3. @Herbst: Tut mir leid, dass das jetzt wieder in die falsche Richtung gerutscht ist. Ich hatte noch über ganz andere Aspekte schreiben wollen.

      Ich glaube, ich kann vieles Ihrer Position sogar nachfühlen. Bei Jarrett geht es mir z.B. (auch) so, dass ich das Köln-Konzert ganz nett finde – die kleine Schwester von Scheiße – nein, ’s kommt mir irgendwie was klebrig, weich vor. Am bestern von allen CD’s und LP’s, die ich von Jarrett habe gefällt mir bisher jedenfalls „Radiance“, da gibt es jedenfalls für mich jene Gänsehautmomente wie bei Schönbergs Klavierstücken. – das am Rande.

      Mir scheint, woran Sie und Ihre Mitstreiter sich besonders reiben, ist die nassforsch-naive Weise mit der hier ohne jede Ehrfurcht oder Achtung ein ästhetischer Gegenstand behandelt wird, oder einfacher gesagt: eine Majestätsbeleidung (wie Setz immer wieder schreibt des „Meisters“).

      Nun es ließen sich noch vielfältige Betrachtungen dazu anstellen: zu der Konstruktion der Aura des Ästhetischen (die bei Setz fehlschlägt), sakrale Elemente des Spiels (vgl. Schiller und Huizinga)… warum das zu so einem scharfen Innen und Außen führt oder Ein- und Ausgemeindungen etc. pp.

    4. Jetzt bappt halt der Name Setz am Jarrett. Das nennt man vielleicht virales Marketing und es hat sonst nichts weiter zu bedeuten. Hätte das jetzt Lieschen Müller verfasst und nicht die Hoffnung des deutschsprachigen Literaturbetriebs, der auf ein Revival der Respektlosen Setzt, die 1000 Seiten füllen können mit gesellschaftlichen Abgründen, wäre es sang und klanglos verhaucht. Sind wir blöd, uns noch aufzuregen.

    5. Bapp“ing“@diadorim. Das ist sicher nicht zu befürchten. Es war nichts als ein jungdeutscher Pups in die internationale Geruchswelt und wird in den Hunderttausenden Fußnoten, die es zu Jarrett ohnedies gibt, verschütt gehen. Allerdings gilt bewahren und fortzusetzen die prinzipielle Diskussion über die Arten und Weisen der Kunstbeurteilung, bzw. des, da der Artikel dieses nicht einmal wahr, öffentlichen Umgangs mit Künstlern und Kunst.

    6. Aufwind „nehmen“ ist hübsch; davon „bekommen“ wird er jedenfalls keinen. Die Frage ist vielmehr, ob er die Luft auch wieder rauskriegt. Wir alle wissen, wie das mit den langen Löffeln i s t.

    7. Ja, ich erinnere mich, den Spruch hat Kling damals schon gebracht, wer mit dem Teufel zu Tisch sitzt, braucht seeeeehr lange Löffel.

  7. Das hat die gute diadorim schön geschrieben, was an der Setz-Quengelkritik nervt: „ICH ICH ICH, tatsächlich interessieren mich Herrn Setzens Empfindlichkeiten beim Jarrett Konzertbesuch wenig.“ Das neue Loslabern schwappt aufs Feuilleton über. Es wird nicht mehr über ein Konzert geschrieben, sondern über vermeintlich subjektive Erfahrungen, die beim Hören und Gucken gemacht werden (und sich leider allzuoft gleichen und insofern leider das Allgemeinste nur spiegeln, wie bei Setz): Nicht mehr Ostermeiers Hamlet-Inszenierung, sondern Eidingers Kaspereien auf der Bühne und wie man die fand und wie Eidinger auf einer Premierenfeier als DJ Musik auflegte, werden zum Thema der Kritik, anstatt daß Eidingers Spiel als Ausdruck der Sache begriffen würde. Diese Komplexitäten noch irgendwie in den Blick zu bekommen, fällt zunehmend schwer. (Ob das als Zug der Zeit zu sehen ist oder gleichsam eine ontologisch-anthropologisch fundierte Rezeptionskonstate, sei dahingestellt.)

    Wer kann mir einen guten Grund nennen, weshalb ich mich für Setzʼ Idiosynkrasien interessieren sollte, wenn ich eigentlich einen Text über Jarrett lesen wollte? Solchen Text muß man schon etwas besser und in der Komposition anders machen. Insofern ist Aikmaiers Hinweis auf Jean Paul gut: ein Schreiben als ironische Wendung, als Weise der Selbstreflexion, um zu zeigen, daß hier das Medium der Kritik selber zum Gegenstand der Kritik wird oder in einer bestimmten Weise unterlaufen werden soll. (Subjektivität ist ja nicht per se schlecht, was sich an JPs Autorenreden zeigt.) Hätte Setz sich bemüht und diesen Aufsatz nicht lustlos heruntergeschrieben und vor allem: wären Zeit-Redakteure zum Redigieren bereit gewesen, könnte aus dieser Besprechung etwas werden. So aber ist es einfach nur Wurscht, was Setz schreibt.

    ANH spiegelt Setzens Befindlichkeiten auf der subjektiven Ebene wider, was ich in diesem Falle (wie etwa bei der Konzertkarte: Warencharakter eben) durchaus passend finde, macht ihn aber zugleich inhaltlich, indem er auf Rezeptionsweisen von Kunst im kulturindustriell durchsetzten Milieu zu sprechen kommt. Wer mit seinem Arsch nicht ruhig auf einem Sitz bleiben und zuhören kann, sollte in einen Klettergarten gehen, niemand wird gezwungen, ein Konzert zu besuchen – selbst wenn es sich um Helden der Jugend, Helden der Arbeit oder sonstwas für Fetischkonstrukte handelt. Und genau da liegt Setzens Problem: In der Kunstbetrachtung sollte man von seinen eigenen Erwartungen und Fetischen absehen können. Das gelingt Setz nicht.

  8. Als Ohrenzeuge des besagten Konzerts ärgert mich die Selbstbespiegelung von C. Setz. Es wäre leicht, darüber hinwegzusehen. Aber wer immer in den nächsten Jahren im deutschsprachigen Raum den Namen von Keith Jarrett googelt, wird – den Algorithmen des Netzes sei Dank – auf dieses Rezensiönchen stoßen und ins Leere greifen: NICHTS über das Konzert, NICHTS über die Kraft und Tiefe dieser Musik. Eine vertane Chance.

    Sehr, sehr dankbar bin ich daher für Herrn Herbsts „deftige Ohrschelle“. Dachte gar nicht, dass Ohrschellen so schön klingen können! Und offenbar auch einen langen Nachhall haben.

    Jarrett war SEHR verärgert über die drei bis vier Kamera-Blitze, gerade weil sie vor der ersten Note in den bereits abgedunkelten Raum zuckten, also unmittelbar, nachdem die Bitte, auf Derartiges zu verzichten, mit Nachdruck ausgesprochen war. Doch die Echtzeit-Medien forcieren, der erste sein zu müssen. So zwitschert es live aus dem Saal: „Seht: ICH bin dabei!“

    Jarrett kam mehrfach auf dieses „Benutztwerden“ zurück, und der Nebel wollte sich bis zum Schluss nicht recht verziehen. Musikalisch? Jarrett hat gleichwohl Großes gewagt. Es gelangen ihm dunkle, raumgreifende Parts im ersten Set, von dem er zu Beginn des zweiten sagte: „Vielleicht hat es Ihnen gefallen, aber ich war nicht dabei“. Das Geheimnis von Jarretts Kunst besteht aber gerade darin, atmosphärische Störungen in Energie umwandeln zu können. Für den Rezensenten hätte es bedeuten müssen, jetzt erst recht die Ohren aufzusperren! Was Jarrett etwa im dritten Part spielte mit spektakulärer Sparsamkeit in den Noten, war atemberaubend. Solch fantastische sechseinhalb Minuten hat er vorgestern in München so nicht kreiert, obwohl es atmosphärisch genau umgekehrt war.

    Aber gut: Das erste Konzert – und gleich eine Rezension in der Zeit? Kölnkonzert-Pubertät trifft auf Senex sapiens. Muss schiefgehen.

    1. Jetzt bin ich auf daseyn neidisch, ich hatte überlegt, nach München zu reisen für ein viertes Mal Jarrett. Berlin hat der sich sicher gleich gespart, denn die Philharmonie ist echt für Soloklavier ein Trichter sämtlich verhaltener Pupser noch auf dem Trottoir.

    2. @diadorim zu den Höheren Wesen. Ich habe gestern hierunter einige Kommentare desselben (unter verschiedenen Anonymen wahnhaft tippenden) Autors gelöscht, die irre spezifizierten. (Der Relativsatz funktioniert nur bei durchgehaltener Kleinschreibung: ‚die die irre spezifizierten‘, also sein Irrsein:

      )
    3. Ah, von dem las ich schon, manchmal durchaus Sinn und Absinnreiches, allerdings vieles einfach unstrukturiert ausgekübelt, so erinnere ichs.

  9. Ludwig van Jarrett, 1838 bis 2016. Großartiges Zitat bei ZEITonline, dort als >>>> Kommentar 70 eingestellt:

    Beethoven componirte einen Theil des zweiten Marsches, während er, was mir noch immer unbegreiflich ist, mir zugleich Lection über eine Sonate gab, die ich Abends in einem kleinen Concerte bei dem eben erwähnten Grafen vortragen sollte. Auch die Märsche sollte ich daselbst mit ihm spielen.
    Während Letzteres geschah, sprach der junge Graf P…. in der Thüre zum Nebenzimmer so laut und frei mit einer schönen Dame, daß Beethoven, da mehrere Versuche, Stille herbeizuführen erfolglos blieben, plötzlich mitten im Spiele mir die Hand vom Clavier wegzog, aufsprang und ganz laut sagte: „für solche Schweine spiele ich nicht.“
    Alle Versuche, ihn wieder an’s Clavier zu bringen, waren vergeblich; sogar wollte er nicht erlauben, daß ich die Sonate spielte. So hörte die Musik zur allgemeinen Mißstimmung auf.

    Ferdinand Ries in: >>>> Fr. G. Wegeler und F. Ries: Biographische Notizen über Ludwig van Beethoven, Coblenz 1838

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