Nur die Oper hat diese Magie. Lothar Zagrosek. Ein Dirigent.

Wir haben uns in der Dirigenten-Suite des Konzerthauses Berlin verabredet. Da bekommt man Fantasien, das klingt nach Adlon und Champagner. Ein bißchen Dreitagebart, denk ich, könne nicht schaden.
Es ist der Montag nach Lothar Zagroseks prächtigem Einstieg in das Gluck-Projekt am Konzerthaus Berlin. Schon wochenlang warben die Plakate, Gluck-Gluck-Gluck, an der Kippe zum Ulk; aber man merkte: Da kündigt sich was an. Neues wolle er versuchen, „Konzertante Aufführung mit Szene“ nennt er es und schließt an Glucks Suche nach der neuen Opernform für die Gegenwart an. Das hat der konservative Rebell, als er das Konzerthaus übernahm, schon vor anderthalb Jahren angekündigt. Konservativ, denn laut ist er nicht. Rebell aber doch.
Dirigentensuite also.
Sie ist ein nüchterner, eng wirkender Raum mit Flürchen im oberen Geschoß des pompösen Gebäudes. Ein leerer Schreibtisch steht darin, eine kleinbürgerliche Sitzgruppe und ein Kasten Wasser gleich links neben der Tür. Unter dem Fenster liegt ein verschlossener Rollkoffer am Boden. Es gibt keine Blume, es gibt keine Zierde; das Zimmer spartanisch zu nennen, machte bereits Jetset aus ihm.
Ein leicht reservierter, kleinschmal nervöser Mann empfängt mich, der gar nicht recht zu wissen scheint, was ich von ihm will. „Ein Gespräch“, sage ich und stöpsle mir die Mikrofonchen in die Ohren; so kann man sich zurücklehnen und zielt nicht wie mit der Waffe aufs Gegenüber.
Vor ihm liegt >>>> meine Orfeo-Kritik.
„Wie meinen Sie das?“ fragt er. Es führt kein Sermon ins Gespräch, Zagrosek legt den Finger sofort auf den Punkt. Ich hatte, blasphemisch, Glucks Schluß verändern wollen. „Streichen Sie die Erlösungsszene, lassen Sie das Tanz-Suitchen weg…“ „Das ist so schöne Musik!“ „Sie ersparen dem Abend die häßliche Pause. Und zurren das Stück zusammen. Das Publikum sitzt etwas mehr als eine Stunde und erlebt kompaktesten Gluck. Dann wird es, voll, auf den Gendarmenmarkt entlassen.“
Das überzeugt ihn fast, kommt seinen Intentionen nah. Konzentration. Der Wille, zur Seele einer Partitur vorzudringen und sie laut – Laut – werden zu lassen. Überflüssiges wegzulassen und die Ausschmückung zu streichen, wo sie wegführt – auch als Szene.
„Hier war schon ein bißchen z u viel Theater“, sagt er kritisch, „aber Opernarbeit ist immer auch ein Kampf von Dirigent und Regisseur… Sie glauben nicht, wie froh ich bin, >>>> Joachim Schlömer gefunden zu haben, daß wir da ganz einig sind. Und das Publikum macht das ja mit.“ „Es war begeistert… und zu recht.“
Der ganze Mann begeistert, aber nicht er selbst, da ist kein personality-Rummel, sondern die Begeisterung an der Sache springt über. Er spricht von „meinem“ Publikum und meint das nicht possessiv. „Sehen Sie, ich möchte doch, daß das Publikum versteht, was es hört, daß es das gerne hört…“ „…ohne“, ergänze ich, „das Niveau zu senken.“ „Ja. Ich will auch Neue Musik machen, aber mein Publikum verständnisvoll da heranführen. In dem Orient-Okzident-Projekt zum Beispiel, da haben wir einen echten Muezzin auf das Podium gestellt, in richtiger Muezzin-Kleidung, und dann hat der Mann gesungen. Da war keine Abwehr, da war nur Neugier im Publikum… man muß die richtige Mischung finden, damit es sich öffnet. Das geht.“
Und die nächsten Projekte?
Er redet sich zunehmend wärmer, der karge Raum ist völlig vergessen.
„Wissen Sie, daß in den Bibliotheken der Welt schätzungsweise achtzigtausend Opern-Partituren liegen? So vieles ist noch zu entdecken! Haydn würde ich gerne machen, auch Hasse… und was es bei Vivaldi alles noch gibt!“ „Und die französischen Fassungen der Gluck-Opern?“ „Das sind völlig andere Opern als die italienischen, ja, das kann man sagen… aber nein, ich will erstmal etwas anderes machen.“
Da springt er auf, „warten Sie!“, geht zum Fenster, zippt am Rollkoffer und zieht eine fette Partitur heraus. In dem Moment wird klar, wo er lebt, das hat etwas Schlagendes. Repräsentation ist ihm fremd, er lebt aus dem Koffer. Was ich habe, habe ich bei mir.
Er schlägt die Partitur auf, ein zusammengeheftetes Stößchen ausgedruckter Seiten liegt darin.
„Schauen Sie, das ist unser Probenplan für >>>> die Alceste. Da wir immer nur vier Tage Probezeit haben, der Konzertbetrieb muß ja weitergehen, mußte lange vorher alles festgelegt sein, auf die Sekunde, Gänge, Einsätze, Licht. Später, wenn etwas nicht klappt, kann man nur noch improvisieren. Es ist wie bei einem Filmskript. Und wissen Sie, was der Vorteil ist? Die Sänger kommen immer schon absolut vorbereitet hinzu – das merkt man im Konzert, das spürt man, sie s i n d ihre Rolle. Man muß sich dann nur noch auf die Musik konzentrieren, auf die Schönheit. Das ist überhaupt eine Stärke unsers Konzepts.“ „Und Sie haben nicht die enormen Kosten einer normalen Opernproduktion.“ „Ja, die Qualität einer Aufführung entsteht nicht selten aus Beschränkung.“
Angesichts der drei hoch-budgetierten Berliner Opernhäuser seien weitere Inszenierungen von Opern schlecht argumentierbar: so steht das im Programmheft. Jetzt aber argumentiert der Mann, und er tut es gut. Er verlegt die Szene in die Köpfe seines Publikums.
„Meine Vorstellung ist, die Dinge nur so weit anzudeuten, daß jeder immer genau mitbekommt, was in der Musik erzählt wird. Schon, damit das nicht peinlich wird, wenn ein Sänger in einer konzertanten Aufführung plötzlich sein Verliebtsein mimt oder Wut. Das kennen Sie ja, wie unfreiwillig komisch sowas oft wirkt.“ Das szenische Denken gibt seinen Dirigaten einen ganz erstaunlichen Raum, nicht nur Klangraum, sondern einen der Bedeutung. Vor acht Jahren wurde er zum Dirigenten des Jahres gekürt – in seiner auch schon von Reformen durchwirkten Stuttgarter Zeit; die dortige Oper wurde unter seiner Führung viermal Opernhaus des Jahres. „Ich war ja mal Chef der Pariser Oper“, sagt er im nebenbei, als wir über die Schwierigkeit sprechen, Sänger für französischsprachige Partien zu finden, „auch in Paris singen die lieber italienisch.“ Aber die Prosodien jeder Sprache verändern den Klangcharacter eines Musikstücks eminent, „hörn Sie mal Mozart auf englisch..!“ „Puccini auf deutsch…“ „Ja, ja!“ Ganze Klanghöfe verkleben zu Kitsch.
Ich möchte auf die Neue Musik zurück. „Das ist mir wichtig“, sagt er, „ja, aber es ist ein langer Weg dahin. In Stuttgart haben wir fünf Jahre gebraucht. Das Publikum muß hören wollen, man muß es verführen… es soll ja genießen, nicht leiden. Und wo wären wir näher an uns als in der Oper? Wo glaubten wir uns mehr? Nur sie hat diese Magie.“ Liebe geht, ein Eros der Überzeugung geht von ihm aus. Jemanden solches nannte man, in unprofaneren Zeiten, eine menschliche Autorität. Die aus der Arbeit entsteht, aus der Erfahrung und aus dem Ernst eines offenen Blicks.

[November 2007.
Geschrieben für >>>> die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.
Unveröffentlicht.]

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