Das Krausserjournal des Donnerstags, dem 10. November 20011. Mit einer starken Bedrückung am Romanschluß.

4.49 Uhr:
[Arbeitswohnung. Gregorio Allegri, Miserere.]
Schlag 4.30 Uhr hoch, Fiep 4.30 Uhr, selbstverständlich. So früh sind durchs offenstehende Oberfenster noch keine Glocken zu hören. Dabei ist sogar hierzukiezes die Kirchendichte hoch.
Latte macchiato, Morgenpfeife – und gleich weiter mit den >>>> Melodien: ab 625. 214 Seiten liegen vor mir, die heute be„wältigt“ sein müssen. Dann sind die Interviews durchzugehen, soweit sie mir zugänglich sind, ähm: selbstverständlich. Krausser selbst hat nach wie vor nicht geantwortet; ich werde also ohne das Gespräch und die Backgammon-Partie auskommen müssen, die ich akustisch mit unters >>>> Stück legen wollte. Immerhin hat Herr Täubner jetzt Ligeti gehört, so daß ich nicht ganz auf nur-tonale Musik angewiesen bleibe, auch wenn man sagen könnte, der Fotograf habe das Requiem nur gehört, weil sein – tja, Versucher? – Krantz Schönberg & Gefolge gern in der Hölle braten ließe, ganz wie weiland Dante die persönlichen Feinde. Wovon wir das Dokument einer großen italienischen Komödie haben, die überdies gereimt ist. Außerdem hat Dumont die versprochenen Bücher nicht geschickt; da muß ich dringend anrufen; wenigstens die Gedichte brauche ich noch, unbedingt. Da Krausser doch solch einen im Wortsinn ausgesprochenen Wert darauf legt, eigentlich ein Lyriker zu sein.
Guten Morgen. Bis zum Mittagsschlaf wird durchgelesen. Heute abend übernachtet mein Junge wieder einmal bei mir, bevor ich mich morgen bereits auf den Weg zum nächsten Seminar mach.
Über >>>> diese Sexual- und Schamdiskussion ging gestern >>>> das da völlig unter.

Untergehen ü b e r etwas“, – hm.

5.58 Uhr:
Was mir grad zu-ahnen-klar wird: Eigentlich kann ich für das Krausser-Stück alleine männliche Sprecherstimmen nehmen (BRSMAs Baß, übrigens, gäbe einen ausgezeichneten Krausser ab); meine geliebten Frauenstimmen (Chohan, Barrientos-Krauss) wären allenfalls Garnierung oder, besser, ferne Lockung, s o einzusetzen. Oder: Erlöserin(nen)? Und: g a r kein Studio mehr? Vielleicht auch eine Kinderstimme…

[Jacobo Peri, L’Euridice favola drammatica.]
6.40 Uhr:
Darf nicht vergessen, daß es für >>>> Open:Wortlaut dieses Pop-Gebot gibt, das ich freilich bisher immer zu unterlaufen verstanden habe: die Kraft des Gegners nutzen. Man nennt das Characteristikum einer Sendung ein Format; der Begriff ersetzt, was das – ecco! – Ding nicht mehr hat. Daß jemand Format habe, damit meinte die Sprache etwas anderes – indessen… eine DIN-A4-Seite (Site)… das Quartformat von Heften… Ähnlich so wird unterdessen „Maske“ gebraucht.

7.36 Uhr:
[Palestrina, Missa Papae Mercelli.]

Verblüffend ist, daß nichts so viel Mut verlangt wie das Ablegen der Angst.
>>>> Melodien 667.

10.19 Uhr:
Wo das Wort haust, verkam die Tat zur Kulisse –
Pasqualini bei Krausser, Melodien 727

Parallel gehen die Mails hin und her: UF versorgt mich noch mit Links auf Interviews.
Bin auf S. 727 und habe mir schon für nachher Kraussers >>>> Roman über Puccini herausgesucht. Habe den für dieses Hörstück nötigen Aufwand völlig unterschätzt, kleine Panikattacken wegen der nahenden Abgabezeit wechseln mit Euphorien, die aus den Ideen wie Luft über der erhitzten Motorhaube aufsteigen, die mein Kopf ist. Sedierend liegen darauf, ätherischem Kühlnebel gleich, die Musiken der Landi, Peri, Palestrina, Pergolesi. Und fresse wie wild Schokolade, Kaubonbons, Kekse; wenn ich nicht grad zu hartem Kaffee rauche.

12.42 Uhr:
[Pergolesi, Miserere.]
Fertig mit den „Melodien“. Nach wie vor: Wahnsinnsbuch. Aber die ausgeführte Folterszene an einer Frau, im Keller einer kastratisch-orphischen Schwarzen Messe, stimmt mich unbehaglich: da war mir zu viel Lust an der Ausgestaltung – nicht das Faszinosum, das Bataille in den Tränen des Eros durchaus zwanghaft bewegt haben muß, sondern eine Lust an der Ästhetisierung, auch und gerade weil die Szene, den Autor moralisch absichernd, aus einer Rollenprosa geschrieben ist.
Bin mir unklar. Es bleibt ein maues Gefühl. Wiederum öffnet diese, sagen wir: Durchführung einen besonders ambivalenten Raum, der alles vorher Gesagte, von mir Angestrichene und, nun ja, positiv Vermerkte, nicht nur zweischneidig macht, also nicht nur ambivalent ist, sondern auch in der Zustimmung-durch-Ästhetisierung fragwürdig macht. Denn diese Ästhetisierung stammt nicht aus einem tatsächlichen Trauma, das zu bewältigen wäre, und nicht nicht einer notwendigen Abwehr, sondern hat ihren Grund allein in sich selbst: einer Art Zerstückelungsfreude, die sich auch dann nicht relativiert, wenn Krausser auf Vernehmungsprotokolle von KZ-Folterern anspielt.
Vielleicht macht aber gerade das den Roman zu einem besonders großen, daß ich mich jetzt fühle, als hätte ich Pasolinis Salò noch einmal gesehen, indessen eines, das sich selber gute Gründe gibt.

Mittagsschlaf. Dringend. Ich brauch ihn jetzt wie Läuterung. Und nacher, ebenfalls dringend, eine andere, nämlich h e l l e – Musik.

14.30 Uhr:
[Britten, Klavierkonzert Op. 13.]
H e l l e Musik, ja! Die Erzählung Pasquinis, eines kurzwüchsigen Kastraten-Soprans, hat mit der neuorphisch, nämlich rituellen Zerstückelungsszene eine derart negative, mich abstoßende Qualität, von Ausstrahlung, an säkularmagischer, wahrscheinlich psychotischer Besessenheits-Manie erreicht, daß ich eben sogar die >>>> Farinelli-Soundtracks, die ich mir aus dem CD-Regal gezogen hatte, zurückstellen mußte – zweifelsfrei eine enorme Kraft, die „Melodien“ noch jetzt, nach dem tiefen Mittagsschlaf, auf mich einpressen läßt, aber erst mit dieser Szene erreichte sie diese spezielle Unerträglichkeit. Ist es ihr innerer Sadismus oder der Ästhetizismus, mit der er sich von Krausser so – eine Rollenprosa aber: das nicht vergessen! – feiernd darstellen läßt? Oder ist ein persönliches Trauma von mir ganz alleine berührt? Immerhin läßt es mich ahnen, weshalb der Roman nicht, wie etwa Umberto Ecos Bücher, längst weltberühmt wurde (was er desungeachtet fordern darf mit allem Recht), und weshalb sich, wie Krausser in den Tagebüchern klagt, kein englischsprachiger Verlag findet, obwohl eine Übersetzung bereits vorliege. Mit MelusineB möchte ich sagen: Ich habe das Böse gelesen – nur in diesen einhundertundnochwas Seiten des achthundertfünfzigseitigen Buches. Ich glaube nicht an das Böse, ich glaube an Entwicklungen, an Genesen; hier aber legt es sich nahe, daß dieses Böse bereits in den Melodien selbst, um die das Buch sich legt, enthalten ist und sich von ihnen auf Empfänger mit einer wahrscheinlich ganz bestimmten Disposition überträgt. Insofern gehört der Roman zur Phantastischen Literatur. Was die genannten Seiten anbelangt, so fehlt ihnen jeglicher Schmerz – selbst da, wo er behauptet wird, scheint er das Oberflächensymptom eines Gemütslosen zu sein. Doch fehlt dem Gemütlosen das Autistische, scheint mir.
Ich muß darüber weiter nachdenken.
Jetzt ans Puccinibuch und an die vorliegenden, mir greifbaren Interviews.

21.15 Uhr:
[Stille.]
Mein Junge ist hier und soeben auf seinem Vulkanlager eingeschlafen, nachdem wir wieder im Dschungelbuch lasen, dem zweiten unterdessen, wie Sie wissen. Zuvor gab es Steaks, Bohnen, Mais, Kartoffeln und eine Süßigkeit für den Junior als Nachtisch. Seit halb sechs ist er hier, auch fürs Cello, dann um zu lesen. So lasen wir beide gemeinsam, dann aßen wir, dann las ich ihm vor. Um kurz vor sieben morgen früh wird er mit Kakao in Tschaikoswkis b-moll geweckt werden, und sowie er dann fort zu Schule sein wird, muß ich packen – auch noch zum Reisebüro wegen der Ticketts. Packen, alles, auch viel Arbeitszeug, sowie die Bücher für >>>> die Lesung am Montag in Paderborn.

Ich habe umdisponiert und lese noch einmal >>>> Kraussers Eros, das, sogemeint auch, Gegenstück zu >>>> Thanatos; an den Puccini will ich erst danach. Gegen Mitternacht, schätz ich, leg ich mich schlafen, um dann um Punkt halb fünf wieder aufzustehen.
Rotwein, übrigens, ein 2010er Bordeaux, aber nur, weil ich in dieser Woche nicht heize. Sitzt mal stundenlang am Schreibtisch und hat, wie immer ich, das Oberfenster weit offen, merkt sich die Kühle doch. (Es hätte sich nicht gelohnt, den Kohleofen für nur vier Tage einzufeuern;: außerdem hab ich ja gezeigt bis vor zwei Jahren, daß man auch in strengen Wintern gut ohne jede Heizung auskommt; viere davon habe ich es mir bewiesen; Sie können‘s ja nachlesen, Die Dschungel ist Zeugin).
Aber Sie haben ganz recht: nicht plaudern, Herbst (causieren nannte es Fontane), sondern lesen. Die Zeit ist zu eng, um mich zu lockern –

3 thoughts on “Das Krausserjournal des Donnerstags, dem 10. November 20011. Mit einer starken Bedrückung am Romanschluß.

  1. Weibliche Bassstimmen ich denke da an die erfahrene Synchron- und off-Stimme Hansi Jochmanns, ein eindrücklicher Damenbass beyond any sort of gender. Die Funkleute dürften ihre Adresse kennen, ich glaube, sie lebt in London.

    1. Lieber Herr Hütt, das ist eine tolle Idee, aber sie wird in der Kürze der mir verbleibenden Zeit nicht mehr realisierbar sein und aus Kostengründen ohnedies nicht. Den Einfall indes, der mir nie gekommen wäre, mit weiblichen Baßstimmen zu arbeiten, werde ich im Ohr behalten. Danke.

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