Rafael Yglesias, Undines Wiederkunft in Gütersloh und Brems Traffic: Arbeitsjournal. Montag, der 3. Mai 2010. Leitmedien und Ringe. Sowie Das Netz und Das Wort.

6.13 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Hilft nichts, >>>> ich muß lesen, sonst ist der Termin nicht zu schaffen. Vielleicht komme ich später dazu, von den Entwicklungen >>>> für Undine weiterzuerzählen; in jedem Fall können Sie sich den 6. Juni nun d o c h als Tag der Uraufführung notieren; eventuell fahre ich am kommenden Sonntag nach Gütersloh, um selbst mit den Schauspielern und mit dem Regisseur auch anders als am Telefon zu sprechen: das ist aber noch nicht heraus. Es wäre ein Haken auf dem Weg nach Fulda, wo ich am 9. Mai abends lesen werde (ich werde das in der Mitte der Woche noch gesondert annoncieren), und Heidelberg, wo am 12. Mai wieder „reales” Seminar stattfinden wird; am >>>> virtuellen ist dringend auch wieder etwas zu tun. Deshalb ist, ob ich auch für Mai meinen Platz 1 bei >>>> wikio halten kann, ziemlich ungewiß; immerhin sah ich eben, daß Die Dschungel >>>> bei rivva bereits unter „Leitmedien” geführt wird; für eine LiteraturSite, die nicht nur entscheidend gegen Pop ist, sondern E-Musik, vor allem auch Neue Musik favorisiert, ist das allerhand… gut gut, Platz 590 ist nicht gerade ein Zeichen von Einfluß, aber gemessen an den Hunderttausenden Sites, die es insgesamt gibt, mag ich mich nicht beschweren. Die Statistik ist im ganzen recht interessant; von einigen, die „vorne” liegen, war das genau so zu erwarten, andere überraschen dann aber doch. In jedem Fall werde ich aufpassen müssen, daß mir kein Konkurrenzgebaren unterläuft, das sich wider mein eigenes Dschungelkonzept richtet, auch wenn ich es ziemlich verführerisch finde, mir ästhetischen Einfluß zu erschreiben: allzu schnell kann er in puren Meinungseinfluß umkippen und dann nur noch dieser Perspektive dienen. Darum darf und kann es in Der Dschungel nicht gehen. Es gibt auch eine Korruption, die durch die Tür der „Bedeutung” hereinschleicht. Insofern ist jetzt ein bißchen Zurückhaltung eher n i c h t von Nachteil.
Gestern war ein „reiner” Familientag; als ich abends das Buch weiterlesen wollte, kam mir ein Testosteronschub gewaltig dazwischen: ich punkte den mal auf die Seite des >>>> Melusine-Walser-Projekts; während so etwas tobt, ist an die direkte Arbeit eh nicht zu denken. Es ist ein schönes, wenn auch bitteres Buch, übrigens; ohne den Rezensionsauftrag hätte ich es aber sicher nicht gelesen; anderes wäre dringlicher. Doch ich muß sehen, finanziell irgendwie über den Mai zu kommen. In dieser Woche müßte eigentlich, fällt mir gerade ein, mein Brem-Text aus ANDERSWELT >>>> in TRAFFIC erscheinen; wahrscheinlich ist die Zeitung bereits in Druck. Ich hätte vorher noch gerne die Fahnen gesehen. Nun werde ich mich überraschen lassen… – Oh! Sie können es >>>> bereits online sehen!

Lesen, Herbst. Lesen.

(7.23 Uhr:
Ich habe einen neuen Ring. Er beschäftigt mich. Ich ging von Silber auf Gold auf Holz. Die Neigung zu Holz ist neu, ich beobachte sie seit etwa anderthalb Jahren. Gestern dann, auf dem Flohmarkt, fand ich dieses Ding: aus dem Holz einer Kokospalme, marmoriertes Grün mit einem leicht gelb getönten Krater: dieser, weil die leichte Erhebung, die der Ring auf der Oberseite hat, wie das Bild eines Vulkans aussieht, der aus großer Höhe aufgenommen worden ist. Vielleicht verleitete mich d a s, ihn zu erstehen. Er paßte auf den kleinen Finger links, aber wohl nicht gut genug, da er, als ich die Waschmaschine füllte, mit da hineinkam und dann den ganzen Kochgang begleitete. Nun paßt er auf den kleinen Finger nicht mehr, aber auf den Ringfinger: sehr ungewöhnlich für mich, da einen anderen Ring zu tragen als den mir von meinem Vater nachgelassenen, doch unterdessen zerstörten Familienring, von dem nur noch der Bruch des Goldtopases übrig ist, in den ziseliert das Wappen eingeschnitten war. Jetzt also Holz und das starke Gefühl einer Bindung, wie wenn es ein BDSM-Ring wäre. Ich f ü h l e permanent, daß ich ihn trage, anders als bei den Ringen sonst, die wie eine körperliche Selbstverständlichkeit waren, wie ein Fingernagel, kann man sagen: fühllos wie Horn. Doch Bindung woran? Erde: ich denke an Erde. Feuer: ich denke an Feuer. Und Grün war immer meine Lieblingsfarbe. Der Vulkan erhebt sich nicht aus dem Meer, sondern aus der Dschungel.Es ist kühl geworden, ich höre Amseln im Regen. Immerhin werde ich heute nacht austesten können, ob der neue Dynamo am Volvo auch bei Nässe funktioniert.

Lesen, Herbst. Lesen.)

10.49 Uhr
Bis eben haben die Amseln noch gesungen, jetzt krähen Elstern auf dem Hinterhof, und ein schwer brummender Flieger überfliegt den Prenzlauer Berg. Es hat zu regnen aufgehört. Trotz der Geräusche ist hier eine Stille. Die dem Anlaß des Romans zugehört, auf dessen S. 216, von 427, ich angelangt bin. Das Buch nimmt mit – stärker, als >>>> solche kleinen Passagen vermuten lassen. Sie heben aber seine Bedeutung gerade durch die Leichtigkeit. (Wie immer möchte ich, bevor ich die Rezension schreibe, die Gedankenwege, auf denen ich in sie hineinspaziere, mitskizzieren. Als steckte ich Lämpchen – ob nun kleine Fackeln, Windlichter, ob batteriebetriebene Glühbirnen – an ihre Raine: stehenbleibend zwischendurch, mich bückend, nach dem rechten Ort sehend.
Jetzt wird erst einmal geduscht.

14.19 Uhr:
Ein hübscher Fund, als ich die letzten Kartoffeln schälte, die noch hierwarn: erkennen Sie’s?

Das linke Dingerl ist ein – Stein.

Hähnchenflügel gab’s. Dann mußte ich für meinen Jungen eben schnell in Sekretariat des Gymnasiums hinüber, weil eine Lehrerin den kleinen Laserpointer, den ich ihm gestern auf dem Flohmarkt erstanden, eingezogen hat: die Dinger seien an der Schule verboten. Nun sind diese Minigeräte komplett harmlos, die Angelegenheit ist nicht ohne Absurdität. Ich hab es allerdings aufgegeben, mich über so etwas noch aufzuregen, es ringt mir, allenfalls, ein Lächeln ab. „Also, Junior, die Dinger sind verboten. Ich verbiete dir aber nicht, es mitzunehmen, weil ich das für Unsinn halte und Jungens sowas haben müssen, ebenso wie Schweizermesser. Aber es gilt hier das gleiche wir da: hab sie bei dir, aber laß doch nicht erwischen und spiel vor allem nicht im Unterricht oder in der Pause damit herum.”
An den Schreibtisch zurück, der Junge ist zum Cello-Unterricht weiter. Einen sehr starken Espresso, denn der Mittagsschlaf muß heute entfallen: ich will und muß weiterlesen. Vielleicht bekomme ich das Buch heute sogar durch, dann könnte ich morgen bereits schreiben.

Was >>>> das da anbelangt, vor allem bei >>>> dem Kommentar ist imgrunde, wie so oft, klar, wogegen man sich eigentlich wendet, ja was „den Leuten” solch eine Wut macht: daß nämlich jemand, der sich dem Netz so verschrieben hat wie ich, derart beharrlich auf dem Organ insistiert, auf unserer Nässe, unseren Körpern, ja daß er sie stärker betont als den Geist. In der Tat erlebe ich das Netz als eine Befreiung von der Körperfeindlichkeit des monotheistischen Wortes, als einen Gegner auf welches Jenseits auch immer ausgerichteter Dogmen. Das Netz kommt meinem inneren Heidentum entgegen, und zwar gerade, weil es so komplett anti-protestantisch ist. Weil es dauernd Tabus übertritt. Weil Normen, jedenfalls einstweilen, noch keine Chance haben, gegen es anzukommen. Es hat realisiert, wozu >>>> Murnau im WOLPERTINGER die versammelten Geister Europas aufgerufen hat: Erobert euch die Maschinen! Infiltriert sie! Sonst bringt das Wort euch um!

So. >>>> Weiterlesen.

16.56 Uhr:
S. 300.
Seit einhundert/einhundertfünfzig Seiten hat >>>> dieses Buch begonnen, mich selbst, persönlich, einiges anzugehen, jenseits der bitteren Krebs-Erzählung. Es hat etwas ungemein Authentisches, auch, daß es, wie mir eben einfiel, den weitaus größten Raum dem Beginn und dem Ende dieser Liebe widmet, die Ehe selbst aber, der Alltag, bei aller Intensität heruntermoderiert ist, und zwar, weil das Innenleben – ein Teil dieses Innenlebens – genau das begründet. Immer wieder stutze ich jetzt, bleibe hängen, es gibt für die Dynamik dieser Beziehung enorme Ähnlichkeiten mit >>>> MEERE, obwohl die sexuellen Obsessionen im sogenannten Normalen bleiben, auch fast ein bißchen kindlich. Aber dann Sätze wie diese (die männliche Hauptperson führt unterdessen neben seiner Ehe eine leidenschaftliche Affäre, und jetzt kommt es zur Aussprache mit seiner Frau:
War er im Begriff, die lebende Version jenes jüdischen Witzes von den beiden Neunzigjährigen zu werden, die sich nach siebzig Jahren ehelichen Zusammenlebens in gegenseitigem Haß plötzlich scheiden lassen wollen? Gefragt, warum sie jetzt erst darauf kämen, antworten sie, sie hätten warten wollen, bis die Kinder tot wären. Könnte er wirklich ein Leben ohne Liebe und sexuelle Lust auf sich nehmen, nur um seinem Sohn das Trauma der elterlichen Trennung zu ersparen? Könnte er wirklich für immer mit einer Frau zusammen sein, die er jetzt ohne Zögern verlassen würde, wäre da nicht das Wunder von Kind, das sie hervorgebracht hatte?Dieses Motiv klingt bereits 32 Seiten vorher an, noch wie nebenbei:
Aber er hatte Söhne.
Die Situation ist im Besonderen eine andere, aber in dem Sinn, in dem ich Allegorie verstehe, eine, deren Ähnlichkeit die Identität noch ganz besonders betont. Das eigentliche Thema des Romans wird über seine Besonderheit lediglich verdeutlicht.

21.09 Uhr:
Zurück vom Terrarium. Das Trauma der elterlichen Trennung: mir geht >>>> Yglesias’ endliche Klarheit, die Enrique Sabas dem Sterben seiner Frau abringt, nicht aus dem Kopf, diese Klarheit als Position, die ich teile – spätestens seit meiner Analyse, spätestens seit da herauskam, was Trennungen anrichten können und, wenigstens bei mir, angerichtet haben. Und wann immer ich mit anderen spreche, die in geschiedenen Ehen aufwuchsen, ist es das gleiche, egal, wie rationalisiert die Erwachsenen es später beschreiben und/oder verarbeitet haben; der Schmerz, immer, ist ihnen geblieben. Über den Daumen gesagt, sind Kinder aus nicht-geschiedenen Ehen sicherer in ihrem späteren Leben: auf selbstverständliche Art sicher. Sie mußten das nicht durch Kampf erwerben. Und bitte: ich spreche nicht von Ehen, in denen Schläge, Alkohol und dergleichen an der Tagesordnung sind, sondern die anderen, „normalen”, in denen der Alltag „nur” nicht mehr erfüllt, was die noch junge Leidenschaft versprach. Daß es ganz andere Fälle gab und gibt, ist unbestritten.

Weiterlesen. S. 347. Eventuell treffe ich den Profi nachher noch im Soupanova auf ein Bier um die Ecke; der Weg in die Bar kostete mich heute zu viel Zeit, die ich für dieses Buch brauche. Und unterdessen aufbringen w i l l.

(Eine sehr schön italienische Stimmungs-Miszelle >>>> wieder von Bruno Lampe. Und der Regisseur meiner Undine rief wieder an. Die Uraufführung wird nun stattfinden. Ich annonciere das gesondert.)

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