Die geheime Linie ODER Überwältigung. Das ungebändigte Leben (7).



Natürlich. Es gibt haufenweise zauberhafte Melodien! Jeder, der nicht völlig taub ist, weiß das! Und diese Melodien wirken sehr kräftig! Bloß wird das nicht gebührend wahrgenommen, kann ja nicht gemessen werden. Das nicht Meßbare existiert nicht. So ist das doch! Ich persönlich zweifle keinen Moment, daß ein Mozart, Beethoven, Wagner die Welt dauerhafter verändert hat als ein Lenin, Robespierre oder Gandhi. Das sind Popfiguren, begrenzt haltbar…
Krantz bei >>>> Krausser, Melodien 231
D a n n aber!

Plötzlich strotzte die Gruft von lang verjährten Geräuschen – Räuschen -, fiebrig wühlte sie in ihrer Erinnerung, grub Vergessenstes aus. Selbst die Epitaphe erinnerten sich wieder des Sinns ihrer Worte. Alles, was dort unten je geklungen hatte, ob gemurmelter Trauer, ob leises Schluchzen, ob hallende Schritte, Nachtwachen, ob Kerzenwachszischen oder das dumpfe Aufsetzen einer Steinplatte – alles kehrte zurück, als wär‘ es starr gefroren immer hier gestanden und endlich zu neuen Konzerten getaut. Castiglio fühlte das Geheimnis von Raum und Äther selbst: Lärm, Musik, Verkündigung. Sein Mund wurde zum Gral allen Geräusches; Weihgefäß, heiliges Lied, das mitriß, bei dem nichts mehr zu schweigen fähig war, nicht der Stein und nicht das Moos, weder Staub noch Verwesung, nicht Eisen noch Luft. Krieg der Klänge und des Schweigens. (…) Die Melodien waren in ihm, und das Keckern der Kobolde gehörte dazu wie das Raunen der Fluten und der Baß des Gebirges, das Plärren der Verwundeten wie der Sopran der Erfüllung; leidvolles Stöhnen, zufriedenes Gurren, Schrei der Ekstase, Flüstern der Demut, das Gähnen des Moders ebenso wie das Jauchzen der Lust.
Alles, wirklich alles.
>>>> Melodien 231

[Daß dieses Buch im selben Jahr erschien, 1993, wie >>>> der Wolpertinger, kann ich nicht für einen Zufall halten. Beide Romane setzen eine Linie fort, in der auch schon Niebelschütz stand: wiewohl mitten in ihr drin, jenseits einer bezeichenbaren Zeit, wie >>>> Gustav Anias Horn davor, wie >>>> Bachmanns Zeit und Ewigkeit und wiederum davor >>>> Die Kinder der Finsternis und >>>> Berge, Meere und Giganten. Es gibt eine unabgebrochene, aber geheime, bzw. verschwiegene Verwandtschaftslinie in der deutschsprachigen Dichtung; ‚verschwiegen‘, weil sie der jeweiligen Gegenwart und ihren Rücksichtnahmen den Stinkefinger zeigt. Möglicherweise, ich bin mir nicht sicher, gehört auch Ernst Jünger da mit hinein; in Kraussers Tagebüchern steht einiges, was das belegt.]




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