Die Sainte Chapelle privat ODER Raffaela aus den Fenstern. Das Reisejournal des 23. Junis 2010: Mittwoch. Mit einer kleinen Erinnerung an die Löwinnenhelix. Les secrets de Paris (7). Darin der dritte Teil der Tour d’Argent.

7.14 Uhr:
[Paris, La Nonchalante.]
Es ist mir gelungen, was ich mir gestern abend nach meinem Wutanfall vorgenommen habe, und es ist mir gut gelungen. Ich habe dazu die Métro genommen, denn ich wollte die Beaux Quartiers verlassen, in denen mein Laptop freilich weniger unsicher stehenblieb als in irgend einer Bude jener Arrondissements, die ich früher immer bervorzugt habe, ob nun über die La Fayette nach Clichy, ob von dort westlich; nahm mir vor, mit der Métro bis Stalingrad zu fahren, wohin es mich sowieso zog, und den ganzen Weg von dort zurückzuspazieren, was kein, dachte ich, sonderliches Problem sei, wenn ich mich an die großen Straßen hielt, den Faubourgh-Saint Martin einfach immer nur hinab, vielleicht in die Seitenstraßen geschaut, aber den inneren Kompaß fest im Blick, irgendwann stößt man auf die Rue Saint Martin und ist dann schon fast an der Turbigo; was die berühmten Vergnügungsstätten anbelangt, etwa das Moulin Rouge, so habe ich dafür eh kein Geld, bin mir aber sicher, daß der Gräfin bereitstehen würde, wollte ich so etwas tatsächlich sehen. Wie bei der Sainte Chapelle. Wovon ich auch noch erzählen muß… – Sie haben recht, ich hole das vor:

Nach >>>> Frau B’s so dringender Empfehlung, mir diese Kirche anzusehen, waren die Löwin und ich vor zwei Tagen, es war der Morgen nach M. Pruniers schönem Besuch, von Caulaincourt-Lamarck zur Île de la Cité gefahren. Es war nicht viel Zeit, weil mich Jenny bereits um 12 Uhr abholen wollte, auch weil die Löwin schon wieder zurückreisen mußte und ihre Doppelhelix lockte. Jedenfalls war die Heilige Kapelle, die eine große Kirche ist, wirklich nicht schwer zu finden. Nur. Eine solche Schlange von Menschen stand davor, wir hätten Stunden gebraucht, um hineinzukommen. Ich stehe nicht in Schlangen an, nie. Deshalb habe ich bis heute den Louvre nicht von innen gesehen und nie die vatikanischen Museen, obwohl ich in Rom ein Jahr lang gelebt habe und immer wieder hingekommen bin, immer wieder hinkomme, in fünfsechs Wochen werde ich das nächste Mal dortsein, mit meinem Sohn. Wissen Sie, es gibt da einen Film, der von einem jungen Mann erzählt, welcher sich nächtens in Kirchen einschließen läßt, um darin zu übernachten. Er versteckt sich vor den Gläubigen, versteckt sich vor dem Küster, und schließlich versteckt er sich vor den Reinigungskräften. Dann ist er allein. Als er eines Tages erwischt wird und gefragt, was er denn nachts dort suche, antwortet er: „Wenn die Menschen draußen sind, ist Gott darin.” Dieser Satz beeindruckt mich bis heute. Ich habe S. Pietro und viele andere italienische Kirchen im Kopf. Reisegruppen ziehen durch. Es wird geplappert, und die Gläubigen werden historisiert und verfreakt. Ich habe Leute gesehen, die in Seitenkapellchen betetende alte Frauen auf das schamloseste fotografierten. Es ist unerträglich. Man muß Kirchen für den Tourismus verbieten. So meine ich’s auch für viele Kunst, daß man sie vor den Blicken schützen muß. Man muß sie vor den Massen schützen, mit den Massen, immer, beginnt Blasphemie. Was habe ich davon, mich vor der Mona Lisa in Hundertschaften zu drängeln? Als ich seinerzeit eigens Antonellos Annunziata wegen nach Palermo gereist war – ich hatte das Bild in einem Reiseführer gesehen, den ich auf Stromboli erwarb, wo ich eines heftigen Sciroccos wegen tagelang hängenblieb -, als endlich wieder eine Fähre hatte anlegen und mich mit sich fortnehmen können, hatte ich meine ganze Reiseplanung verworfen und war zur Annunziata hingefahren. Dieses Bild wollte ich sehen. Und sah es und war so sehr enttäuscht. Nein, nicht des Bildes wegen, nicht, weil es so viel kleiner ist als der Reiseführer suggerierte. Sondern wegen der zwei Soldaten oder Polizisten, die links und rechts neben ihm standen, mit Maschinenpistolen, um’s zu bewachen. Da ist ein Gespräch mit dem Bild kaum mehr möglich. Scharen sich aber Hunderte davor, gar nicht mehr. Dann möchte ich es lieber nicht sehen. Nie sehen. Aus Achtung.
„Wir s o l l e n die Fenster nicht sehen”, sagte sie Löwin, und wir fuhren, nach einem Kaffee in der Sportsbar, die sie kannte, zurück ins Hotel und den Vergnügungen unserer Leiber entgegen. Dann war es schon nach zwölf gewesen, ich hatte Jenny pfeifen hören, sie aber warten lassen, sie hatte gewartet. Das wissen Sie alles schon. Aber ich habe sie auf die Sainte Chapelle angesprochen. „Ich kümmere mich darum”, hatte sie geantwortet. Es war dies der Tag, den die Fête de la musique abschließen sollte, die mich auf das Boot gegens Jüngste Gericht warf. Gegen abend hatte mich Jenny, die ich immer wieder, erst versehentlich, dann absichtsvoll „Edith” nannte, noch einmal ins Hotel gebracht, damit ich unter die Dusche konnte; sie hatte mir eine halbe Stunde gegeben. Dann fuhren wir von der Chevreuse zur Île, sie stellte ihr Motorrad ab, sicherte es, ich glaube, es war schon nach acht. Nein, von Sonnenuntergang keine Rede, nur bisweilen schaffte es die Sonne durch die tiefhängenden Wolken. Dennoch. „Ich habe mit Madame telefoniert”, sagte Edith, „man wird dich erwarten”. In der Tat, wir mußten ein Stückchen um die Chapelle herum, „da mußt du lang. Siehst du die Holztür dort?” Eine ganz niedrige Holztür. „Dort mußt du klopfen. Man erwartet dich. Laß dir Zeit, wir haben keine Eile.” Sie steckte sich eine Zigarette an und ging langsam weg.
Ich klopfte.
Der mir öffnete, ich würde ihn einen Mönch nennen wollen. Das war er aber nicht. Er sah mehr wie ein Zuhälter aus.
„M. ’erbst?”
Ich nickte.
„Wenn Sie mir bitte folgen wollen.”

8.51 Uhr:
Es macht mich ein wenig unruhig, daß ich so gar nichts mehr von Edith gehört habe, nichts mehr, seit Raffaela mich von dem Boot gerettet hat. Gerettet ja, denn um die Tatsache führt kein Weg herum, daß der Fluß, auf dem ich trieb – er hatte mit der Seine, die ich hier täglich sehe, rein gar nichts mehr zu tun -, in die gleiche Richtung floß, in der auch die unendlichen Kuh- und Schweinherden zogen. Und wieso war mein Laptop bei mir geblieben, wieso war der nicht ebenfalls gestohlen worden? Wir alle werden, um uns zu beruhigen, sagen (die übliche Autorenkiste, wenn eine Fantasie nicht weiterwill): es war ein Traum.
Nein, Leserin, das war es nicht. So wenig, wie der Zuhälter, der mir voranschritt, schritt; er lahmte nämlich, zog ein Bein nach. Dann betrat ich, durch die Sakristei, das Schiff. Es gibt, um Gotteswillen! gibt einen Zusammenhang zwischen ihm und dem Boot, auch wenn die Farben n i c h t so schwammen, n i c h t so glühten, wie Melusine es erzählt. Die riesigen Fenster waren gleichsam pastellen gedeckt. „Es wäre”, sagte der Zuhälter, „jetzt eben die Zeit. Tut mir leid, daß das Wetter nicht mitspielt.” „Insch’allah”, sagte ich, worauf er mich wirklich giftig ansah, sich aber zusammennahm und erwiderte: „Ich bin durchaus in Kenntnis gesetzt, mit wem ich es zu tun habe. Wir haben hier nicht oft so hohen Besuch.” Und in nahezu denselben nicht nur Worten, nein ganz auch im Tonfall Jennys setzte er hinzu: „Lassen Sie sich Zeit, wir haben keine Eile.” Er beugte sich etwas vor, und in dieser gebeugten Haltung schritt er, lahmte er rückwärts zurück in die Sakristei, die er schloß. Ich blieb allein mit mir und der Kirche.
Das wäre jetzt eine Zeit für die Meditation gewesen. Aber ich fand keine Ruhe, das Schiff wies mich ab. Ich ging umher, langsam, fast ständig den Kopf im Nacken. Welche Herrlichkeiten! dachte ich. Doch sie waren nicht meine. Ich setzte mich, versuchte nachzudenken. Da war Madame Le Duchesse, da war Jenny. Edith war da, Raffaela war da, aber die Löwin nicht mehr, von der ich verstand, sie sei für mich das Seil, an dem sich einer hinabläßt, und oben hielt sie mich fest. Da war Paris, das sich geordnet hatte, seit ich ihm, schon einmal, ein Buch schrieb: >>>> Die Orgelpfeifen von Flandern. Besorgen Sie es sich. Meine Lästerer mögen es sich besorgen, wenn sie denn erfahren wollen. Es ist für solche wie Edith geschrieben, auch für BettyB, damit sie zu verstehen lernen. Beide wurden mir zugeführt von der Gräfin, La Fête de la musique, spät in der Nacht in einem Club, dessen Name ich nicht vergessen habe, nein, es war gar keine Zeit gewesen, ihn zu lesen. Aber er stand direkt über der Tür. Hinter dem sich ein Loch öffnete, organisch, sehr organisch, hätten nicht Treppen hinabgeführt, ich würde Ihnen erzählen müssen, daß ich hinabgeglitten sei und sehr weich in einem Schichtflies aus Teppichen aufgefangen wurde. Gefärbter Nebel stand im Raum, zur Begrüßung wurden Cocktails gereicht, die ebenfalls farbig waren und von denen es ebenfalls, wie von Trockeneis, dampfte. Manchmal durchblies ein Ventilator den Nebel, dann sah man verkleidete Menschen, gestylte Menschen, sollte ich sagen, manche trugen nichts als Masken, andere nur einen Schal. So auch Raffaela, von der Edith ganz zu Unrecht schrieb, >>>> ich hätte bereits von ihren Brüsten geschwärmt. Das habe ich noch gar nicht, aber jetzt wäre Zeit, da sie auf mich zukam, nicht gehend, nein, gleitend, mir ihre rechte Hand reichte und mir aus den Teppichen aufzustehen half. Sie trug wirklich nur einen Schal, einen sehr langen, einen elfenbeinfarbenen Schal, den sie einmal um ihren Hals gewunden hatte und der links neben ihrer linken Brust hinabschleierte und an ihrem Rücken bis zur Kniekehle, vorn zu den Knien.
So stand sie vor mir. Ich blickte verwundert meine linke Hand an, die in ihrer Rechten lag. „Du möchtest gerne nach Hause”, sagte sie. Ich dachte, das hämmernde Gewummer, das man gegenwärtig Musik nennt, sei viel zu laut, um solch einen zarten Satz rein akustisch verstehen zu können. Aber es war ja still in der Sainte Chapelle, nur durch die Fenster drangen von ganz entfernt Stimmen und manchmal ein Hupen herein von jenseits der, dachte ich, Insel. „Du mußt aber erst mal zu sehen wiedererlernen.”
Es war die kleine Algerierin. Ich weiß nicht, wie sie hereingekommen ist. Sie ist aus einem der farbigen Fenster herausgetreten und heruntergeflogen. „Ich möchte dich heilen”, sagte sie, „ich kann auch den Teufel heilen. Er muß es aber wollen.”

10.21 Uhr:
>>>> La Lune hielt mich vom Weiterschreiben ab, >>>> ich mochte gerne antworten; vielleicht sagt aber Herr Kerber auch noch was.
Immer noch nichts von Jenny. Ich unterbreche, weil ich ein Baguette kaufen will. Habe Hunger. Und es ist irre schönes Wetter, plötzlich ist es warm geworden. Endlich. „Paris ist ein Museum geworden”, hat sich der Gräfin in der Tour d’Argent beklagt. Ich soll ihm vielleicht etwas andres erzählen? Aber es ist nicht nur das. Sondern Raffaelas Satz in der Sainte Chapelle. Sondern es sind auch die Blütenblätter auf dem kleinen Tisch in der Küche. Es ist dieses Wort. Da war ich stehengeblieben in der Erzählung, wie Jenny aufgeschrien hat, als sie es las. Sie, anders als ich, hat es verstanden. Doch später, Leserin, später… Baguette, ein Café, Gauloises. Wohltuend, daß in der ganzen Stadt kaum Fußballfahnen zu sehen sind.

(Bitter allerdings ist >>>> dieser Satz Aléa Toriks: „Mir gehen diese Idioten da drüber auf die Nerven. Das sorgt erstens dafür, dass ich dort nichts mehr schreiben will und zweitens auch nichts mehr lesen will.” Er beschreibt genau das, was Leute wie Edith, La Lune, BettyB und einige andere mehr, erreichen wollen. Die Löwin schrieb mir in ihrer Mail: „Man hat den Eindruck, daß sie dafür bezahlt werden, daß das eine ganz bewußte Agitation ist.” Man könnte ihn haben, ja, wenn man die Geschichte meiner Dichtungen kennt; ich bin mir aber nicht sicher. Daß Realität von Fiktion nicht mehr zu trennen ist, daß ich nicht weiß, wo bilde ich mir etwas ein, höre das Gras wachsen usw. und wo ist allesdas handfest zu machen, hat mich von frühauf beschäftigt. Die Anonymität der Kommentatoren ist ein Teil dessen, was ich immer wieder gestaltet habe: wir kennen die Gegner nicht und wissen nicht einmal, ob sie sich selber kennen. Also erfinden wir sie uns: um ein G e s i c h t zu haben. Das ist aber ein Handel mit Derivaten: Immer wieder erstaunt es mich, wie die Vorgänge der Realität denen an den Weltbörsen ähneln: Politik wird mit Fiktionen gemacht. Literaturgeschichte auch.)

Jetzt aber hinaus!

14.26 Uhr:
Eben erst zurückgekommen. Unter die Tür war, aber sonst ohne Nachricht, die auf meinen Namen lautende Bestätigung eines E-Tickets durchgeschoben: Abflug Freitag vormittag, Charles de Gaulle, T2D, 9.40 Uhr. Nicht, übrigens, für Alban Nikolai Herbst, sondern auf den anderen Namen. Was mir ein maues Gefühl macht. Jedenfalls werde ich noch heute und morgen hiersein. Keine sonstige Nachricht aber, eben, und das Geld wird knapp. Na gut, hundert Euro hab ich noch.
Ich muß unbedingt eine Stunde schlafen, bevor ich weiterschreibe. Den Vormittag über habe ich im Luxembourg für den Roman meine Notizen gemacht, nicht für dies hier, sondern für den Roman, den der Gräfin für sich will, aber manches von hier geht damit durcheinander. Eine neue Nachricht von der Löwin ist gekommen, ich habe Skype geöffnet, aber sie reagiert nicht, obwohl sie als online angezeigt wird. Das Problem habe ich aber immer wieder auch in Berlin.

15.59 Uhr:
Ich sah auf meine ausgestreckte linke Hand, die auf der in ihrem Leuchten schräg aus grünen Stoffen gewebten Lichtbahn ruhte, welche mir die offenbar für Momente durch den Wolkenvorhang gebrochene Sonne durch eines der Fenster schickte. Sie ruhte dort, meine Hand, es war, als läge mein Arm dort auf, und eine weitere Lichtbahn, für den nächsten Moment, legte sich, sie nun in Rot, darüber. Ich mußte mich nicht anstrengen, gar nicht, ich hatte meinen ganzen Arm darin abgelegt. „Maria”, dachte ich, nicht länger „Raffaela”. Aber war ja allein, niemand war bei mir. Erst jetzt, da ich das bemerkte, wurde mir die Armhaltung schwer. Was konnte mit heimkommen gemeint sein? Denn kaum kam ich zu mir, schüttelte ich schon wieder ab, was frühere Generationen der Christen „eine Erscheinung” genannt hätten; ich spürte auch meinen alten Impuls dieses Aufbegehrens, des sich nicht Beugens, nicht beugen W o l l e n s; ich spürte die Empörung wieder, diese uralte, einen Archetypos des Empfindens, der meiner nicht und d o c h meiner war, spürte die Wut, spürte den Stolz. Nein, ich war nicht einverstanden gewesen, als man das naive Paar aus dem Garten trieb, ich war mit Michael nicht einverstanden gewesen, den ich als zweiten Vornamen trage, wider meinen Willen, ich sah das Ungleichgewicht und hörte das Schreien der Entenknochen wieder. Ausgerechnet er, dachte ich, soll mich versöhnen, ausgerechnet er mich zurückholen… aber das stimmte ja nicht, denn Raffaela, nicht er, hatte mir die Hand aufgelegt. Er stand nur hilflos herum, als ich ihn anrief, morgens auf dem Boot, das nicht anhalten wollte, mich aber endlich gefangen hatte, in der Klemme hatte und weitertrieb gegen den Horizont, der nichts als reine Mathematik war. Raffaela war es, auch da schon, die ihre Hand auf meine Schulter legte, aus der mir wer was gebissen hat. Ich ahne jetzt, wer. Es ist mehr als nur Ahnung.
Das ganze Kirchenschiff erstrahlte, ich saß in den Farben, als wären sie Wasser. So stellte der Gräfin sich vor, daß die Apokalypse beginne. So ließ sie es sich vorstellen, so gefiel es ihm, wie der Mensch funktioniere. Er funktioniert jedoch aus Not. „Es ist nicht wahr!” rief ich aus, laut, tatsächlich a u s und sprang auf. „Hörst du?! Es ist nicht wahr! Alles ist Täuschung!” Schon war auch der Spott in mich zurück, weil ich mich ansah, wie ich nach oben, zur Kirchendecke, schrie, als ob es das gäbe, ein Oben, ein Unten, als ob es nicht völlig egal wär. Er machte mich lächerlich. Er machte mich abermals lächerlich. Ich wollte die Realität.
Sie waren wie Kinder gegangen, die beiden, gescholtene Kinder, ein Mädchen, ein Junge, denen aus einem alleinigen Grund Vergebung nicht wird – dem, daß sie hatten wissen wollen. Noch wurde sie je. Noch wird sie. Nur immer neue Versprechen und auch sie nur für die, die an sie glaubten. Zerrissen sich aber weiter die Nägel, wurden totgetreten, schleppten sich siech an den Steinen, ausgebeutet, ausgehungert, auch für diesen herrlichen Bau, und verachtet, und, wo es ihm nottat, auf den Haufen verbrannt. Wenn ich die Kraft besessen hätte, wenn ich wenigstens einen Stein dabeigehabt hätte! „Raffaela!” Sie kam, erschien hinter Jenny, die neben mir stand, als ich über die Reling schrie, Jenny, die vor lauter Verlegenheit ihre Flammenhände rieb. „Immer hast du wissen wollen”: wann war das, das sie mir das gesagt? Nicht Jenny, nein, Raffaela, und auch nicht gesagt, nein, ins Ohr geküßt vor Hunderten Jahren. „Wieso kannst du seinen Glauben nicht haben?” Dabei hatte auf sie eine Kreuzstatt gezeigt, an der ein ganz anderer hing und verdarb, nichts als ein verzweifelter Vater, der für seine Kinder genommen hatte, was ihm nicht, hatte das Urteil behauptet, zustand. Ich aber hatte längst die Fackel genommen, Aufrührer viel mehr als er.
Manchmal frage ich mich, ob ich denn nicht auch, einige Monate lang, geglaubt habe, damals, bis er da hing. Dann konnte ich nur noch lachen. Die Schöpfung? Eine Presse für Enten, eine Auspresse, Vater.

Vater?
Ich bitte, du Mutter, mich räuspern zu dürfen.
Sitz doch endlich mal grade bei Tisch!
Ein Silberturm ist die Welt.
*******

16.59 Uhr:
Dann saß sie neben mir, ‚wieder neben mir’ hätte ich fast geschrieben, weil auch ich mich wieder gesetzt hatte. Das Licht war hinter die Wolken zurück, hinter die Fenster zurück, die sich eindämmerten. Ganz offenbar saß ich schon über eine Stunde hier, vielleicht sogar zwei Stunden, denn es wurde draußen dunkel, obwohl dies noch einer der längsten gehenden Tage des Jahrs war.
Sie hatte sich wie ein Mädchen zu mir gesetzt. Da war gar nichts Erotisches, noch gar Sexuelles an ihr, auch nicht bei den Riemchensandalen, die sie trug, so daß ich die schönen Füße sah.
„Du alter Verführer”, sagte sie aber und kicherte kurz.
Ich schwieg, sah sie aus meinem Augenwinkel an, das leichte Kleid, den Schal, der einen Teil ihres Hinterkopfs und die Schultern bedeckte und den sie mit der rechten Hand unter dem Kinn zusammenhielt. Ihre Oberschenkel drückte sie aneinander, die Unterschenkel in dem berühmten spitzen Dreieck stehend, so daß sich die Fersen auseinanderdrücken, aber die Zehen zueinanderschaun. Ein ganzes, immer noch, Kind. Während draußen vor der Kirche, da war ich mir sicher, ihre Schwester rauchend dabeiwar, sich für mich die nächsten Sensationen auszudenken, die man mir zeigen könne in Paris, vor allem jetzt, wo keine Löwin mehr ein waches Auge aufhalten konnte.
„Es gibt Giganten und es gibt Bürger”, hatte der Gräfin mir im Silberturm noch gesagt. Es war sehr spät geworden, meinem Eindruck nach. Tatsächlich hat unser Treffen keine zweieinhalb Stunden gedauert. „Sehen Sie”, hatte er gesagt, „alles hat eine Nummer, auch diese Ente. Alles wird verzeichnet, nichts wird vergessen, dem Bürger weder, noch dem Giganten, noch den Enten. Nur die Giganten aber wissen zu loben.”
Welch eine abstruse Idee! Wäre ich ein berühmter Schriftsteller, also hätte ich einen Namen wie Picasso gehabt, ganz sicher, ich hätte begriffen, weshalb so einer wie er von mir einen Privatroman wollte, ein Typoskript, das er sich selber binden läßt und, wenn die Zeit gekommen ist, zu Sotheby’s gibt. Doch wer unter denen, auf die es im Kunstmarkt ankommt, kennt mich? Kaum jemand, und die wenigen, die etwas zu sagen haben und dennoch schon mal von mir gehört, verabschätzen mich. Was ist mit meinem Romanmanuskript zu gewinnen.
Er wiederholte: „Nur die Giganten wissen zu loben.” Dann lachte er leise und setzte hinzu: „Es ist keine Zeit für Giganten. Von den Giganten haben die Menschen die Nase voll. Das ist auch klug von ihnen. Eine Demokratie kann sowas nicht brauchen. Aber sie zahlt natürlich dafür. Sie zahlt mit Resignation, zahlt mit Entzauberung, zahlt mit der Nüchternheit. Paris ist ein Museum geworden, Herr Herbst, gehen Sie herum, schauen Sie die Massen der Besucher an, für die alles wie geleckt ist, damit das Touristengeschäft auch floriert. Sie wissen natürlich, nicht wahr?, daß die Spatzen auf der Liste der bedrohten Tierarten stehen. Nicht daß mir prinzipiell viel an diesen kleinen Schreiern läge, aber doch immerhin… denken Sie an die Halle der Seelen.”
„Die Löwin…” sagte ich in einem Vorstoß, der aus reinem Mutwillen rührte –
Er hob die rechte Braue.
„Meine Geliebte”, sagte ich.
„Ich weiß. Und?”
„Die Löwin hatte die Idee, Sie seien vielleicht Gott.”
Er lachte unvermutet laut auf.
„Das ist natürlich nur Literatur”, sagte ich, „… für den Roman.”
„Natürlich”, sagte er.
Ich lächelte.
„Es ist mir eine Ehre”, sagte ich.
„Nicht Ihnen”, erwiderte er, „sondern mir. Also schlagen Sie ein?”
„Bitte?”
Er reichte mir auch gar keine Hand.
„Sie wollen keinen Vertrag, nicht wahr?”
„Nein”, sagte ich. „Das käme mir klein vor.”
Er schob seinen Stuhl zurück, stand aber noch nicht auf. Jedoch war es das deutliche Zeichen, daß unser Gespräch beendet war.
„Sie müssen sich nicht beeilen”, sagte er, „Sie haben so viel Zeit, wie Sie möchten. Lassen Sie sich von Mademoiselle Jenny”, er sprach ihren Namen französisch aus, „noch so viel zeigen, wie es nur geht. Ich habe in Mademoiselle mein tiefstes Vertrauen. Reisen Sie ab. Kommen Sie zurück, so oft Sie wollen. Mademoiselle hat Ihnen eine Telefonnummer gegeben… ah, noch nicht? Ich werde sie erinnern. Wenn Sie herkommen wollen, genügt es, einzwei Tage vorher bescheidzugeben, der Flug wird dann gebucht. Für Ihre Unterkunft ist immer gesorgt. – Sind wir einig, Herr Herbst?”
„Was riskiere ich denn? Selbstverständlich sind wir einig.”
„Sie riskieren, woraus Sie bestehen.”
Heute weiß ich, er hat es da schon gewußt. Es hatte der Blütenblätter, hatte des Worts nicht bedurft.

17.28 Uhr:
Immer wieder, merke ich beim Nachlesen der Zeilen, gleite ich auf den Bahnen der wirklichen Geschehen in die der reinen, wenn Sie wollen: überspannten Fantasie. Doch das läßt sich nicht vermeiden. Dabei will ich das nicht, will es seinetwegen, g e g e n ihn, nicht.
Ich brauche Zigaretten.

17.49 Uhr:
[Paris, wieder La Nonchalante.]
Alles Leiden rühre daher, wird bisweilen gesagt, daß wir uns nicht fügten, nicht einfügten in den Lauf der Dinge, sondern daß wir ausbrechen wollten und ausgebrochen s i n d. Aber das stimmt nicht. Ich erinnere mich an Eden gut. Es lag nie ein Löwe friedlich beim Lamm, und es wird so etwas, wenn er hungrig ist, auch niemals geschehen. Aber wir dachten das so. Wir sahen nicht hin. Und alles gedieh. Ich war naiv wie jeder, der dort lebte oder ein- und ausging. Wir waren eine Art Gärtner, eine Art Beobachter eher, denn wir griffen, selbstverständlich, nicht ein. Wir sollten auch Berührungen meiden, weil jede Berührung die Matrix verändert. Daß eine Berührung aber, ob sie stattfinden wird oder nicht, bereits in ihr angelegt ist, hatte niemand bedacht. Und es geschah. Die Ausweisung später, die Rache, die menschliche Geschichte, an der ich später einiges mitgewirkt habe, ist nichts als die Folge dieser einen kleinen Unachtsamkeit, Unbedenklichkeit, um nicht zu sagen: kleinen Schlamperei. Auf der Zufriedenheit, daß es gut sei, läßt sich’s nicht ausruhen, nicht eine Minute, geschweige denn einen Tag.
Zu Zeiten war ich ein Jäger geworden. Ich ging zusammen mit meinem Freund DB auf die Jagd, das heißt, wir wollten das Wild erst einmal sehen, es kennenlernen, Witterung aufnehmen und Bekanntschaft mit seinen Gewohnheiten machen. Da sahen wir ein altersschwaches Reh, vielleicht war es auch krank. Es kam aus dem Unterholz gelahmt, scheu, ängstlich, in alle Richtungen verströmte es diesen Duft. Ich habe ihn immer riechen können. Der Wind stand gut für uns. Doch auch für einen Fuchs. Er schnürte heran. Wir sahen das Gras. „…schau!” wisperte Dieter und streckte, vorsichtig genug, daß sein Ärmel nicht raschelte, den Arm aus. Das Reh war irritiert, schon panisch, sprang hoch, so gut es noch konnte, stürzte, kam wieder hoch, als der Fuchs es am Bauch faßte. Das Reh schrie, es schrie wie die Hummer, schrie, wie die Knochen der Ente geschrieen hatten, einen ganzen Fetzen riß der Fuchs aus ihm raus, schüttelte den Kopf, knurrte, fauchte, sprang das Tier abermals an, riß ihm den Bauch auf, zerrte die Gedärme heraus, riß an ihnen, zerrte an ihnen, und allezeit war das Reh noch am Leben. Sein Todeskampf währte lange. „Nichts”, sagte später mein Freund, „nichts, Alban, was der Mensch dem Tier antut, ist etwas, das die Natur nicht noch grausamer tut. Wenn mir noch einmal einer sagt, wir Jäger seien grausam, knall ich ihm eine. Sie ist ein Biest, Natur, und Schweine sind, wer sie verherrlicht.” Daran muß ich jetzt denken und unter welchen Qualen, trotz aller medizinischen Hilfe, seine Frau verstarb. Und es kommt mir so vor, als hätte mich der Gräfin zu einem Verbrechen gedungen.
Selbstverständlich, es steht mir ganz frei.
Sowieso noch immer keine Nachricht von Jenny. War sie für mich nicht länger vorgesehen als bis zu dem Tag, an dem ich eigentlich geflogen wäre, also bis gestern? Etwas ist schiefgelaufen im Plan, ich spüre das. Ich glaube, schon das mit dem Boot ist nicht vorgesehen gewesen, nicht das mit dem Biß. Die Wunde ist tief, aber sie schmerzt nicht. Doch wächst auch nicht zu. Kann aber einfach sein („Realismus!”), daß dafür die Zeit noch zu kurz war.

20.06 Uhr:
Einige Leser machen sich wirklich Sorgen um mich und auch die Freunde, weil ich telefonisch nicht mehr zu erreichen bin. Das Ifönchen ist ja nun weg. Der Profi mahnt mich an, ob ich die Sim-Card auch hätte sperren lassen. In der Tat habe ich das vergessen, aber das Gerät ist vermittels eines Codes gesichert, so daß ich denke, es wird schon nichts passieren. Und eine Freundin mailt mir:ich glaube sowieso nix, was auf deiner seite steht 🙂 falls sich das mittlerweile doch nicht geklärt hat: Einen Flug könnte ich notfalls auch für Dich buchen.Da dies nicht die einzige Anfrage ist, hier ganz deutlich: Vielen vielen Dank, aber ich habe heute wirklich ein Ticket bekommen, es ist wirklich für mich gebucht, und ich werde wirklich am Freitag zurückfliegen. Danke an Sie/Euch alle. (Wahrscheinlich liest auch der Gräfin hier mit und weiß, wozu ich ihn mache; aber der Dank geht auch an ihn – zumindest für das Ticket.)

Ich will weitererzählen. Nur duschen will ich noch eben, und ich brauche eine Rasur.

20.44 Uhr:
Imgrunde, denke ich gerade, habe ich sein Gebot schon wieder übertreten, indem ich dieses alles niederschreibe. Zwar, ich erklärte wiederholt, daß dies der Roman nicht s e i; aber welcher denn als dieser könnte es werden? Abermals ist, jede dieser Zeilen, Aufstand. Wenn er der ist, den ich meine (wenn ich der bin, der zu sein ich befürchte), dann hat er es herausgefordert, und ich kann ihm schreiben: denkst du denn, ich wüßte das nicht? Mir ein Preislied aufzutragen! Ich kann mir Vermesseneres nicht denken. Und soll mich beugen?
Plötzlich laufe ich hier in den Zimmerchen wie losgestochen herum. Ich habe Fragen. Woher kennt der Profi, zum Beispiel, den Gräfin? Gut, er kennt sie wohl nicht, aber muß doch Kontakt mit ihr gehabt haben, wenn er mir vor einer Woche oder etwas mehr, ich weiß nicht mehr, von einem Auftrag erzählen konnte. Hat e r die Pfingstrosen, die er später als Code bezeichnete, hier in die Chevreuse gestellt? Dann muß er die Wohnungen, oder doch einige, des Gräfin kennen oder sogar gewußt haben, wo man mich unterbringen würde, für was ich mich entscheiden würde. Er möchte bitte antworten, wenn er hier mitliest, extra fragen muß ich ihn wohl nicht. Oder am Freitag abend, da werden wir sicher wieder >>>> in der Bar sein. Ganz offensichtlich, jedenfalls, war die „Botschaft” für mich nicht gedacht, sonst hätte ich sie wohl entschlüsselt. Sie war für der Gräfin gedacht, denke ich mir, die aber schon längst, anders als Edith, bescheidwußte… Jenny meine ich. Auf Edith komme ich später, und auf BettyB. Jedenfalls ist das zum AusDerHautFahren.

22.32 Uhr:
Was für eine Schweinerei! Ich komme von unten herauf und habe diesen scheiß Haupthahn vergessen…. dabei hatte mich….

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4 thoughts on “Die Sainte Chapelle privat ODER Raffaela aus den Fenstern. Das Reisejournal des 23. Junis 2010: Mittwoch. Mit einer kleinen Erinnerung an die Löwinnenhelix. Les secrets de Paris (7). Darin der dritte Teil der Tour d’Argent.

  1. La Sainte Chapelle. Lieber Herr Herbst, die Vermischung von der Bootsszene mit der Kirche ist einfach nur groß. Lassen Sie die Leute sagen, was sie wollen.

    Sie sollen wissen, dass ich die Dschungel immer noch mitlese, immer wieder, auch wenn ich bei den üblichen Auseinandersetzungen schon lange nicht mehr mitmache. Aber das ist eine ganz hinreissende Erzählung. Danke vor allem an Melusine B, dass sie Sie auf die Idee gebracht hat, sich die Sainte Chapelle einmal anzusehen. Ich finde das faszinierend an Weblogs, dass man bei jemandem wie Ihnen ganz direkt an etwas mitschreiben kann und Ideen geben kann, die dann plötzlich umgesetzt dastehen, natürlich anders, als man das selbst gemacht hätte oder sich vorgestellt hat. Das ist bestimmt auch allen klar.

    1. Liebe Frau Bürger, das ist ganz toll, daß Sie das jetzt schreiben, nicht wegen des Lobes, oder nur a u c h, sondern ich habe wirklich gedacht, Sie als Leserin verloren zu haben. Entschuldigung dafür.
      Jetzt sehe ich auf die Hausfront der Chevreuse gegenüber und lächle.

  2. Sainte Chapelle Sie haben ES gesehen. Und geschrieben. So. Anders als ich es gesehen habe, die es nicht schreiben kann. Doch stimmt das nicht. Wir sahen dasselbe, doch wirkte es anders. Es ist gut, was Sie geschrieben haben. Es deckt alles auf – und: zu. Sie können nicht gerecht sein, aber zornig – und gütig.

    Ein wenig wunderte ich mich, dass eine Frau den Namen des Göttinger Professors für Ästhetik trägt. Doch in Die Dschungel ist alles möglich. Und sie hat recht.

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