Arbeitsjournal. Donnerstag, der 26. März 2009.

5.39 Uhr:
[Frank Martin, Konzert für sieben Bläser, Schlagzeug und Streicher.]
Mit einem „Quicky“ um Viertel vor vier auf und durch die Nacht hergeradelt. Man merkt dann immer, gerade in dieser urban verbauten, dennoch immer wieder grünen Gegend um Landwehrkanal und Kottbusser Tor, welch hinreißende Stadt dieses Berlin eigentlich ist. Gerade so früh morgens, wenn fast alles noch schläft; manchmal tröpfelt wer verschlafen aus einem Hauseingang; erst auf der Leipziger kommt, aber auch nur in Andeutungen, ein Verkehr zustande, der sich dort zweidrei Stunden später knüllen wird. Schlagende Amseln begleiteten meinen Weg bis Heinrich Heine. Dafür der Blick über die Londoner Docks an der Jannowitzbrücke. Diese Liebe, die sich in fünfzehn Jahren in mir eingewurzelt hat zu dieser Stadt… außerdem sind ja die langen miesen Monate nun vorüber, mit denen Berlin für seine Schönheit alljährlich büßt. Es i s t schon so: imgrunde gilt ein grausames harmonisches Gesetz der Auswägung:: für alles muß man bezahlen, für riesige Lust mit sehr viel Leid, aber wird für Leid auch mit riesiger Lust entgolten. Besser das, als moderiert zu leben. Ich hatte, als ich durch die Nacht rauschte, den Gedanken, daß, falls mich der Krebs erwischte, jetzt, und ich hätte noch ein halbes Jahr, dankbar wäre und gänzlich unverbittert hinnähme … – Moment, der Morgencigarillo…

[Martin, Etüden für Streichorchester.]

– … ich sagte: ich habe gut gelebt. Es wäre bloß ein wenig schade, erstens meines Jungen wegen und zweitens, daß ANDERSWELT noch nicht fertig ist. Und das Cello schön spielen können, hätt ich noch gern gehabt. Doch möchte das hingehen. Vielmehr gäb ich meinem Jungen das Gefühl, es wäre gut auch s o, und kein Grund bestünde, mein und sein Los anzuklagen, denn alles ist so prallvoll gewesen: denn daß es d a r a u f ankommt, soll er wissen und in sein eigenes Leben mit hineinnehmen.
Ah nein, ich denke nicht ans Sterben als reale Möglichkeit, es ist noch sehr viel zu tun, zu begleiten, zu schaffen. Aber w e n n… nun ja, wenn, dann wäre es okay.

Mal sehen, ob ich schon Nachricht aus Hamburg habe, ob >>>> der Text gefällt. Ich werd mich sogleich an den nächsten setzen, diesen Auftrag des Deutschen PENs mit der Frage, ob – und wenn, weshalb – es keine politisch engagierte Literatur mehr gebe, ob deren Zeit vorbei sei. Da habe ich dezidierte Antworten. Aber ich muß sehr schlüssig argumentieren, sonst >>>> wirft man mir wieder vor, ein „Neurechter“ zu sein: eine billige >>>> Generation-Pop-Methode der Abwehr, um das Eigene, das doch ein Fremdes ist – eine, kann man sagen, Infusion -, unangetastet in sich beizubehalten. Identität über Selbst-Identifizierung mit dem Kolonisator.

Wunderschöne Musik hat Frank Martin geschrieben, übrigens eine der ergreifendsten Vertonungen einer Dichtung überhaupt ist sein „Der Cornet“ nach Rilke. Der Atem zittert jedem, der sie hört – vor allem, wenn Mariana Lipovsek singt, unter >>>> Zag übrigens. Besorgen Sie sich >>>> die Aufnahme, Sie werden’s schon zu hören kriegen….

6.45 Uhr:
>>>> Das, von >>>> g.emiks, gefällt mir gut.

7.42 Uhr:
[Henze, Siebte Sinfonie (Cass.-„Projekt“ Nr. 133). Voller Klangzitate.
Die Leute wissen einfach nicht, wie vieles ich daher habe: aus der Musik.
Sie kennen so vieles einfach nicht.]

Die >>>> Arbeit am virtuellen Seminar wieder aufgenommen. Macht Freude. Sowieso, daß es wieder losgeht. Am 13. Mai werde ich in Heidelberg nach dem Seminar aus der >>>> AEOLIA und >>>> DER ENGEL ORDNUNGEN lesen. Das steht seit gestern fest. Hoffentlich sind dann endlich die Umschläge fertig. Seltsam, daß das Buch und auch der Druck, der mir viel zu fett vorkam, m i t den Umschlägen völlig anders wirken.

10.35 Uhr:
Ans Cello.

15.06 Uhr:
Irre tiefer Mittagsschlaf nach anderhalb Stunden Cello. Mir träumte, ich sähe mir versehentlich – wirklich, ich bekam das Programm nicht weg! – auf einem öffentlichen riesigen Screen einen Porno an… na ja, Softporno (>>>> weshalb spricht diadorim eigentlich von „Hochleistungs“sex?), jedenfalls geht das da so wie über die Leinwand, Hochglanzbrüste wogen, und allewelt guckt mich an, oder ich denke, daß sie mich anguckt, und drücke verflixtnochmaldämlich auf der Fernbedienung rum, die ich in den Händen halte… da galoppieren plötzlich zwei Kentauren auf den Platz, eine Art Erholungsplatz für junge Mütter mit lauter Bänkchen und Blumenrabattchen. Langbänke werden aufgesellt,Langtische, dann sitzt da eine Gesellschaft und bittet mich zu sich. Keine Red’ mehr von unmoralischer Nachred’, sondern man baut auch noch Zelte auf, hohe, wie zu mittelalterlichen Turnieren (wirklich sprengen da nachher Ritter heraus, aber auch noch Kentauren, immer mehr Kentauren)… die Gesellschaft, stellt sich heraus, besteht aus Wirtschaftsfunktionären, Managers undsoweiter; ein Sprechpult wird dazugebaut, und >>>> Leander Sukov tritt an dieses; da wird mir klar, weshalb von meiner „Libertiniertheit“ erst gar nicht mehr die Rede ist. Mir zur Seite eine junge, sehr hochgewachsene Brünette, die mich aber schon vorher ins Augen nahm, als von dieser Inszenierung hier noch gar nichts in Aussicht, nur meine Verzweiflung so deutlich gewesen war, daß ich den Softporno nicht von dem öffentlichen Screen wegbekam. Jetzt aber bin ich „wichtig“ auf eine völlig andere Weise, denn allmählich begreife ich – s i e scheint das schon vorher begriffen zu haben -, daß es hier um den Film geht. Tatsächlich spricht Sukov die Versammelten dankbar auf ihr Geld an und daß es sich endlich realisieren lasse, >>>> den Wolpertinger zu verfilmen. Er trägt kleinere Passagen daraus vor, die allesamt, denke ich, völlig unverfilmbar sind. Er sieht das anders. Jetzt, im Nachhinein, glaube ich (stelle ich mir vor), daß er >>>> Guillermo del Toro als Regisseur gewonnen hat. Dann, schlechtdeutsch: machte das Sinn. (Ich habe immer von dem alten Marlon Brando als Dr. Lipom geträumt). Und weil ich dazu tendiere, meine Wachfantasien in die rückliegenden Träume zu projezieren, finde ich die Verfilmungsidee derart richtig, daß ich gar nicht mehr verstehe, weshalb ich dann nachher mit der jungen Brünetten (ein Wesen à la Emma Peel – kennt die noch jemand?) partout nicht tanzen will, sondern mir eins zurechtstolper, daß es sein Aussehen hat. Um mich meinem Greengehorne nicht weiter auszusetzen, wache ich auf und setze mich an den PEN-Text, den ich s o beginnne:Wir haben eine von der politischen Linken ausgesprochen bestimmte nicht nur politische Kultur. Die Linke hat in Deutschland nicht die Macht, ganz sicher, aber sie hat das Sagen. Was sagen soll: die Redehoheit. Und zwar seit runden vierzig Jahren. Die nutzt sie und schreibt deutlicher als jeder andre vernehmbar, und schreibt um so lauter, als sie sich allmählich so sehr aus sich entfernt hat, daß es konservativen Leuten wie mir zu einem Leichten wurde, ihre Themen zu besetzen. Sie selbst hat sich ja längst, spätestens mit dem Mauerfall, immer weiter nach rechts begeben und nuckelt die Milch der Privatisierer aus den Brüsten ihrer endlich durchfinanzierten Bürgerlichkeit. Man ist zu Stellung gekommen und sitzt in den tiefsten Sesseln des Filz’.Ob ich das so stehen lasse? Na ja.

Anruf bei >>>> Katrin Zagrosek, ob >>>> mein Text angek/nommen sei. „Das ist sehr schön so. Ich habe ihn aber zweimal lesen müssen. Aber so soll das ja auch sein, das sollte ja keine einfache Festivaleinführung sein.“ Jetzt bin ich, diesbezüglich, beruhigt. Und soll die Rechnung schreiben.

16.31 Uhr:
[Fernando Grillo, Liseidon. (Cass.- „Projekt“ Nr. 138; bin
mit der Reihenfolge durcheinandergekommen, die Nrs. 134 bis 137
hatte ich alle schon gehört).]

War einkaufen, weil mein Junge heute, morgen, am Sonnabend und vielleicht auch am Sonntag bei mir sein wird. Die porzellanene Keksdose zum Beispiel soll immer für ihn gefüllt sein. Ich erinnere mich an das Wohlbehagen bei meiner Großmutter, wenn ich zu ihr kam als Bub und den Wohnzimmerschrank öffnete, in der eine solche Keksdose stand – und wie es zu durften begann, wenn ich sie öffnete. Um dem freilich etwas entgegenzusetzen, auch Zigaretten gekauft, bei „meinem“ vietnamesischen Schmuggler; wieder war das eine Art Abenteuer, er hatte einige „Kunden“ und war sehr nervös. Heute hatte er seine Stangen in der Zelle hinter das öffentliche Telefongerät geklemmt. Das hat insgesamt etwas Absurdes, weil es vor lauter ausgestellter Heimlichkeit irrsinnig offen ist; es bleibt einem gar nichts anderes als der Gedanke über, daß die Polizei ganz absichtlich nur bisweilen Kontrollen macht. Ich meine, die Leute verdienen so wenig. – Ah, der Junge kommt!

[Luciano Ortis, Nausikaa für präpariertes Klavier und Ringmodulator.]

20.47 Uhr:
[Bach, Konzert für vier Klaviere und Orchester, BWV 1065.]
Nun schläft der Junge wieder auf seinem Vulkanlager… das heißt, noch ist er wach und – „Machst du bitte Musik an, Papa?“ – hört Bach. Um acht Uhr lag er, kurz nach dem Abendessen; da er morgen erst zur zweiten Stunde in der Schule sein muß, las ich nicht nur eine halbe, wie sonst, sondern eine ¾ Stunde vor. Wir reisen gerade mit der >>>> Duncan, Lady und Lord Glenervan sowie Jules Vernes Kindern des Kapitäns Grant nach Patagonien… Ich habe dieses Buch selber nie gelesen, obwohl als Junge vieles sonst von Verne… schön, das nunmehr nachzuholen mit Dir und in Deinen Ohren, und unser beider Gehirn.
Jetzt wurschtel ich noch etwas dschungelnd herum. Hab einen Wein geöffnet. Die Küche werd ich erst morgen wieder in Zustand versetzen. Skype meldet sich, MSN meldet sich. Vielleicht besorg ich mir noch einen Film. Ich brauch jetzt >>>> eine andere Form von Anspannung. Die späten Abende gehören ja durchaus nicht zu meinen literarisch produktiven Zeiten, es ist mir dann schlichtweg immer zu dunkel. Dichtung braucht Licht. (Wunderbar, übrigens, >>>> diadorims Antwort; so ist man g e r n e Jerry’s Tom.)

10 thoughts on “Arbeitsjournal. Donnerstag, der 26. März 2009.

  1. bitte den pen-text umformulieren, wenn sie mich fragen, denn ich wüsste nicht, wo eine geschlossene linke in deutschland das sagen hat? das klingt sehr nebulös, werden sie konkret, oder lehnen sie sich nicht so weit aus dem fenster, weil ich finde, das wird dann schnell ein stammtischstil, wie mein hochleistungssex, den ich zurück nehme. was ich damit nur sagen wollte, es klingt manchmal sehr umständlich und als müsste man lange dafür üben, und ich dachte immer, schön ist eigentlich, wenns leicht und schwebend ist und fern von umständlich und aufwendig und präparationsintensiv, also aus meiner perspektive klingt das nach arbeit, das wollte ich damit sagen, und weil ich das nur ungern mit arbeit in verbindung bringe, sondern doch eher mit interesselosem wohlgefallen und zweckloser rumklüngelei, hab ich das so geschrieben, aber es ist vermutlich falsch.

    1. @diadorim. Na ja, a bisserl provokant soll’s schon sein. Und ganz falsch ist das nicht; ich will ja auf den Linksfilz hinaus, dann auf die völlig verfehlte Bildungs- und Schulpolitik, das Anti-Elite-Denken und dann, vor allem, den Kniefall vor den USA und die Prägung durch den Pop, also die begeisterte Ergebung in den “industriellen Verblendungszusammenhang” (Adorno). Außerdem steht, da oben nicht mit hingesetzt, gleich danach der Satz: “Dabei ist es höchst heikel, von der Linken zu sprechen; man müßte eine Linke sagen, verschiedene Linke und gerät schon mitten ins Problem.”

      Wegen des Hochleistungssexes. Ich m a g Leistung, ja liebe Leistung; Müßiggang ist mir unaushaltbar, tot werde ich noch lange genug sein, dann ist Zeit, sich auszuruhen. Das bedeutet nun nicht, daß ich mich nicht hingebe, nicht genieße, das kann ich sehr wohl. Aber sowas wie zwecklose Rumklüngelei, überhaupt Klüngelei finde ich (für mich, nicht für andere) ganz entsetzlich. Kants Interesseloses Wohlgefallen finde ich einen falschen Begriff, es gibt keine Interesselosigkeit, man kann höchstens glauben, daß man sie hat und sie in einem wirkt. Das ist dann aber eine Ungenauigkeit im Hinsehen, Hinfühlen.
      Arbeit wiederum ist für mich ein durch und durch g u t e r, positiver Begriff. Das wäre anders, wäre ich mit entfremdeter Arbeit befaßt. War ich ja mal, in den Büros. Aber auch das habe ich immer schnell in produktive Arbeit umgewandelt. Ich finde – wirklich nur für mich, aber als wesentlichen Wesenszug – sowas wie “Entspannung” ganz grauenvoll, ich möchte im Gegenteil immer gespannt sein – was etwas anderes als angespannt ist. Ich entspanne tatsächlich zum Beispiel in der Sauna oder, sowieso, nach dem Orgasmus; “Sauna” heißt bei mir aber bis zu acht Aufgüssen direkt hintereinander, zwischendurch mal etwas Sport und dann viel viel frisches Obst essen und – tief schlafen. Von diesen beiden Erschöpfungszuständen abgesehen, entspanne ich mich tatsächlich, indem ich die Spannungs-Situationen ändere, also nach der literarischen Arbeit unmittelbar in die Oper gehe, von der Oper aus entweder in die Bar, um zu diskutieren, oder heim, um über die Oper zu schreiben. Fehlt mir die Spannung, betrinke ich mich – wie Holmes sich immer die 7,5 %ige Kokainlösung setzte, wenn er keinen Fall hatte, der ihn denken ließ. Arbeit ist etwas ganz Wundervolles, weshalb sollte ich sie aus der Liebe also herauslassen?

    2. ich wusste es, ich wusste es, ich wusste es. ich komme mir hier manchmal vor wie bei tom und jerry. wer ist die maus?
      sind wir nicht süss? wir schieben uns gegenseitig die schuhe hin und hüpfen rein und stiefeln los.
      ich glaub, sie sind in echt eine schlampe, stehen ganz spät auf, finden arbeit zum kotzen, und quälen sich nur so durch die selbstbestimmten schreibaufträge. mit in echt meine ich, sie sind immer nah dran, es zu phänomenologiesieren, aber sie verbieten es sich, oder es verbietet es ihnen und tarnt sich als über-ich. und ich bin in echt eine vielschreiberin, nymphoman und geladen, komme nur nicht dazu, was am unsteten und strukturlosen lebenswandel liegt.
      ich leb ja mit einem zusammen, der auch nicht still sitzen kann, das ist anstrengend, wiewohl ich auch oft darüber froh bin. ein bisschen kenne ich die mechanik also, glaube ich, und weiss sie ja auch zu schätzen. nicht auszudenken, was aus mir würde, mit einem phlegmatiker an meiner seite, aber, ich beobachte mich dabei, wie ich, wenn der boden schwankt, eben auf die andere seite renne, zum ausgleich, vermutlich wäre ich bei einem phlegmatiker an meiner, voll, oder doch zumindest teilweise, auf ihrer seite. aber so wird es hier vermutlich noch einige folgen tom und jerry geben. vielleicht schauen ja genau auch deshalb ein paar linke verspannte zu…

  2. Berlin Berlin Berlin ! Die Stadt scheint wunderbar!
    Könnte ich Sie und die Stadt besuchen zwischen dem 14. und dem 21. April???
    Sind Sie zu dieser Zeit in Berlin?
    Auf Ihre Antwort warte ich, um Pension und Flug zu reservieren….

    Danke im voraus für Ihre Antwort !

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