Das erste Sizilienjournal des Oktobers 2016, nämlich des Montags, dem 3., auf den Dienstag, den 4. Oktober. Aus Catania.


[>>>> Sveva, Raum ohne Nummer, 22.12 Uhr]

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Ich kam an. Als wir landeten, sagte eine, die IKEA gesehen hatte: „Oh, Ikea… das ist ja schon mal beruhigend.“
So gingen die Touristen in die Stadt; die meisten wurden von Gesandten ihrer Reisegesellschaften rechtzeitig abgefangen und in die Ghettos geführt. Das erleichterte mich.
Dove va il Pullman per la città? – Lächelnde Dicke hinterm Schalter. Quattro Euro, ultimo fermata qua, „ancora…“ lachte „… cinque minuti“.
Mein Flirtversuch an der Haltestelle scheiterte zumindest halb. Die junge Frau war interessiert, aber vorsichtig. Sizilianerin. Und ich war nicht wirklich bereit.

Ich muß hier nur aussteigen, und meine Haut wird wenn nicht richtig dunkel, so doch kupfern. Man kann das von einem Moment zum anderen beobachten. Es irritierte mich selbst, wie es mich aber auch stolz machte – Seltsam, dachte ich, diese Heimatgefühle, faktisch völlig unbegründbar. Dennoch, sie wirken organisch.
Liebe.
Liebe ist immer gegenseitig, sonst handelt es sich um Projektion.
Schon auf dem Suchweg nach meiner Unterkunft wurde ich nach dem Weg gefragt, und zwei Passanten-Interviewerinnen wollten meine, als Catanese, Meinung zu diesem und jenem. Das sind so Momente, in denen man an die Realität nicht mehr glaubt.
Es sei so heiß, klagte schon im Flughafen ein Deutscher. Aber auch mein Zimmerwirt: „fa caldo, fa caldo“ – rothaarig, blaß und sommersprossenhäutig, aber echter Sizilianer gleichwohl: Ruggiero II hat auch nicht nur Normannen nach Sizilien gebracht, es waren auch keltische Söldner darunter.
Sehr verlangsamter Schritt, als er mir alles zeigte, mein Zimmer, den Blick direkt auf Friedrichs Castello Ursino, den Blick von der Dachterreasse über quasi die ganze Stadt… – Beim zweiten Mal war er nur noch mit der Unterhose bekleidet. „Fa caldo, fa caldo“. Ottobre à Catania.
Ich war zutiefst verwundert, daß es noch Granita gibt: di limone, di caffè, di mandorle…
Ich gehöre hier hin, ohne daß ich hier hingehörte. Es ist stärker selbst als in Neapel. Neapel ist meine letzte Schlaufe zur abendländisch-deutschen Kultur. Seltsam. In Sizilien sein, für immer, hieße, den Abschied genommen zu haben. Nicht mehr gebunden zu sein.
Das Abendessen war nicht billig. 33 Euro (mit der FlascheWeins; das kann ich „besser!). Aber es war gut (zuppa di cozze vorweg, zwei gegrillte Calamarichen danach). Der Cameriere (was man nicht mehr sagt) sah mich schreiben, vieles in mein schwarzes Notizbücherl, der Löwin Geschenk, schreiben. Als ich sein Trinkgeld daließ, sagte er „Grazie, Maestro“, und es war selbstverständlich, daß ich zur Verabschiedung dem Padrone die Hand gab, in der Küche. Ich hatte nero di seppia haben wollen, er hatte verneint, aber nicht nur dies, führte mich zur Kühlanlage, holte einen Bottich mit Sepien heraus: „Noch zu kalt, sehen Sie? Es tut mir leid. Bitte kommen Sie morgen wieder.“
Ich verstehe nicht, weshalb ich morgen schon fortsein werde, wieder.
„Ich bin aber morgen schon wieder fort.“
„Cioè la guerra“ hat mir mal vor zwanzig, dreißig Jahren in Enna ein Portier erklärt, weshalb der Fahrstuhl nicht funktioniere. Er meinte den zweiten Weltkrieg, der da schon über vierzig Jahre zurücklag. – Auf Sizilien, nach wie vor, sind die Zeitgesetze anders. Darüber täuschen auch die vielen schicken (chiquen) Modernisierungen nicht hinweg.

Kann das sein, daß einer (oder eine) anderswoher stammt, als er (sie) geboren wurde?
Kann es sein, daß unsere Personalausweise lügen (oder versehentlich das Falsche behaupten) und selbst unsere Eltern nicht wissen, woher wir in Wahrheit stammen? Meine Güte, was ist Wahrheit?

„Er war die Zeit“ habe ich über den Helden geschrieben, über den ich jetzt im Auftrag schreibe. Dieser Satz war kein Auftrag; er kam „einfach“ über mich.

(Draußen wird geschrieen und gelacht, und wild bellt ein Hund. Catania ist keine Stadt für Ruhesucher.)

Was habe ich notiert? (So, dauernd notierend, schrieb ich viele meiner Bücher). – Zum Beispiel über meine Schrift, die ich selbst oft gar nicht lesen kann: „Eben der Gedanke, daß meine Handschrift für kaum jemanden, auch für mich nicht, lesbar ist – daß es aber Spezialisten geben wird, die eben diese Handschrift eines Tages aufschlüsseln werden wie seinerzeit die Hieroglyphen, und dann mehr verstehen werden als ich selbst. Ich verstehe mich also selbst nicht, aber Kommende werden mich verstehen.“
Das sind so Sätze.
Vorher folgendes: „Sizilianer, die auf sich halten, tragen am Abend Krawatte (so wie ich selbstverständlich einen Anzug trage, wenn ich essen gehe), auch wenn sie zum blauen Jackett und blaugestreiften Hemd froschgrün ist. Das Wort ‘Geschmacklosigkeit’ spielt in der Hitze selbst im Oktober keine Rolle; wichtig ist nur: Wir inszenieren uns, nehmen uns selbst als ein Kunstwerk wahr, das der darbenden Realität Pari bietet, sich gegen sie abtrotzt. – Ein größerer Unterschied zur Wohlverhaltensgesellschaft der Nordens ist gar nicht denkbar. Wer also mich verstehen will, was immer auch bedeutet: mein Werk verstehen, der (die) muß nach Sizilien reisen und sich einlassen.“

Die nächste Aufzeichnung geht so: „Das Leben läuft hier anders. Wie am nächtlichen Cozze-Verkaufsstand der beleibte Freund des Verkäufers an ein Faß gelehnt steht und ruhig plaudert, derweil die Touristen ins Restaurant strömen („tutto prenotato“ – ich hätte den Typen killen können). Da kommt ein Motorrad dazu, 1000 Kubik, und bleibt laufen; und der Fahrer mischt sich seelenruhig in das Gespräch ein, egal, ob hinter ihm die Autos hupen.“
Noch eine? – „Ein Freund des jungen Kellners kommt, nimmt ihn in den Arm, küßt ihn links und rechts, und zwar knallend, auf die Wange, dann geht er, dem anderen zuwinkend, wieder. All das während einer Bestellung.“

Ich habe fünf Cigarillos mitgenommen, für jeden Abend eine. In Gesellschaft der Contessa darf ich sie nicht rauchen, weil ihr davon schlecht wird. Daß sowas geschieht, will ich nicht. Also bleibe ich in ihrer Gegenwart enthaltsam. Hier auf Sizilien ist solche Enthaltsamkeit kein Thema.

All dies, was ich hier schreibe, ist selbstverständlich luxuriös. In Catania herrscht vor allem die Armut, ganz wie in Neapel. Es ist aber eine Beobachtung, die ich für wesentlich halte, auch wenn sie moralischen Kategorien hart widerspricht, daß wir ein gärendes Leben gerade in Gebieten finden, in denen es diese Armut gibt. Genau deshalb indes haben wir die Verpflichtung, den Armen zu helfen, bzw. sie in die Lage, sich selbst zu helfen, zu versetzen. Ich konnte nur den Kopf schütteln vorhin, als die reichen Touristen, die sich zum Essen eingefunden hatten, den armen Straßenmusikern nichts gaben. Ich gab drum doppelt. (Ob jemand arm ist, erkennen wir immer – eine Lehre meiner Mutter – an den Zähnen; wer sie sich nicht richten lassen kann, steckt in der Not).

Sizilien bringt mich immer auf den Boden zurück. Es ist das einzige mir bekannte europäische Land, das keine Fernsehshow ist. Allerdings versucht Ikea, eine draus zu machen: „… das ist ja schon mal beruhigend.“
Vena amoris – die gibt es auch bei Ländern.

Wie schrieb ich >>>> damals? „Ich atme durch Kiemen. Ich schwimme in der schwülen, geradezu tropischen Luft, bin hier Zu­hause. Die entfernteste Schneide meiner inneren Schere. Bin hier geboren, lange vor mei­ner Geburt.“

Bin hier, Freundin, hier. Und danke Ihnen.

ANH

P.S.:
Ich schreibe hier nichts über den Roman, ich schreibe hier nur über mein Heimatland.

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