Begegnung mit einem Säugling. Im Arbeitsjournal des Donnerstags, den 10 November 2022. Worin von der Auflösung eines Knotens, und eben deshalb, ganz ebenfalls berichtet wird, ein bißchen auch von einer Nacht, und am Abend wird es zu ACT gehn.

[Arbeitswohung, 7.01 Uhr
Leidenschaftlicher Amselsang.]
Hendrik Jackson, seine Frau und ich saßen vorm Sigismondo. Sie und das Kind waren gerade hinzugekommen, drinnen hatte ich Ingo Držečnik, meinen Elfenbein-Verleger, angetroffen, dessen Stammcafé dieser angenehme Ort ist, an dem weit und breit der beste Espresso zu bekommen ist (abgesehen selbstverständlich von dem bei mir selbst mit der Pavoni zubereiteten). Er, Držečnik, war fast schon im Aufbruch, und a l s er aufbrach und herauskam, stellte er sich noch auf ein paar Worte zu uns. Schon schritt er weg, und Lynn starrte mich an und starrte mich an. Nein, “starrte” ist falsch, der Säugling musterte mich, musterte und musterte. Ich kam mir wie auf dem Prüfstand vor oder wie ein Schwarzer, der in eine so abgeschiedene Indiowelt gefallen, daß selbst die K u n d e von andren Ethnien dorthin nie gelangt ist. “Das habe ich noch nie erlebt”, sagte Jackson, und seine Frau mutmaßte, es liege an meiner Pfeife womöglich. Das Baby, vor lauter … ja, skeptischer Neugier ignorierte beinah die ihm gebotene Brust, dabei hatte es nach ihr geweint. Doch trank mal einzwei Schlucke, schaute schon abermals musternd zu mir, streng, ließe sich sagen. Das ging so über Minuten.
Ich tendiere nicht dazu, in angeblich Säuglingssprache zu verfallen, “Dududu” zu brabbeln, oder “Kudelluddelkuddel” und was dergleichen mehr ist; das war bei meinen eigenen Kindern schon so. Ich rede mit ihnen wie mit Erwachsenen, nicht in komplizierten Sätzen, nein, aber in klaren. Also versuchte ich erst gar nicht, die Skepsis des Säuglings wegzualbern, setzte mich aus, sah stets zurück. Es war wie die Musterung eines, der sein Gesicht nicht maskiert. Erst ein gedrungen randalierender, weil motorisierter Straßenkehrerwagen der BSR, der die Kopenhagener entlang das Laub vom Fahrdamm wegrotierte, riß nicht, aber zog die Aufmerksamkeit des Kleinen von mir ab.

Es war eine lange Nacht gewesen vorher, mit Broßmann. Eine gute Nacht, in der wir selbstverständlich auch wieder über Gender und Queer und dergleichen redeten, diesmal ohne uns leis in die Haare zu kriegen; und über den → Krieg selbstverständlich — aber dann auch Musik hörten, Carl Loewes der schubertschen weit überlegene Vertonung des Erlkönigs in der Interpretation Christoph Prégardiens, Schoecks geradezu geniale, aber aufs Wort konzentriert geniale, nicht etwa auftrumpfende Neuvertonung des claudiusschen Der Mond ist aufgegangen, ganz ebenso von Juliane Banse gesungen, die uns mit einer der innigsten, in ihren Höhen geradezu engelhaft-fragilen Sopranstimme beschenkt, vorher das wunderbare Last Spring von Kraggerud & Wesseltoft und die Evergreen-Improvisationen (weil ich schon mal bei Engeln bin) Everybody loves Angels von wieder Wesseltoft, hier indes mit Bugge. Da hatten wir bereits zwei Flaschen Wein und vorher einen Cocktail intus. Der Freund dürfte, nach anderthalb weiteren gemeinsamen Flaschen Weins, nicht vor halb drei zuhause gewesen sein, und ich, ich verschlief.
So hatte der Tag denn schon einen, ich sage mal “queren” (nicht “queeren”) Einstieg. “Doch doch”, sagte ich zu Jackson, als wir noch spazieren gingen, “das i s t schon eine Art Alkoholismus, ich mache mir nichts vor.” Meinen Abendwein getrunken habe ich immer, aber mit der Pandemie sei das … ich weiß nicht mehr, welches Wort ich verwendete; im Moment scheint mir “angeschwollen” passend zu sein. Aber ich war auch genervt gewesen, bevor Broßmann kam. Meine dem THETIS-Vorspiel folgende Sprechaufnahme des ersten Romankapitels war mir gehörig danebengegangen, viel zu baßlastig — worüber ich mir aber erst klargeworden war, nachdem ich das recht lange Tonfile über den ganzen Tag hinweg geschnitten hatte. Was mich wiederum davon abgehalten, endlich, endlich an die letzten zweieinhalb Briefe des Triestromans zu gehen. Seit meiner Rückkehr aus Triest und Wien folgte eine Fluchtbewegung auf die andere. Ich kam einfach nicht rein, spürte sogar einen Un-, ja Widerwillen, dem ich nur durch allerlei Nebenzeugs keine Luft ließ, das angeblich wichtiger sei. Wie finden Sie, liebste Freundin, den angemessenen Ton wieder, wenn Sie subkutan etwas quält? – Gut, das Wort ist zu groß, ich muß ja nur hinüber in die Ukraine schauen; dagegen ist mein eigenes Leid, zumal allenfalls psychisch, nicht einmal seinen Begriff wert.
Ob das Baby davon etwas spürte, das sich gerade entfaltende Leben von einem, das seine alternden Flügel zurück um den Leib nimmt? Und will bereits etwas erfahren? Wenn ich zurückfühle, war mein Blick in das Säuglingsgesicht von gar nicht sehr anders gerarteter Neugier, wenn auch ohne Skepsis. Weshalb fiel mir ausgerechnet in diesem nicht Blicktausch, nein, Ineinanderblicken Jacksons Vermutung ein, daß die großen konservativen Dichter imgrunde ihre tiefe Verzweiflung Kunst werden ließen? Gibt es Kinder, die schon ahnen mit der Geburt? Und tragen es dann mit sich und werden einen Weg finden müssen, es sich – vielleicht sogar uns – lebbar zu machen? Ich hatte im Thälmannpark, den wir, der nun abermals junge Vater mit ich, causierend durchschweiften, bemerkt und ihm auch gesagt, wie sehr sein Eindruck auf meine These der perversen Bewegung aller Kunst passe oder diese auf jenen; Sie wissen, Freundin, was ich meine.

Jedenfalls, ich war viel zu spät aufgestanden, erst um halb acht, hatte dann lange im Bad verbracht; einzukaufen war gewesen, Briefe zu schreiben danach; nun noch einmal in das mißlungene Tonfile hineinhören und mir bestätigen, ja, mißlungen. Zwei Tage Arbeit pfutsch. Die Triestdatei geöffnet, hineingelesen, überlegt. Der Widerwille zwar war schon weg, aber ich hatte keine Idee. Wie schließe ich nun an? Dann hatte ich die Idee, aber bekam sie nicht “aufs Papier” (: hätte ich beinah jetzt ohne die Anführungszeichen geschrieben) … — da kam der Anruf. “Hättest du jetzt Zeit? Ich weiß, wo wir essen gehen könnten. Aber laß uns davor etwas spazieren.”
Dazu bot sich der Tag doch auch an! Ohnedies hatte ich in mein Tattoostudio gehen wollen, um zu erfahren, was mich → die projektierte Erweiterung kosten werde, auch wenn ich, egal, wie hoch die Summe sein wird, grad nicht weiß, woher das Geld zu nehmen. – Ja, der Tag bot sich an. Es ist der erste Novembermonat meines Lebens, dem es gelingt, sich als Frühling zu geben. Für mich selbst wäre ein mediterranes Berlin der Himmel, doch die Hölle für die Welt. Womit ich zurück im Karst wäre, über Triest, und bei den Sagen und Legenden, wie er entstanden. Dazu aber ein andermal.

Ich kam in die Arbeitswohnung zurück. Und legte mich schlafen. Stand erst um halb vier wieder auf. An sich ist solch ein Tag dann gelaufen. War er ja sówieso schon. Aber. Ich schaute nach Mails, dann in die Triestbriefe. Tippte einen Satz lang die Idee hinein, die ich morgens gehabt. Tippte den folgenden Satz. Konnte das angehn? Ich tippte noch einen, wurde nervös, brauche einen Espresso! An die Pavoni. Während sie das Wasser erhitzt, die Bohnen mahlen, das Kaffeemehl in den Siebträger geben, festtampern.
Mit dem gefüllten Täßchen, in dem der Zucker auf der Crema fast eine halbe Minute lang lag, ohne unterzutauchen, zurück an den Schreibtisch. Und bis halb neun abends durchgeschrieben. Der Knoten war, nein, nicht “geplatzt”, sondern die Schlingen, die sich so sehr festgezogen, fielen wie von selbst auseinander. Ein solches Glück! Bevor ich mein Abendessen bereitete (Reste von gestern aufwärmen, dazu Köfte, die ich vor Wochen eingefroren haben muß), an meine Lektorin eine Nachricht signalt:


Und werde sofort weiterschreiben können und will es, werde es. – Mittags dann, solange die Sonne noch scheint, ins Tattoostudio, um meine Frage zu stellen, auch, ob Elena es auch kann, direkt auf Venen tätowieren? – Die perverse Bewegung der Kunst. Auf den Krebs wie auf die Verzweiflung der konservativen Dichter reagieren, nur halt am Körper, wo sie ja ist oder war. Und mir fiel gestern abend noch ein, daß eigentlich dieses Unternehmen mit ins → Krebstagebuch gehört, drin aufgenommen werden müßte, sowie ich endlich in Aqaba gewesen. O nur wenig Karl May ist in mir. Ich muß an den Orten gewesen sein, von denen ich schreibe. Es sei denn, daß sie imaginär sind. Was allerdings ein jeder Ort zu einem Teil ist. Wiederum dazu der Verdacht, es habe, daß der Knoten sich löste, nicht nur mit dem Broßmannabend und seiner Musik und nicht nur mit dem Jacksongespräch, sondern ganz besonders mit diesem skeptischen Blick des Babys zu tun, als hätte es, während es, hätte Lynn, während er mich beschaute, dies gar nicht skeptisch getan, sondern darüber verwundert, daß ich etwas, das mir derart wichtig, immer wieder hinausschob: “Wieso, wieso zauderst du so?” Nein, nicht mich ansprechend, sondern sich selbst: “Wieso zaudert der Mann so?” Und hat die Antwort in meinem Gesicht gesucht. Die Tabakspfeife war nur der Vorwand, es mir weniger schwer zu machen. Dann kam der Wagen der BSR und ließ die rotierenden Besen das Laub von der Wahrheit fegen.

Ihr ANH

P.S.: Heute abend aber, und morgen, geh ich zu ACT in die Phiharmonie. Sie werden in der kommenden Woche → bei Faust drüber lesen. Ob wohl auch Sie noch → Karten bekommen?

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