Hannover erst und München dann. Das Arbeitsjournal des Dienstags, dem 11. Oktober 2016. Darinnen nachgetragen dieses Oktobers Drittes Sizilienjournal.


[Arbeitswohnung, 7.25 Uhr
Bantock, Sappho]

Also heute abend, zusammen mit >>>> Arthur Becker, >>>> die Veranstaltung in Hannover, auf die ich mich seinetwegen besonders freue und die mit 18.30 Uhr immerhin früh genug beginnt, um 20.26 Uhr meinen Weiterzug nach München noch erreichen zu können, wo ich dann kurz vor eins ankommen werde. Sollte ich diesen ICE nicht erreichen, müßte ich den ‚Langzug‘ nehmen, der erst morgens um sechs da ist. Also etwas Druck machen.
Morgen und übermorgen die letzte Ortsrecherche mithin, die für den Ghostroman nötig ist. Dann Buchmesse. Sonntag abends noch eine Lesung in Karlsruhe, morgens weiter nach Sardinien, um ‚durchzu‘schreiben. Kurz >>>> Romamelia, danach κάπου, beides ebenfalls fürs ‚Durch‘schreiben. Von Mitte November bis Weihnachten Reiseruhe und Schreibzeit in der Berliner Arbeitswohnung hier. Dann eventuell Afrika, >>>> einmal wieder, aber nur für etwas mehr als eine Woche.

Die Löwin ist mit ihrer Frau Mama auf einem Gestaltseminar und die Contessa nicht sehr glücklich über >>>> meine Bemerkung zum Perlentaucher: „I don‘t like“, whatsappte sie mir gestern nacht zum zweiten Mal. „So eine Gossensprache, noch dazu ohne Begründung, steht Dir nicht… Süffisant, mit siptzer Feder, perfekten Manieren, Contenance gefällst Du mir viel besser.“ – Nun steht die Begründung freilich im Link (er ist die Begründung), und auf manches hilft nur die Faust. Wie mein Freund K. wußte, der, als ihm ein – danach ehemaliger – Geschäftspartner beim Essen sagte, seine, K.s, unentwegten Versuche, für seine todkranke Lebensgefährtin doch noch ärztliche Hilfe zu finden, seien ein schlechtes Investment gewesen -… der also kurzerhand aufstand, ausholte und diesen seinen Geschäfts‚freund‘ mit einem einzigen Schlag ins Krankenhaus schickte.
Es gab einen Prozeß danach, klar, den K. verlor. Über das zu zahlende Schmerzensgeld konnte er nur lachen: „Das war“, sagte er, „ein gutes Investment.“ Womit er vollumfänglich recht hatte. Er hatte sein Unternehmen sehr vernachlässigt, weil er mit seiner kranken Frau nur noch von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent gereist war, fast ein ganzes Jahr lang, um das Unabwendbare vielleicht doch noch abwenden zu lassen, irgendeine wirkliche Hilfe zu finden.
Nun hätte ich meiner Contessa also antworten können, ich spräche halt auch die Sprache solcher Investoren. Aber ich mochte nicht; der Tag war durcheinandrig genug gewesen.

Sizilien.
Ich war im >>>> Teatro Massimo:

Teatro Massimo Palermo


Der Gustav-Mahler-Abend, Frühwerk. Das Orchestra del Teatro Massimo unter >>>> Gabriele Ferro. Den Sängerpart hatte >>>> David Stout, der seine Partien mit einem so hellen Bariton gestaltete, daß sich fast von einem englischen Tenor sprechen ließe – wobei die Akustik des riesigen Hauses höchst eigentümlich ist. Es ist vorwiegend ein Logenhaus, man sieht mehr aufeinander (und auf die Königsloge) als auf die Bühne:

Teatro Massimo Palermo Panorama


Das hat enorme Folgen für die Klangbalance – aber eben eigentümliche. Ich saß in der fünften Etage, noch zwei weitere über mir, inkl. Galerie, und mußte stehen, wenn ich einen Teil der Bühne sehen wollte; etwa die halbe war möglich. Saß ich, sah ich in die Logen gegenüber. Was mich aber frappierte, war, daß, schloß ich die Augen, sich tatsächlich ein vollendeter Stereoklang hören ließ, nur daß jetzt eben die z.B. Geigen links gegenüber in den Logen saßen, die Celli rechts usw.
Überhaupt scheint dieses Haus – abgesehen von der Repräsentanz seinerzeit des Königs – alleine auf Klang hin gebaut worden zu sein; etwa gibt es keine Wandelgänge und außer dem Café ganz unten keine Bewirtungseinrichtungen. Um nach unten zu kommen, reicht aber die Pausenzeit nicht hin. Es gibt auf jeder Seite einen einzigen Aufzug, der je allenfalls zehn Leute faßt.
Also bleiben in der Pause alle im Saal. Unten zwischen den Poltroni wird dann hin- und flaniert, um in Grüppchen zu plaudern, darüber wechselt man für die Gesprächelchen einfach nur die Logen (deren hintere Bereiche auch prima als Séparées genutzt werden können).

Es wäre falsch, von einem solchen Orchester die Perfektion der Berliner Philharmoniker, der Staatskapelle, London Philharmonics oder vom Chicago Symphony Orchestra zu erwarten. Dennoch, den berühmten dritten Satz von Mahlers Erster, worin er das Frère Jacques verarbeitet hat, habe ich nie zuvor dermaßen intensiv gehört. Wie Ferro seine Musiker die Celloseufzer artikulieren ließ, war sogar phänomenal. Allein die Trompeten quäkten etwas – später (auch wenn das ganz gut paßte – jedenfalls für jeden, der weiß, wie in Palermo die Musiken zu den Prozessionen klingen, die sich durch die engen Gassen drücken – – Anverwandlung).
Glücklich zog ich nach dem Konzert wieder ab und in „meine“ Vucciria zurück, wo ein ganz anderes Leben immer noch brandete. Einen letzten Wein, selbstverständlich draußen sitzend, die Gassen besinnend, das warmgelbe Nachtlicht in ihnen



Palermo Gassenstein

und das kaltgelbe auf den breiten Boulevards:

Ich hatte geschafft, was vorgenommen war. Jetzt wäre ein wie >>>> in Catania ungebundener Tag noch schön gewesen (meine Güte! heute schon eine ganze Woche her…). Allein, mein Flieger höbe am nächsten Vormittag ab; लक्ष्मी hatte Geburtstag, da wollt’ ich in Berlin sein. Woher mich schreckliche Nachrichten über das Wetter erreichten. Dabei saß ich hier in Anzug und TShirt frei… – „Wieso bleibst Du nicht einfach im Süden?“ hatte mir auf meine leise Vorausklage die Contessa gewhatsappt.

Der Morgencaffè in dem verschlafenen Bistrotchen.
Der Alibus stand schon da.
Den Rucksack runtergewuchtet und auf die untere Gepäckfläche eingeschoben.
Schon mal den Biglietto erstanden. Der Fahrer hatte aber kein Wechselgeld, gab mir den Fahrschein dennoch. „Zahl es später.“
„Hab ich noch Zeit für einen Caffè?“
Er grinste. Geh.
So kam ich mit passendem Fahrgeld wieder.

Der Flughafen liegt weit außerhalb nordwestlich Palermos; von der Freiterrassen-Empore aus kann man zum Isola‘chen delle femmine hinübersehen, über dem sich dunkles Gewölk zusammenzog. Eieiei, dachte ich. Es war auch schon ein tiefes Meergrollen zu hören – akustische Reflektion des Grummelns in den sich immer weiter schwärzenden Wolken.
Und dann war das Unwetter da, brach geradezu apokalyptisch über die Punta Raisi herunter. Sämtliche Scheiben verwandelten sich außen in strömende Wasserfälle.
Der gesamte Flughafen war paralysiert. Es wäre Wahnsinn gewesen, jetzt zu starten, geschweige denn zu landen. Die Bahnen sind sowieso gefährlich kurz: landeinwärts das schroffe hohe Vorgebirge, seewärts die See… Nix ging da mehr.
So kamen wir mit einer Verspätung von knapp anderthalb Stunden los, was für mich bedeutete, daß ich meinen Anschluß in Fiumicino nicht mehr bekommen würde. Und nicht mehr bekam. Was an sich nicht schlimm war, dachte ich, nehm ich halt den nächsten Flieger.
Es gab aber nur noch einen, der direkt Berlin anflog, und der war ausgebucht. Ich müsse nunmehr erst nach Mailand fliegen und dort den Anschlußflieger nehmen. „Wann bin ich denn dann heim?“ 16 Uhr war vorgesehen, 22 Uhr sollte es nun werden.
Was tut man drei Stunden lang auf einem Flughafen innen?
Man lernt das Niemandsland kennen.
Flughäfen sind schlimmere Passepartouts als sogar die heutigen Bahnhöfe (die früheren waren Abenteuer; heute herrscht Austauschbarkeit: Karl Marx, Warenform).
Aber dies war nicht das Problem.
„Der Name steht auf der Rückseite.“ Ich legte sogar meinen rechten Zeigefinger darauf.
Sie drehte den Ausweis aber störrisch wieder um. „Da steht ein anderer Name.“
„Ja. Ich reise unter meinem Künstlernamen, unter dem ich auch lebe. Deshalb ist er hinten eingetragen.“
„So etwas gibt es nicht. Das sind Sie nicht.“
Eine Idiotin.
Ich holte meinen Reisepaß heraus, in dem der Name ebenfalls vermerkt ist.
Nun ging sie von einer Fälschung, einer Doppelfälschung, aus. Gefälschte Papiere. Schon war ich Terrorist.
„Das sind Sie nicht“, beharrte sie. „Das ist ein Sicherheitsrisiko.“
„Haben Sie die Schule abgeschlossen?“
Sie wurde immer störrischer. „Zwei Namen für einen Menschen… das ist verboten.“ Und rief tatsächlich den Sicherheitsdienst.
Hatte ich noch nie erlebt.
„Meinen Sie im Ernst, daß Justin Bieber Justin Bieber heißt?“ – Es hingen überall Plakate von ihm herum.
Der Begriff Künstlername war ihr komplett fremd. Ich nannte noch, zunehmend – wenn auch vor Hilflosigkeit – wütend, >>>> Elsa Ferrante. Kommentar der Servicekraft: „Die ist ja auch berühmt.“
Mit blieb die Spucke weg.
Der Mann von der Sicherheit kam, nicht Fußvolk, sondern ein Offizier, ließ sich die Ausweise zeigen.
„Wo ist das Problem?“ fragte er.
„Ein Mensch darf keine zwei Namen haben“, sagte die Frau.
„Aber hier ist er doch eingetragen.“
„Dann ist das eine Fälschung.“
Nun wurde auch der Offizier ärgerlich. Er war um einiges älter als die junge Frau, hatte in der Schule deshalb noch gelernt, selber zu denken. Unterdessen ist sowas nicht mehr Lehrstoff. Insofern war die Servicekraft zu entschuldigen.
„Es ist keine Fälschung“: So wieder er. Und er gab ihr die Anweisung, die Dokumente zu akzeptieren. Widerwillig folgte sie.
Ich muß nicht eigens schreiben, daß sich mittlerweile um meine beiden Ausweise ein ganzer Pulk Leute versammelt hatte, die alle ihrerseits ihrer Meinung Ausdruck verliehen. Ich meine, Fiumicino ist ein Weltflughafen, nicht etwa „Frankfurt“-Hahn oder Saarbrücken. In Palermo hatte die Servicedame, die an der Abfertigung, den Künstlernamen mit Interesse zur Kenntnis genommen. „Was denn für ein Künstler?“ – „Ich schreibe Bücher.“ – „Oh, welche?“ – „Gucken Sie im Internet nach. Es würde sonst zuviel.“ – Sie zog tatsächlich ihr Notizbücherl vor, ein sehr kleines, das in hellroten Stoff gebunden war, und notierte sich das AlbanNikolaiHerbst. Dann gab sie mir lächelnd den kleinen Gepäckzettel. Den ich noch dringend brauchen würde. Noch wußte ich das aber nicht.
„Sie müssen schon entschuldigen“, sagte nunmehr die wieder römische Servicekraft, als der Offizier davongegangen war, „aber sowas ist mir noch niemals begegnet. Ich gebe sicherheitshalber am Gate bescheid.“
Wo man tatsächlich abermals stutzte. Göttinseidank haben Römer:innen Erfahrung im Umgang mit Telefonen.
Aber auch hier ging‘s nicht voran. Die Leute saßen und saßen, die Dame und der Herr am Gate standen und standen. Hin und wieder telefonierten sie, weil sie das, wie schon vermerkt, auch können. – Wir waren bereits ein halbe Stunde über die Zeit.
– Eine ganze Stunde.
Meine Umstiegszeit in Milano Linate: anderthalb Stunden.
– Anderthalb Stunden. Der nächste Anschlußflieger wäre ebenfalls fort.
Ich ging mir ein Eis holen. Lecker, am römischen Flughafen. Leckend kam ich zurück. Immer noch kein Boarding.
Insch‘allah.

Endlich kam Bewegung in Menschen und Sache. Con passione, kann man sagen, hob der Flieger ab. Und holte wirklich einige Zeit herein, obwohl man von Rom bis Mailand nicht wirklich lange unterwegs ist, also in der Luft.
Wir setzten auf. Das Boarding meines Anschlußfliegers hatte längst begonnen, sofern nicht auch er verspätet war. W a s er war, ja wir fuhren direkt in die Parkbucht neben ihm ein. Wirklich dachte ich sofort, als ich die airberlin-Boeing sah: „Das ist mein Flieger, den muß ich kriegen!“ Aber sah schon die ersten Leute sich durch den Finger, die >>>> Flugastbrücke, schieben. Hilfe, gleich ist das Boarding da vorüber!
Aber sowas von losgesprintet jetzt, ließ ich einigen Unwillen und manches Murren hinter mir zurück. Spurtete in die Empfangshalle, sah mich fliegend, ja, weiterfliegend, und nicht nur sozusagen, nach Transferschildern um. Gab aber keine. Nur Uscita. „Wo geht‘s zum Transfer?“ rief ich einem Sicherheitsbeamten zu. Der schüttelte den Kopf.
Ich landete, rollte auf ihn zu.
„Wir haben hier keinen Transfer für Passagiere. Tut mir leid. Sie müssen erst hinaus….“
„… und dann abermals durch den Sicherheitscheque?“
Er nickte. Es tue ihm leid. Der Transferbereich werde erst im nächsten Jahre fertiggestellt werden. (Hätte mir nicht unbekannt sein dürfen: Neulich habe ich für die Eröffnung des neuen Berliner Flughafens eine Einladung zum 1. 3. 2024 erhalten.) – Aber das hier war M a i l a n d! Einen Wowereit hat es hier nie gegeben!
Raus und zum Sicherheitscheque gerannt.
Riesige Schlange.
„Mein Flieger geht! Mein Flieger geht!“
Bitte jetzt keine Probleme wegen der zwei Namen mehr!
„Kommen Sie! Kommen Sie!“ Er warf meinen Arbeitsrucksack auf das Band. Ich warf ihm mein Jackett zu. Man winkte mich einfach durch. „Laufen Sie! Laufen Sie!“
Und ich l i e f!
Kam hechelnd an.
Einer – in Zahlen: 1 – stand noch bei der Gate-Abfertigung.
Ich zeigte meinen Boardingpass.
„Vai!“
So daß ich dann endlich und völlig unwahscheinlicherweise im Flieger nach Berlin saß. Und dort ankam. Wobei mir schon, als wir in Mailand abhoben, klar wurde, daß mein Gepäck es n i c h t geschafft haben würde. Wie auch? Es hat ja keine Beine und kann schon deshalb nicht über Sicherheitssperren springen. Dazu war der Rucksack überdies zu schwer.
Einige frische Calamari darin, übrigens. Na, das würde was werden. Ich überschlug die andern Lebensmittel. Und um‘s jetzt endlich kurzzumachen: Nach Gepäckvermißtenmeldung (auch die, nun nachts in Berlin, einigermaßen chaotisch) und abermaligerAnempfehlung in Allah erreichte er, der Rucksack, mich am nächsten Abend bei लक्ष्मी auf dem Fest, die Calamari unverdorben und keine Tintenfischtinte ausgelaufen; selbst das Brot hatte sich weichgehalten, und die capperi di Pantelleria waren in ihren Tüten geblieben. Den Wein der terre siciliane stellte ich gleich mit auf den Tisch.

Ende der oktoberigen Sizilienjournale.

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*

[Mahler, Erste Sinfonie (Teatro Massimo Palermo, Okt. 2016]


Nun also mittags nach Hannover. Dann die Münchenrecherche. Ich habe mich da aber bei niemandem gemeldet, ein kleines Zimmer direkt am Hauptbahnhof bekommen, für 45 Euro pro Nacht. Will da nicht erkannt werden; >>>> Widerspruch gab‘s schon genug. Deshalb reis‘ ich in Jeans und Lederjacke hin und Converse(s) an den Füßen

und grüß in Ihren, Freundin, Tag.

ANH

2 thoughts on “Hannover erst und München dann. Das Arbeitsjournal des Dienstags, dem 11. Oktober 2016. Darinnen nachgetragen dieses Oktobers Drittes Sizilienjournal.

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