Erst einmal ankommen, dachte ich eben. Arbeitsjournal. Freitag, der 14. Mai 2010: L e s u n g e n. Sowie Robin Hood. Mit Dr. No zum Wolpertingerroman.

8.15 Uhr:
[Arbeitswohnung. Hans Werner Henze, König Hirsch (Cass.-Proj. 143-145).]
Erst einmal ankommen, dachte ich beim Aufwachen, das ein leichter Kopfschmerz begleitet, als hätte ich zu viel getrunken gestern nacht. Hatte ich aber nicht, war nur ziemlich zerschlagen, immer noch das Timelag, offenbar. Latte macchiato, Pfeife. Die >>>> Lesung im Burger war fein, denke ich; Ophelia Abeler, soeben aus Venedig zurück und bereits auf dem Sprung nach Monte Carlo, kam noch schnell vorbeigelaufen, um >>>> die Traffic mit Brem zu bringen; das Burger hatte für den Beginn 21 Uhr annonciert, die >>>> Kulturmaschinen 20 Uhr, ich selbst 20.30 Uhr. Schließlich waren, wider unsere VatertagsBefürchtungen, dann doch um die dreißig Leute da, so daß sich abermals eine Lesung „gegen Tür” lohnte, also ohne festes Honorar, vor allem schon deshalb, weil Leute erreicht werden, die sich in Literaturhäusern usw. kaum sehen lassen, dann aber tatsächlich auch Bücher kaufen. Es ist ja insgesamt mein Eindruck, daß sich die Räume, in denen man Literaturinteressierte jenseits der Betriebsshows findet, verlagert haben; in diesen „neuen” Räumen, oft Kneipen mit Kleinbühnen, bisweilen Clubs, auch in privaten Galerien spüre ich dieses Interesse geradezu körperlich. Und gehe dort auch ziemlich frei mit der Auswahl meiner Stücke um: mische schon mal eine kleine Satire mit einer Bamberger Elegie oder lasse, wie gestern, eine Erzählung von jemandem anderes vortragen: die Selzergeschichte gestern von der Kulturmaschinen-Verlegerin, die ich mit meinem Ansinnen ziemlich überraschte. Aber Simone Barrientos hatte, als ich ihr und Sukov den Text damals vorlas und damit die Idee eines Erzählbandes an beider Eßtisch trat, unvermittelt ausgerufen: „Das will i c h aber mal vortragen!” Das hatte ich mir gemerkt.
Lesungen in solchen „neuen” Räumen sind völlig ungestelzt, ihnen fehlt jede andere Feierlichkeit als eine, die eventuell aus der Dichtung selbst kommt, und man kann davon ausgehen, daß Leute, die hier Bücher kaufen, sie auch lesen, weil sie sie nicht gekauft haben, weil man sie „haben muß”, sondern s i e wollen haben. Sogar ein >>>> WOLPERTINGER ging weg, außerdem >>>> MEERE, ENGEL, >>>> SELZER, wobei, nun ja, jemand, ich stand vor der Tür und rauchte, hielt mir >>>> DER ENGEL ORDNUNGEN zum Signieren hin; als wir drinnen später abrechneten, stellte sich heraus, daß das Buch nicht bezahlt worden war. Kommt vor. Auf der >>>> Lesung in Fulda war auch schon was Hübsches passiert: jemand ließ sich eine >>>> NIEDERTRACHT signieren, von der sich später herausstellte, daß es mein höchsteigenes Exemplar gewesen war, aus dem ich, seit das Buch herausist, immer vorgetragen und in dessen Innenumschlag ich, wie ich das immer tue, die Daten aller bisherigen Lesungen notiert hatte. Es wäre schoofel gewesen, das Buch nun wieder zurückhaben zu wollen, der Bursche hatte ja die sympathische Chuzpe bewiesen, daß er es mir eigenhändig hinhielt; so etwas beeindruckt mich, so etwas macht mir Spaß.
Ich denke gerade: wenn ich mit Lesungen „gegen Tür” immer so viel verdiene, daß ich gut über die Woche komme (Butter, Salami, San Daniele, Espresso), läuft das prima: „Lesung gegen Handgeld” könnte man das nennen; Kühlmann, zu Zeiten seiner FAZ-Rezensionen, bemerkte einmal mir gegenüber, „damit verdiene ich mir den Tabak”. Was ich damals schon eine sehr freie Bemerkung fand. Gestern nach der Lesung kam eine Hörerin auf mich zu und sagte lächelnd: „Danke für Ihre Stimme”. Das ist nun zwiefach interpretierbar; in jedem Fall hat es gefühlt, wie wichtig mir die Klanglichkeit ist, die Musik in der Dichtung. Die eben L a u t werden soll. Solche Sätze tun mir gut, weil sie mir etwas bestätigen, das eigentlich nicht von mir kommt, aber sich durch mich hindurch in die Welt tut: eigentlich, d a , bin ich nur Medium (wieder so ein interpretierbarer Begriff). [Einschub, 9.25 Uhr: Und eben ruft Eisenhauer an, der gestern auch dabeiwar: „Ich habe mir überlegt, wir müssen eigentlich alle deine Lesungen mitschneiden” – ]. –
Aber erst einmal ankommen. Die Taschen müssen ausgepackt, die Bücher wieder eingeordnet werden. Dann ist die Miete zu zahlen, ist Telefon zu zahlen, ist die Visacard auszugleichen; die größeren Posten schiebe ich noch auf den Juni, wenn das erste Geld vom Berliner Senat kommt. Ich würde gern, jetzt auch hier in Berlin, >>>> eine AEOLIA-Lesung machen, zum einen sowieso, zum anderen, um wieder diese wunderschönen Bücher zu verkaufen, die auf „normalen” Lesetischen des Preises wegen (50 Euro) meistens liegenbleiben; ich weiß freilich gar nicht, wie viele von den 333 Exemplaren es überhaupt noch gibt. Sowieso: wer von Ihnen noch ein exklusives Geschenk machen möchte, melde sich bei mir oder bei der >>>>> Bielefelder Galerie Jesse, die die AEOLIA verlegt hat. Wobei mir einfällt, daß ich hier noch immer den Frankfurtmainer Mischnitt meines AEOLIA-Vortrages vom Februar unbearbeitet abgespeichert habe, aus dem ich gern eine mp3-Version oder eine CD herstellen würde, um sie dann ebenfalls auf Lesungen, aber auch über Die Dschungel zu verkaufen. Bei Interesse melden Sie sich bitte über >>>> das fiktionäre Kontaktformular; 10 Euro halte ich für einen angemessenen Preis.
Im übrigen sind die Fahnen für Azreds Buch weiter korrekturzulesen; daran setze ich mich heute, bevor ich spätnachmittags oder abends mit meinem Jungen in Ridley Scotts Robin-Hood-Verfilmung gehe. Das so schöne Foto von der Lesung gestern abend, mit dem dieses Arbeitsjournal beginnt, hat Ursula Kleinhenz gemacht; es stand bereits während der Lesung in Facebooks. Dank an sie.

10.28 Uhr:
Ein sehr schönes Bild des Dunklen Samtes aus dem Netz gefangen: die Samtin selber schickte mir den Link, den ich, allerdings, diskretionshalber nicht zugänglich mache. Dann bei dem Kinderbuchverlag angerufen, weil ich seit unserm Leipziger Handschlag überhaupt nichts mehr gehört habe und mich eigentlich an die Arbeit machen und das Jugendbuch fertigschreiben möchte, aber halt nicht ohne Vorschuß. Niemand nahm ab. Hm. Hier liegt jetzt so vieles; wenn ich damit durchkommen will, brauche ich einen Plan. Weitere Lesungsanfragen trudeln gerade ein: Hamburg, Rheinhessen, Heidelberg, ich fühle mich an meine Bremer Anfangszeiten erinnert: das hat den gleichen Aufbruchsgeist:: raus aus den konsolidierten, verkrusteten Strukturen. Ah ja, schauen Sie auf die rechte Dschungelleiste: die nächste Lesung in Berlin findet bereits nächsten Donnerstag statt. Es ist selbstverständlich, daß meine Programme innerhalb einerselben Stadt sich nicht einmal überschneiden werden.

17.29 Uhr:
Azred-Korrekturen gelesen bis S. 98; läuft ganz gut in der pdf. Dazwischen einen nicht schönen Ärger mit dem Konzerthaus; es ist eher ausgeschlossen, daß ich die Einstudierung der >>>> Gurre-Lieder nun noch mit Der Dschungel begleiten werde. Und लक ist zu den Filmfestspielen nach Cannes eingeladen worden; morgen wird sie fliegen. Ein bißchen schlucken tat ich schon. Aber okay. Es widerspräche meinem Selbstverständnis, es widerspräche meiner Haltung, dagegen irgend etwas zu sagen. Jedenfalls werde ich von morgen bis zum Dienstag alle Kinder betreuen. Arbeiten kann ich auch drüben am Terrarium.
Schnell duschen jetzt. Um 19.30 Uhr werden mein Sohn und ich in >>>> Ridley Scotts Robin Hood sein, der einer der Helden meiner frühen Jugend war, wie Ivanhoe. Ein bißchen Regression kann mir guttun.

…. und eben, 17.42 Uhr, kommt eine Mail des Konzerthauses herein, die mich nun doch die Gurrelieder begleiten lassen wird, weil sie meinen Ärger aufhebt. Über den ich aber nichts schreiben will. Behoben ist behoben, etwas nachzutragen, wäre klein.

Möglicherweise werde ich morgen über Scotts Hood schreiben.

74 thoughts on “Erst einmal ankommen, dachte ich eben. Arbeitsjournal. Freitag, der 14. Mai 2010: L e s u n g e n. Sowie Robin Hood. Mit Dr. No zum Wolpertingerroman.

  1. Lieber Alban Nikolai Herbst,

    der Wolpertinger „ging weg“ an mich gestern Abend im Burger; vielen Dank für die Widmung!

    Diese allerdings ist schön unleserlich. Anders als die Selzer-Geschichten, die sind (z.T.) „nur“ schön, insbesondere die der Cellistin bei Geburt und Konzert. Großartig! Aber auch sehr die von Ihrer Verlegerin gelesene (vortragen kann die Dame also auch!).

    Dennoch: Auf den Wolpertinger war ich neugieriger, weil Sie im Blog von DFW’s „US“ so wütend eine Liste der nicht-kleinmütigen Literatur aufgestellt haben – mit dem Wolpertinger drauf! Ihr eigenes Buch!! Mal sehen, ob der hält, was die Liste versprach…

    Beste Grüße

    Ihr

    NO

    1. Punkt Acht

      Ich schlüpfe schnell in die Blue-Jeans
      werfe mich hastig in das verblichene Hemd,
      steige elegant in die schwarzen Schuhe,
      und streife mir die abgewetzte Lederjacke über.

      Den Haustürschlüssel rumgedreht, die Treppe runter stürzend
      und ab ins Freie – Richtung Supermarkt,

      der in genau zehn Minuten die Pforten schließt.

      Ein wenig aus der Puste erreiche ich schließlich das Ziel,
      wo mich einige herrenlose Einkaufswagen anschielen –
      ich drehe noch einen Gang höher und steuer
      direkt auf die Sprirituosenabteilung zu.

      Auf dem halbem Weg dorthin erkenne ich
      eine Verkäuferin, die mit einem schweren Hubwagen
      schwere Lasten nach sich zieht. Eisbärfutter.

      Ich sage kurz im Vorbeigehen: „Geht`s?
      Sie antwortet: Normalerweise schon!“

      „Was ist denn Normal?“

      „Wenn ich Feierabend habe!“

      Endlich an der Kasse angelangt, die 1,5 Liter Flasche Sangria
      auf das Laufband stemmend, sage ich:

      „Ich bin der letzte Kunde!“

      Die Kasserin verwandelt sich augenblicklich in eine Schönheit,
      und antwortet: „Oh, man, was hab` ich Hunger!“

      „Kann ich gut verstehen, soll`n wir gemeinsam ein Gnu erledigen?“

      Beim Hinausgehen sehe ich noch, wie die beiden mit vereinten
      Kräften versuchen, eine Palette Elefantenfutter
      von A nach B zu rangieren,

      um Punkt Acht.

    2. für Dr. No. Ich sorge mich in dieser Hinsicht n i c h t. Und bin auf Ihre Reaktion sehr gespannt. (Versucht bin ich, einen kleinen Lesetip zu geben… aber hau mir sofort auf die Finger.)

    3. Wolpertinger Lieber ANH,

      James Bond gucken Sie also?

      Die Reaktion auf den W. ist versprochen. Wird allerdings dauern, nicht nur wegen der Länge, auch weil anderes auch im Raume steht, z.B. die “Örtlichen Leidenschaften”. Frau Dr. BB scheint Ihnen ja auch zu gefallen (zumindest deren Website, wenn ich Ihren Hinweis richtig verstehe). Die Nachtstücke wurden übrigens im DFW-Blog in einer 3-Bücher-Liste von Alea Torik empfohlen (Ihrer Kneipenbekanntschaft).

      Also BITTE: Sehr wohl den Lesetipp! Unbedingt!!

      Beste Grüße

      Ihr NO

    4. Lesetip. Den Prolog überspringen und erst lesen, wenn Sie bereits bis zum Ende des Buches gelesen haben. Das zu schreiben, ist aber ein Übergriff, zumal eine, nämlich meine Arroganz, die davon ausgeht, daß musikalisch N i c h t-Besessene den Character der Ouvertüre mißverstehen.

      Olga ist tot. Jedenfalls für mich. Wie ich das gestern aufnehmen mußte. Aber zurück >>>> in mein Blut.

    5. Wolpertinger Lieber Alban Nikolai Herbst,
      Dank für den Lesetipp, allein: Ich werde ihn nicht befolgen. Zwecks Überprüfung Ihrer Empfehlung las ich einige Seiten aus der Overtüre. Starker Anfang! Die Nachrichrt von den geistern seit Einführung der Automobilie, der Briefträger, Krokodile in New York; wunderschöne Einsprengselung von den Siegfrieds Waldvögeln. Bin zu beeindruckt, um das einfach zu überspringen. Außerdem bin ich oft in der Oper gewesen und mag Overtüren (und Henze; nicht so sehr Schönberg).
      Beste Grüße
      Ihr
      NO

    6. @Dr. No zu Krokodilen in New York. Das genau ist sowas: Ich wußte, als ich das schrieb – und noch, als ich es zehn Jahre später, 1991/92 überarbeitete, – nicht, daß das Motiv von Pynchon vielleicht nicht stammt, bei ihm aber, Benny Profane, Sie wissen schon, eine große Rolle spielt(e). Darauf, auf Pynchon überhaupt, brachte mich erst weitere fünf/sechs Jahre später Michalziks Besprechung von THETIS. ANDERSWELT in der Süddeutschen. Da begann meine Pynchon-Sucht, weil ich solchen Hinweisen immer folge, oder doch meistens.
      Ich hätte das Motiv, hätte ich vorher bescheidgewußt, wenigstens anders eingebaut, mit einem Hinweis, vielleicht wäre auch Profane selbst beteiligt worden. Es gibt später ein paar Stellen im Buch, an dem ich das mit anderen Figuren so mache, etwa mit Leo Brosamer… woher d e r kommt, verrate ich jetzt noch nicht; vielleicht wissen Sie’s auch so. Aber an all diesen Stellen gibt es Sätze, die wie Wegschilder aufgestellt sind, ohne, hoffe ich, wie Zaunpfähle zu wirken.
      Aufs ganze gesehen sind die “Fremdnahmen” aber nur wenige, und überall, wo es sie gibt, versuchte ich, ihnen etwas hinzuzutun: bei Brosamer ist es eine ganze Vorgeschichte. Es ist ein handwerklicher Spaß, Figuren anderer Autoren, die man schätzt, Vorgeschichten zu schreiben, die sich nahtlos in ihre “eigentlichen” Bücher fügen.

    7. Wolpertinger Lieber Alban Nikolai Herbst!

      Nach bis jetzt knapp 100 Seiten Wolpertinger bin ich – als Nicht-Literaturprofi – bislang doch sehr angetan. Eine Gespenstergeschichte als Prolog und die Beschreibung von Deters und den leider allzu typischen Mitreisenden bei einer Bahnfahrt (nebst Agentengeschichte) als Romanbegin. Was mich am meisten verblüfft: Es ist amüsant! Wie Kehlmann. Ich habe streckenweise glockenhell gelacht.

      Außerdem begeistert mich die Verschachtelung der 3 Handlungs- bzw. Bewusstseinsebenen: Der Autor erzählt dem Leser, wie er gerade die Romanebene formuliert, in der er selber am Küchentisch sitzt und dort sich die Geschichte vom Mann in der Kiste ausdenkt, welcher dann von der Handlungsebene Küchentisch weg in eine Geisterwelt eintaucht und sich dort zeitweilig in eine Art Computerwelt (fast) verliert. Und überhaupt diese Geisterwelt: Eine Mischung aus Sciene Fiction und Kino, man glaubt, Ausschnitte alt bekannter, aber nicht mehr präsenter Filme zu sehen.

      Ich habe so etwas bisher noch nicht gelesen (was natürlich nichts heißen will). Und insofern lösen Sie für mich bisher Ihr seinerzeitiges Statement gegen Elmar Krekeler im DFW-Blog ein, es habe auch vor Wallace, Bolano und Tellkamp „nicht-kleinmütige“ Literatur (in oder auf Deutsch) gegeben.

      Außerdem entwerfen Sie viele großartige Szenen wie z.B. die Fahrkartenkontrolle und obszöne wie die von „Alter Frau, junger Hund“ (S. 45). Sie finden gewagt-anschauliche Formulierungen z.B. für die um eine Kiste kreisende Elfe, welche diese „umkolibrit“ (S. 29), und unvergesslich scheußliche: Die alte Frau “riecht nach zerkochtem Tieraas“ (S. 44). Wunderschön seltsamer Satzbau: „Agenten haben die Pflicht, noch dann, wer sie nicht sind, glaubhaft versichern zu können, werden sie aus dem Träume gerissen und im Halbschlaf verhört“ (S. 40).

      Noch 2 Fragen;

      „Hungerkünstler“ (auf S. 94) meint Kafka?
      Und „Stephen“ meint: Stephen Dedalus?

      Beste Grüße

      NO

    8. Wolpertinger @Dr. No. Hungerkünstler – wahrscheinlich; ich weiß es aber nicht mehr, und wenn, wäre die Anspielung eine Marginalie; ihr zu folgen, glaube ich heute, führt nicht weit. Mit Stephen Dedalus ist es etwas anderes. Joyces Roman ist für mich in meiner Jugend prägend gewesen, auch persönlich; Dedalus hat für meine Selbstwahrnehmung, für mein Rollenverständnis usw. eine ähnlich persönliche Rolle gespielt wir Stavrogin aus den Dämonen Dostojewskis; es gibt, neben eher den U-Bereichen zugehörige Personen wie Sherlock Holmes und John Silver, und aber literarisch völlig unergebigen Figuren wie Greystoke (“Tarzan”), keine anderen Charactere von einer für meine ersten literarischen Versuche auch nur annähernd bedeutsamen Rolle. Auf Dedalus habe ich mich immer wieder bezogen. Als ich den Wolpertinger schrieb, von etwa 1982 bis 1992, war “Jugend” allerdings schon vorbei. Prägende Lektüren waren da schon Jean Paul, Sigmund Freud, Watzlawick, Bion, Bateson, Whitehead, unter den Dichtern Kafka und Jahnn, Christa Reinig und Gerd-Peter Eigner, Arno Schmidt und Heinrich Schirmbeck, vor allem aber Louis Aragon und auch Miodrag Bulatović gewesen – und wahrscheinlich andere, für die ich keine zeitliche Zuordnung mehr habe; von Niebelschütz weiß ich, daß ich ihn zeitgleich mit Entstehung des Wolpertingers las, wie auch Benn. Bei Niebelschütz bewunder(t)e ich die Leichtigkeit. Viele andere Dichter, etwa Borges und Nabokov, kamen erst später hinzu, als ich bewußt nach Autoren suchte, die mir noch etwas sagen könnten, von denen ich lernen könnte. Grass, Walser, Böll usw. – also der heutige “Kanon” – hat für mich nie eine Rolle gespielt.

      Was die Rezeption anbelangt. Ich habe drei Probleme mit Kritikern und Lektoren gehabt; und jene standen damals dafür, ob man überhaupt Erfolg hatte: Problem eins waren die, die nicht wollten, aber wußten; Problem zwei waren die, die nicht wußten u n d nicht wollten; Problem drei ist ein jüngeres, und es betrifft auch Kritiker, die ich sehr schätze. Zu denen gehört Krekeler. Das Problem drei sind solche, die nicht wollen können, weil sie nicht wissen. Das ist eine Generationenfrage. Ich dachte immer, wenn erst die Altkritiker überlebt sind und abgelöst werden, was unterdessen ja geschehen ist, dann würde ich neu gelesen werden. Das ist ein naiver Irrtum, weil er annimmt, es sei überhaupt ein Interesse an unmittelbar Gewesenem da. Autoren wir Krekeler sind ebenso “klassisch” gebildet wie ihre Vorgänger, wahrscheinlich mindestens so sehr; das geht aber nur bis zu ihrer eigenen, also unmittelbaren, Neuzeit. Von da an prägten sie die Zeitläufte, und wer von denen nicht erfaßt wurde, fällt schlicht aus dem Raster. Genau deshalb kann es, zum Beispiel in Volker Weidermanns Literaturgeschichte, vorkommen, daß ästhetisch wichtige Namen zu im besten Fall Randerscheinungen werden, von denen man merkt, daß selbst die kaum gelesen sind. Namen, die in dieser unmittelbaren Eigen-Neuzeit gar nicht aufgetaucht sind, weil die direkt Vorderen sie verschwiegen haben, k ö n n e n deshalb gar keine Rolle für sie spielen. Und um alles per Eigenrecherche und -lektüre nachzuholen, ist die Berufszeit auf zu sehr Schnelligkeit notwendigerweise angelegt. Deshalb kommt es auch zu dauernden “Geniewerken des Jahres” – einfach weil die unittelbaren Vergleichsmaßstäbe fehlen.

      So lange es aber Leser gibt wie Sie, die, was sie erfahren, auch weitertragen, besteht kein Grund, nicht zu hoffen. Sehr sehr vieles wird ja wiederentdeckt oder überhaupt erst entdeckt, und einige Autoren, die es völlig zu Unrecht nie in den Kanon schafften, etwa Niebelschütz, haben Wissende, von denen sie, wie Arno Schmidt das sah, von Hand zu Hand durch die Jahrzehnte weitergereicht werden. Zu denen gehört Lezama Lima, zu denen gehört Christa Reinig, und auch ich werde zu ihnen gehören, wenn ich einmal verstummt sein werde als Mensch.

      Etwas, das mich besonders gefreut hat: daß Sie glockenhell aufgelacht haben. Ja, so ist vieles am Wolpertinger gemeint, so sind aberwitzig viele Formulierungen gemeint. Zwar, schreibt Goethe, das Lachen geht i m m e r über einen dunklen Grund, aber in keinem anderen meiner Bücher kam es mir auf Humor und auf Witz, was je etwas anderes ist, so an wie hier. Wenn ich aus dem Buch vortrage (das ist leider sehr selten geworden), wird das auch immer sofort klar; für Lektüren habe ich anderes gehört: die oft sehr weitgespannten Hypotaxen sind für auf schnelle, knappe Sätze (auf Funktionalität bei allerdings gleichzeitiger Bedeutungskraft der Bilder) geprägte Leser ganz offenbar schwierig zu bewältigen, und wird die Anstrengung groß, geht jeder Witz verloren, der zwischen Nebensätze gespannt ist. Eine Persiflage des Vorgangs habe ich mit der “kantschen” Toilettenszene konstruiert, die Sie ja schon gelesen haben. Der ganze Witz dieses Dings wird klar, wenn man die Szene laut liest – weil man dann immer wieder abbrechen und neu anfangen muß und sinnvoll eigentlich gar nicht durchkommt. Das entspricht einerseits genau Deters’ Situation in der Szene und ist eben andererseits von irrer Komik.

    9. Wolpertinger Lieber Alban Nikolai Herbst!

      Ein bisschen beschämen Sie mich mit Ihrer ausführlichen und vor allem hoch interessanten Antwort, vielen Dank! Es drängt mich Stellung zu nehmen zu vielen von den 1000 Dingen, die Sie ansprechen. Aber dafür bräuchte ich ewig. Daher nur so viel: Bei aller berechtigten Kritik am „Kanon“: Die „Blechtrommel“ i s t groß und Uwe Johnson ist es auch. Finde ich. Und zu Weiterreichung von Hand zu Hand bzw. Wiederentdeckung: SIE hatten seinerzeit in Ihrer Krekeler-Liste Marianne Fritz und Wolf v. Niebelschütz genannt und ICH habe „Die Kinder der Gewalt oder die Sterne der Romani“ bzw. „Die Kinder der Finsternis“ antiquarisch gekauft bzw. bestellt.

      Beim Wolpetinger bin ich zwischenzeitlich auf S. 240 angelangt. Es ist weniger amüsant geworden. Die konstruktive Anlage des Erzählten allerdings ist höchst beeindruckendes Hochseil-Reck:

      Innerhalb eines Absatzes, manchmal innerhalb eines Satzes, wechselt es von der Erzählerperspektive in die Ich-Perspektive und zurück; Passagen werden zwei- oder noch mehr Male erzählt, jeweils mit anderen Handlungsverlauf und Ausgang; der Erzähler unterhält sich mit dem Leser darüber, dass und wie Passagen neu oder anders erzählt werden; nie ist man sicher, ob der Deters jetzt im Zug sitzt und beim Speisewagenkellner Kakao trinkt, oder ob er das Erlebte tatsächlich erlebt; wie in einer Symphonie werden drei oder mehr Stimmen zu einem Wohlklang quasi übereinandergelegt (Deters sinnt über das Leben, Lipom diskutiert mit dem Professor, einer der Wandersmänner erzählt den schlüpfrigen Witz); bereits erzählte Passagen werden im Fortgang des Geschehens als nicht passiert behandelt; im aktuell Erzählten spiegelt sich – mit denselben Worten, aber anderen Personen – das Geschehen aus dem Prolog. Unerhört! Unerhört gut gemacht. Unerhört verwirrend, aber neu (für mich) und es hinterlässt Eindrücke bisher so nicht Gelesenens.

      Die Bedeutung von all dem? Okay, nach Prolog und Bahnfahrt kommen die Helden im Hotel an und unterhalten sich. Aber: Wird hier die Gruppe 47 nachgespielt und Dr. Lipom (oder der noch nicht aufgetretene Danielo) ist Hans Werner Richter? Oder weile ich auf dem Zauberberg? Immerhin, das Hotel Wolpertinger steht ja auf dem „Quastenberg“ und die Protagonisten schauen ins Tal im August. Dazu passte, dass Dr. Lipom und Prof. Murnau sich in einem ewigen gelehrten Disput zu streiten scheinen letztlich um Aufmerksamkeit (oder gar Seele) von Deters wie einst Settembrini und der Jesuit gerungen haben um Hans Castorp. Dann gäbe Anna die Clawdia Chauchat. Ist es denn Zufall, dass eine „Claudia“ zu der Wandergruppe gehört? Oder sind wir doch ganz woanders, denn mit der „Tarnkappe“ (S. 105) ist klar, Lipom ist der Niebelung. „Realität. Chimäre.“ (S. 170)

      Inhaltlich bin ich noch unsicherer. Der professorale Disput sagt mir wenig. Die Geschichte vom alten Sämann im Gedankengespräch mit seiner verstorbenen Frau über eine erotische Begegnung ist hübsch, aber geht nicht weiter. Deters und Bertrecht (BertBrecht?) gehen spazieren. Doch letztlich: Was geschieht hier eigentlich? Ich weiß es nicht. Und das ist ein bisschen mein Problem. Jedenfalls konnte ich mit dem Geisterprolog und der Bahnfahrt mehr anfangen. Aber das mag sehr wohl an mir liegen.

      Rolf-Dieter Brinkmann wird kritisiert (S. 184), verstehe ich das richtig? Ich vermute, Marcel Reich-Ranicki kann als „lispelnder Juror“ die Dichterfrau nicht vom Mann unterscheiden (S. 186): Warum? Das Hotel „Schloß“ zu nennen (S. 179), weist ja wohl auf Kafka hin: Weil?

      Egal! Denn: Die Szene mit der Wandergruppe (das Krokodil Lacoste) und dem betrunkenen Deters ist hinreißend komisch und die Anbändelung zwischen Hans und Claudia hinreißend schön, das entschädigte für alles, wenn denn das nötig wäre. Und auch auf den jetzt gelesenen Seiten finden Sie poetische Bilder:

      „Tundra füllte sein Herz…“ (S. 213).

      „Das Tageslicht stand, wie durch Milch gezogen, flüssig vor den Gardinen…“ (S. 157).

      „Ich sehnte mich nach einem Sternenhimmel aus geflockter Milch…“ (S. 182).

      Danke dafür!

      Beste Grüße

      NO

    10. Lieber Dr. No @Wolpertinger, soll ich Ihnen Antworten geben – oder besser (noch) nicht?

      Vielleicht ein paar Hinweise, weil der Wolpertinger mit etwas begann, das ich später “aus der Fülle erzählen” genannt habe – ganz bewußt g e g e n die poetische Doktrin des angeblich Wesentlichen, “Verdichteten”, an dem man gute Literatur erkenne:
      Der Aufstieg Ulla Hahns begann nach ihrer Abkehr von der DKP, wofür sich Reich-Ranicki, der immer ein Herz für Renegaten hatte, mit dem Artikel “Eine Rose für UH” bedankte. Zur Zeit der Entwürfe des Wolpertingers lag das alles lang zurück. Solche Elemente habe ich immer wieder in meinen Büchern travestiert, ohne daß es eigentlich tragendes Element wurde und überhaupt, um einem Roman zu folgen, werden müßte. Allerdings spiele ich in der Tat als Grundidee mit einer Überlagerung von Zauberberg und Gruppe 47, wobei es die “Akademische Tischgesellschaft”, auf die sich die Disputanten bisweilen beziehen, in dem Hotel, das für den Wolpertinger Modell stand, tatsächlich gegeben hat, ebenso wie, daß es auf einem Questenberg steht. Dies, übrigens, wird später miterzählt und dann ganz genau so Teil der Fiktions/Realitätsmischung. Was Clawdia Chauchat anbelangt, so spiele ich mit der Assonanz; Dr. Weigan, das werden sie merken, hat tatsächlich mit Mme Chauchat höchst wenig zu tun, und Anna, sowieso, geht gänzlich andere Characterwege.
      Zu “Schloß”: Kafka ist richtig, aber eine Fehlspur; später wird, was richtig”er” ist, Burg gesagt: Monsalvatsche nämlich. Das ist der e i n e Strang, der untergründig immer mitläuft. “Seele” ist da ein wichtiges Stichwort, vor allem, wenn man es in Bertrechts innerer politischer Organisation spiegelt.

      Selbstverständlich, die Blechtrommel i s t groß; gar kein Widerspruch; und Uwe Johnson ist es sowieso. Aber es gab/gibt so vieles daneben, das, z.T. politisch sehr bewußt und mit allen Tücken der öffentlichen durchgeseilten Intrige, vergessen gemacht worden ist; der schon genannte Reich-Ranicki, vor allem aber auch Walter Jens, haben dabei dunkelste Rollen gespielt. Ich habe darauf immer wieder den Zeigefinger gelegt, und ein nicht geringer Anteil der mir widerfahrenen Miß-Anerkennung ist eben darauf zurückzuführen. Ich habe übrigens auch Schnurres “Der Schattenfotograf” geliebt, so sehr, daß ich meinem Exemplar einen eigenen Einband habe binden lassen. Für solche Späßchen hatte ich damals bisweilen noch Geld.

      “Was geschieht hier eigentlich? Ich weiß es nicht. Und das ist ein bisschen mein Problem”: Drehen Sie ein wenig den Kopf:: es ist D e t e r s’ Problem. (Deters ist, sozusagen, eine synthetische Person; das ergibt sich aus dem vorhergehenden Roman der Serie, “Die Verwirrung des Gemüts”, wo jemand, der sich aus zwei ganz anderen Personen herauszusynthetisieren scheint, mit eben dem falschen Paß aufbricht, der am Anfang des Fahrt-Scherzos eine Rolle spielt. Was Christoph Sämann anbelangt, werden die Fäden – wie übrigens a l l e – zusammengeführt werden: sie wurden es in diesem Fall allerdings andeutungshalber schon vorher; in “Die Fahrt” heißt es: “Gleichwohl sei erwähnt, daß sie Lenore Pomposiewitz heißt und eigentlich hätte Trauer anlegen müssen, weil ihr um drei Jahre älterer Bruder Bruno, der wiederum ein jüngerer Kriegskamerad des vor wenigen Jah­ren dahingegangenen Groß­vater Branskes sowie Christoph Sämanns gewesen ist, mit An­hub des kommenden Weihnachtsfestes verbrennen wird. “

      (Bertrecht, BertBrecht: logisch… Das steht aber lediglich für etwas, ist nicht personal gemeint: Wem hatte der progressive Dichter von den Sechzigern bis in die frühen Achtziger zu “dienen”? Und wegen des Amusements hatte ich mir nach der Komik von I,4 gedacht: das reicht vielleicht mal… – Kommt aber wieder.)

    11. Wolpertinger Lieber Alban Nikolai Herbst!

      Das macht mir große Freude!!! Danke, dass Sie sich so viel Zeit nehmen, Literatur und den Schaffensprozess zu erläutern.

      Zwischenzeitlich habe ich großartige weitere 50 Seiten gelesen und bin auf S. 290 angelangt. Und fast so lange habe ich benötigt, um die dauernden Wechsel von „er“ zu „ich“ bei Deters zu begreifen, nämlich dass der zugfahrende Deters im Zug sitzend an seinem Roman schreibt, in welchem eine Figur namens Deters Zug fährt und die gleichen Personentypen trifft, denen auch der „wahre“ Deters begegnet. Da aber (oder irre ich mich?) mal der „wahre“ Deters in der Ich-Form spricht und seine Romanfigur „er“ ist und sich auch mal dieses Verhältnis umdreht (der wahre“ Deters in der Er-Form, nun aber seine Romanfigur in der Ich-Form), ist auch die Sache nicht ganz so einfach. Aber umso interessanter. Hochseilreck!

      Jawohl, die Amusements kommen wieder! In der köstlichen Szene der schon bekannten 5 Helden mit dem jetzt neu auftauchenden Freiherren und Junker Hüon, der in seiner gestelzten Sprache aus dem 18. Jahrhundert vom Verschwinden seiner Braut berichtet. Brüllend komisch!

      Und gleich danach 180-Grad-Stilwechsel. Der lange Brief des Vater Hüon. Keine Postmoderne, sondern eine chronologische, stringente Familienerzählung mit rotem Faden darüber, wie sich ein uraltes Geschlecht über Generationen in Frankreich und Deutschland verteilt. Das alles in angemessener, alt klingender Sprache. So stelle ich mir Ihren Niebelschütz vor. Aber es wird kein Abschnitt eines historischen Romans, sondern allmählich-plötzlich schlägt die Story um. Vater Hüon wird zum zweiten Dr. Mengele und der Leser befindet sich im Bereich der „Medizin ohne Menschlichkeit“ und des Antisemitismus in Nazi-Deutschland. Und am Ende funkt die Sprache des dies alles vorlesenden Dr. Lipom da-hä-zwischen. Und ganz am Ende plaudert Deters parallel-unauflösbar mit der Anna aus dem Zug und mit der Anna aus seinem Buch.

      Das ist ganz großes Kino.

      Damit nicht genug: Ganz abgesehen davon, dass mich der historische Abschnitt über das uralte Geschlecht schon an das Nieblungenlied erinnerte, geht es dann auch noch um einen RING der Familie Hüon. Da ich ja bereits Siegfrieds WALDVÖGEL im Prolog und Lipoms TARNKAPPE bemerkt hatte, ist jetzt eigentlich deutlich, wo wir eben a u c h verortet sind. Dazu passt Ihr Hinweis auf BURG (also Walhalla). Aber nicht Ihr Hinweis auf „Monsalvatsche“, denn das gehört doch zum Heiligen Gral, oder? Und Hüon Junior als Findelkind Siegfried? Na, wir werden sehen…

      Die Verbindung Christoph Sämann/Leonore Pomposiewitz habe ich später dann auch gesehen, allerdings erst hinterher, als ich nachprüfte, ob denn ihr verlorener Wilhelm der Hüon-Großvater und sie die der Familie unbekannte Briefadressatin „Leni“ sein könnte.

      Auf Ihre Bemerkung zum Literaturbetrieb komme ich noch gesondert zurück.

      Noch einmal vielen Dank!

      Herzlich

      Ihr NO

    12. @Dr. No. “Die Verbindung Christoph Sämann/Leonore Pomposiewitz habe ich später dann auch gesehen, allerdings erst hinterher, als ich nachprüfte, ob denn…” – Solche Leser wünscht sich ein Romancier, für solche baut er so etwas. Sie werden noch überrascht sein… aber das geht nur immer dann, wenn jemand solche Fragen auch stellt.

      Wegen Monsalvatsche: es läuft noch ein anderer Strang mit, sozusagen gegen die Patriarchen Lipom, Murnau, besonders dann Daniello. Das ist der Anna-Strang. Es wird eine Szene geben, in denen die Blumenmädchen persifliert sind, und Anna dann, kurzfristig Kundry, wird auf Esclarmonde, die, glaube ich, schon genannt ist, herunter-, bzw. hinaufprojeziert. Dazu immer der Streit Oberon/Titania. Wieso Oberon, wird direkt erzählt irgendwann, da will ich nicht vorgreifen.

      Wie aber war das mit Ihrer Bemerkung zum Literaturbetrieb? Kommt sie noch?

    13. Wolpertinger Lieber Alban Nikolai Herbst,

      Zwischenzeitlich bin ich ca. 140 Seiten weiter und habe mit 434 fast die Mitte des Buches erreicht. Im Zustand der Begeisterung. Wie können Sie schreiben! Was für ein Weltenentwurf wird einem da serviert!

      Auf die Hüon-Abschnitte folgen wieder literarische, philosophische Dispute, die mir – wie schon erwähnt – schwerer fallen; aber egal: Wer erinnert denn eigentlich noch wirklich, was Naphta und Settembrini ausdiskutiert haben? Bzg. Konstruktion werden meine (verspäteten) Erkenntnisse über Unterebenen und Perspektivenwechsel (nach dem schönen Gedicht „Durchatmen“ erläutert: Mehrere Darstellungen „simultan“ (S. 303), also sagt die „wahre“ Anna [Anna I] zum „wahren“ Hans Deters [Ebene 1]: „ …unser Freund [Hans Deters im Roman; Ebene 2] denkt sich das pastorale Zwischenspiel [Ebene 3] aus, während er bei den Disputanten [Ebene 2] sitzt“ (S. 350). Was vorher verwirrte, ist jetzt ein Vergnügen zu lesen, man merkt jetzt, wenn sich die Ebenen vom Roman zum Roman im Roman und weiter nach unten verschieben und wechselt nach kurzem Stutzen mit. Man schwenkt von Anna I zu Anna II und zurück. Das ist großartig!

      Übrigens scheint mir die Hüon-Familiengeschichte über sich hinaus zu weisen („1955“); aber ich wage nicht zu fragen.
      Lieber noch ein kleiner Rückgriff: Das „Die Fahrkarten bitte“ aus dem Zugkapitel zitiert den ersten Satz aus „Pocahontas“? Ist aber „nur“ eine Hommage, kein tragendes Element?

      Im Roman bereitet unterdessen eine Frau Buchsbaum in ihrer degenerierten Sprache die Geisterwelt im Keller vor, Jean Pauls Begriff von den „Blumenstücken“ wird eingeführt (S. 315) und die Gurre-Lieder (S. 319), es gibt atemberaubende Wortschöpfungen wie den der „Denksoldaten“ (S. 322), der „Maschinenseele“ und dann, ja dann erschaffen Sie den „Zaubergarten“, ein Kapitel voll Poesie mit so wunderschönen Formulierungen wie:

      „Statt Anna gegen die Tür klopfen zu hören, schwamm er nahe dem Ufer eines frühen, aufgeheizten Abends gegen ein gewittriges, künstliches Licht“ (S. 324).

      „Der Bach übersprudelte die Gesprächssegmente, die nur noch wie versehentlich herüberwehten, bald gänzlich zerflatterten … und die erste Prile füllende Dämmerung sich durch sanftes Rieseln bemerkbar machte“ (S. 328).

      „Ich betrachtete angerührt eines ihrer wunderbar feinen Ohren, dünnrandig wie Teeporzellan…“ (S. 329).

      Hier nun spätestens nimmt der Roman mit dem ziegenzüngigem Faun, der zurück hinter einen Busch „känguruht“ (S. 340), die Geisterwelt des Vorworts wieder auf und kippt in einen Sommernachtstraum.

      Und da auch unüberlesbar das Hotel Wolpertinger nun als BURG (S. 328) bezeichnet wird, der Herr Dr. Leipom unter einer ESCHE sitzt (fehlt noch ein Speer in seiner Hand – der Krückstock?) und später auch joch vom DRACHEN die Rede ist, sind wir nun ganz sicher auch im RING, zumal auch der Name „Wagner“ fällt.

      An den Zaubergarten schließt sich als erstes Blumenstück eine Weihnachtsgeschichte (S. 359) an, die in ihrer Mischung aus einsamer Traurigkeit und deren Überwindung ihres Gleichen sucht. Wie eine Single aus der LP könnte man das auskoppeln und unabhängig vom Rest beim Fest vortragen.

      Und dann beginnt im Wolpertinger die Zauberwelt:

      Anna (aus dem Roman-Roman) ist ein Fabelwesen und kann sich geisterhaft verformen (S. 375); sie dürfte die Rolle der blauen Elfe spielen aus dem Vorspiel. Lipom ist auch ein Fabelwesen, stülpt Prof. Murnaus aus sich heraus (S. 376) und entspricht dem Herrn Marduk aus dem Vorspiel bestimmt, schon wegen der Sprach-hä-he. Die jetzt in Erscheinung tretende Psychologin erklärt: „Es gibt Lipom, Murnau und Frau Häusler [Anna II} nicht“ (S. 380). Und Anna II sagt zu Hans II: „Ihr Menschen habt Macken…“ (S. 409).

      All dies wird untermalt von hinreißenden Passagen wie:

      „Er hielt die Augen geschlossen…Schritt in einen See aus Nacht“ (S. 370).

      „Die Treppe herab rann Licht, rieselte in den Vorraum, plätscherte gegen die Tür der Bar“ (S. 371).

      „Hinter seinen Lidern glühte Bougainvillea in violettroten Stürzen“ (S. 374).

      „Sie blickte ihn aus wunden Augenhöhlen an“ (S. 379).

      Traumhaft. Traumhaft schön!

      Und wenn es am schönsten ist, platzt hinein in die Stimmung der innere Monolog des angepfiffenen Kellners, wie er jetzt mit solchen Gästen am liebsten umspränge (S. 383). Verzweifelt und urkomisch!

      Damit nicht genug wird anschließend auf S. 403 – 408 in 4 verschiedenen Variationen dargestellt, wie Hans das Zimmer von Anna betritt. Beim letzten Mal dürfte es endlich Anna I sein. Wir sind wieder in der „Wirklichkeit“. Glaube ich. Was für Ununterscheidbarkeit von „Fiktion“ und „Realität“! Faszinierend!

      Und noch immer bleibe ich gepackt. Jetzt wechseln sich auf wenigen Seiten und in ihrem jeweiligen Sprachduktus mit eigenem Wortschatz ab die Erinnerungen des Irakkriegs-Söldners Gangolf (S. 421) an Mord und Erbeutung des Rings (der Hüons!?!) und an seine Errettung durch Prof. Murnau, die Erinnerungen von Claudia an ihre Beziehung (S. 425), die des Küsters an Nazizeit und Musik (S. 429) und die des Micha an Claudia und an seine 68-er Kumpel (S. 431). Von Terroristen ist die Rede. Die Staffelstäbe werden in einem Reigen wie bei Schnitzler oder Bolano übergeben, alles spannend, flüssig, begierig liest man weiter.

      Noch Fragen? Ja:

      „Morus“ (S. 388) meint Thomas Morus und „Utopia“?
      „Raspe“ (S. 433) soll erinnern an Jan-Carl-Raspe und die Bader-Meinhof-Bande?

      Beste Grüße

      Ihr NO

    14. Lieber Herr Dr. No, Sie machen mich momentan wirklich glücklich; es kommt einem nicht mehr – wie manches Mal dann doch ist – unsinnig vor, daß man so gearbeitet und geträumt hat: ja doch nicht allein für sich selbst. Das Buch ist siebzehn Jahre alt, siebenndzwanzig, wenn ich die ersten Sizzen mitrechne, und es kann leben, offenbar. Vielleicht verstehen Sie jetzt, weshalb ich über Krekelers Bemerkung damals so erbost war und weiterhin und immer wieder über so vieles, was im Betrieb geschieht, erbost bin.

      Pocahontas ist allenfalls unbewußt übernommen, weil ich Pocahontas nur von den Spielkarten meines erst im Jahr 2000 geborenen Sohnes kenne; da war der Wolpeteringer quasi schon Geschichte. “Morus” weiß ich einfach nicht mehr. Und “Raspe”, ja: ganz richtig, das bezieht sich auf Bader-Meinhoff. Der deutsche Terrorismus hat mich seit meiner Jugend, in die er fiel, ausgesprochen beschäftigt; ich beziehe mich im Wolpertinger sogar auf einen Roman, den ich mit sechzehn/siebzehn darüber schrieb und dann liegenließ, ohne ihn je zu überarbeiten. Er liegt hier aber noch rum, und eines Tages will ich wieder drangehen. Jan-Carl Raspe heißt bei mir Günter Carstens – ich weiß nicht mehr, ob “Günter” mit “th”, muß ich nachsehen – und wird “die Viper” genannt. Ich kenne alle seine Texte.

    15. Werter Herr No, bitte schreiben Sie weiter über Ihre Lektüreerfahrung. Ich bin fast gleichauf mit Ihnen. Und lese sehr gern und regelmäßig nach, wie Sie es gelesen haben. Für mich ist es die zweite Lektüre – und diesmal ganz anders. Ich kann das aber nicht, wie Sie so wunderbar, begleitend schreiben. Ich muss Leseeindrücke immer erst länger wirken lassen.

    16. Wolpertinger Liebe MelusineB!

      Artig bedanke ich mich für Ihr Blumenstück. Das war sehr nett von Ihnen. Leider werde ich in den nächsten 2 Wochen kaum zum privaten Lesen kommen. Meine Anmerkungen werden also ins Stocken geraten und Sie mich im Text überholen.

      Witzig, dass Sie sich melden, denn ich wollte Sie fragen etwas. Ich las ja in Ihrem wunderschönen Dialog mit ANH über das Verrinnen der Zeit. („Aber die Jugend ist: Unwiederbringlich!“. Das klingt traurig übrigens. Und sollte es nicht. Es sollte sein wie James Coburn sagt in diesem Film: „Dieses Land wird alt. Und ich mit ihm“. Es sollte sein wie alter Clos de Vougeot.)

      Ich wollte Sie fragen: Inwiefern sagt Ihnen der Wolpertinger heute, 10 Jahre später, mehr als damals, was hat der Roman mit vergehender Zeit zu tun?

      Beste Grüße

      Ihr NO

    17. Gepflegtes Miteinander Ach, wenn hier doch alle so artig, nett und wunderschön miteinander umgehen würden. Der freundlichen Ansprache folgt ein erhellender konstruktiver Austausch, ein jeder ist zur Empathie nicht nur bereit, sondern pflegt die Höflichkeit und Rücksichtnahme, am Ende dann ein Gruß, ein Augenzwinkern bei zurückgelegtem Kopf. Welch ein Kontrast zur dummen Häme und überzogenen Schärfe vieler (sogenannter) Kommentatoren, die Sie, lieber Herr Herbst, leider billigend in Kauf nehmen. Welch eine Wohltat, Freundliches von freundlichen Leserinnen und Lesern aufzunehmen, welch Erlebnis, zwischendurch einmal aufatmen zu können. Der Tag wird gut, spüre ich und wünschen allen “Bloomiges”. Ihre Edith

    18. Unangefochtenes Sollte als Wächter der großen Anderswelt ein Geschlecht gutgekleideter Politessen notwendig sein? Denen stünde freilich das reine Unangefochtene schön zu Gesichte. Scheint es doch fast, als wäre es eine geweihte Aufgabe, sorgsam komponierte und erzählte Geschichten zu bewachen, daß nichts aus ihnen herauskomme als eben feines Edles oder auch edles Feines, aber ja kein boshaftes Geschehen. Ja, liebe Melusine, streuen Sie Rosen, ja, lieber NO, stellen Sie die Fragen, die wir hier alle stellen würden, ja, liebe phyllis, zweifeln Sie nicht, sagen Sie “JA”, ja, lieber Herr Herbst, seien Sie ein Medium gegen die deprimierende Vorherrschaft der Pessimisten mitsamt ihrer grinsenden Unansehnlichkeit. Ja, sagt auch: Ihre (lächelnde) Edith

    19. “Die mit den Rosen bin ich” Ja, liebe read An, ja und noch einmal ja, wenn wir seine Wiese mit unseren Blumen der Anerkennung in ein schwellendes Blütenkissen verwandeln können, heute, gerade heute an seinem Vorleseabend, niemand könnte mehr herablassend und kränkend kommentieren, alle würden nickend und anerkennend seine wahre Größe akzeptieren. Lassen Sie sich fallen, lieber Herr Herbst, in das Kissen der Ihnen Zugeneigten. Ihre Edith

    20. @Edith88 (Herausgabe, die 88zigste) Also als Spielwiese würde ich´s nicht bezeichnen und Erkennen wäre ein Bekanntes. Nachvollziehbar. Und ich meine nicht die Empathie, die muss man einem Beibringen, denken Sie an kleine Kinder, wenn´s Brüderchen dem anderen Brüderchen nen Bauklotz entgegenpfeffert. Was passiert dann? Irgendein Elternteil stellt das Leid nochmal nach, erst recht wenn der Bauklotz sie selbst getroffen hat!

      Anerkennen ist mir zu sehr Pflicht im Bereitschaftsdienst.

      Auch ich bekenne mich erstmal als Jasagerin!

      Aber der einfache Grund dahinter ist, ich nehme erst einmal ernst was andere mitteilen, ob´s mir passt oder nicht. Sicher, auch eine gepflegte Gepflogenheit! Das hat mit Mir nix, Dir nix nix zu tun. Und mit Empathie eben auch nicht. Verstehen Sie warum mir das einfällt? Weil jeder seinen eigenen Winkel Schlupf hat.

      Achso, ich sehe gerade beim nochmaligem Nachlesen den eigentlichen Kern in der Sache. Die Trolle als das Salz in der Suppe. Und das es Einzelne verstimmt, dass sie (die Trolle) eingearbeitet werden, durchgefiltert durch die literarische Blog-Theorie. Ich glaube der Knatsch rührt von der Differenz her. Zusammengenommen, egal in welcher Zahl sie nun auftreten oder eben durch die Summe ihrer Kommentare, stellen sie ein Phänomen dar mit dem sich arbeiten lässt. Das verstehe ich. Geht´s aber Zahn um Zahn, dann wird es persönlich. Das verstehe ich auch.

    21. Noch was: Das hier ist ein Unraum, kein Hahn kräht nach dem Wetter, und wenn doch dann sind das wir! Murnausche Monaden.

      ACH MENSCH! Was menschelst du?

      Ich hab einfach nen Anagrammzwang.

    22. Wolpertinger et.al. 1. Wegen der Rosen: Ich bin froh, dass Edith88 das klar gestellt hat. Ich streue keine Rosen. Es gibt viele verschiedene Rosensorten, aber dennoch sind es nicht meine Lieblingsblumen. Ich habe es mehr mit den Zehrosen (die einer ganz anderen Gattung angehören!). Schauen Sie mal bei TaintedTalents (Phyllis Kiehl): http://taintedtalents.twoday.net/stories/6368864/ . Die streut man nicht, danach taucht man. Außerdem: Ich bin halt nett. Und steh´ dazu!

      2. Die Trolle mag ich. Punktum. Ich vermisste sie, würde ihr Geplauder gänzlich gelöscht. Ansonsten, denke ich, kann Herr Herbst das machen, wie er will. Es ist sein Blog. Und er benutzt uns alle, wie er will. Wer das nicht will, schreibt eben hier nicht.

      3. @ No Das ist eine schwierige Frage. Ich schrieb ja schon, dass ich meine Eindrücke immer “sacken” lassen muss. Als ich das Buch zum ersten Mal las, hatte ich vor allem Freude an den Sprachspielen, den zahllosen Andeutungen, über deren Entdeckung man sich freut – wie Sie jetzt auch all die Verästelungen und Anspielungen und Verknüpfungen entdecken (manche, übrigens, die ich übersehen hatte, danke für die Anregungen).

      Ich bin aber die Sorte Leserin, die sich während des Lesens nie fragt: Was bedeutet das? Ich lasse mich einfach hineinziehen – in einen “Sound” o d e r eine Geschichte. Ich denke darin liegt auch der Unterschied: Damals war es der “Sound”, diesmal ist es mehr die Geschichte oder eher die Darstellung der Zeit, denn eine linear erzählte Geschichte ist es ja nicht, die mich beschäftigt. Z.B. die Erzählung über Bruno Pomposiewitz, die habe ich damals fast “überlesen”. Diesmal berührt sie mich stark. Wie einer etwas zu setzen sucht gegen die Bedeutunglosigkeit: sein “Weihnachten”, sein illuminierter Baum und dann gerinnt es ihm: “Der Regen strömte in den Mittag wie Zement.” Und er erkennt, “was er da angewuchtet hatte”: es ist nichts damit. Dann bleibt ihm das Zurückschauen, im Rausch wird das Vergangene noch einmal lametta-herrlich. Doch ist es leer. So geht er flammend auf in seinem Baum. Das ist “geschichtslogisch”. Und erweist ihm – als literarischer Figur – die Ehre, die uns Realen versagt bleibt.

      Es ist dies jetzt nur ein kleiner Ausschnitt zu meiner Re-Lektüre. Es geht mir insgesamt diesmal mehr um die Wahrnehmung der Zeit, die Synchronität, die stets auch Treulosigkeit bedeutet, dass man nie ganz “bei sich” ist, verstehen Sie? Denn “einer” ist immer woanders, ficht andere Kämpfe aus, bewundert andere Frauen, beobachtet andere Szenen, nimmt Anteil oder verwirft anderes.

      Daneben wird mir beim Wiederlesen klar, dass die bundesrepublikanische Wirklichkeit, die dem Roman eine Folie (nur eine natürlich) bildet, selbst historisch ist, eine untergegangene Welt, die mir mehr zu Hause war, als ich – damals – wusste. Ich lese das heute so, als ob dieser endgültige Untergang eines sich provisorisch verstehenden Landes (das eben daraus viel Verantwortungslosigkeit und – manchmal – auch Witz schöpfte, grad wie die Wolpertinger-“Insassen”) dem Werk schon “einprogrammiert” sei, als habe sich verwirklicht, was das Lacan- Zitat zu Beginn aussagt, in einer Weise jedoch, die Herbst gar nicht ahnen konnte, so wenig wie einer von uns. Was wir – von damals aus gesehen – gewesen sein würden, das wurden wir (nicht).

      – Entschuldigen Sie, das ist alles noch sehr unausgegoren. Gerne setzte ich mich ruhig hin und schriebe das mit mehr Überlegung auf. Doch fehlt mir dazu die Zeit. Ich schreibe fast alles, was ich schreibe, “zwischendurch”: in Zügen, auf Bahngleisen, zwischen zwei Terminen, mal in der Mittagspause in einem Café. Wartete ich jedoch stets auf die stille Stunde, dann schriebe ich wahrscheinlich gar nicht – oder in zwei Monaten. Ich hoffe, ich werde das später noch besser ausdrücken und auch belegen können.

      Bitte greifen Sie, wenn Sie Zeit haben, Ihre Beschreibung des Leseerlebnisses wieder auf. Ich freue mich darauf.

      Und ja, ich hadere mit dem Älterwerden. Das ist dumm, denn es ist unvermeidlich. Aber ich lerne. Das lerne ich auch noch.

      4. @ReadAn Ihren Anagrammzwang liebe ich! Lassen Sie ihn nicht therapieren. (Zwangs-)Neu-Rosen sind mir die schönsten Rosen!

    23. @MelusineB Genau das ist es, was mir an ihnen gefällt, das Neu. Ansonsten sind es nicht unbedingt meine Lieblingsblumen. Leider hatte ich Ihnen unter meinem Anagramm >Elfe stanzt Rose< so schnodderig geantwortet. Das will ich noch beheben. Aber Sie haben mich auf ein gute Idee gebracht, mit Ihrer Überstzung meines Anagramms. Das könnte ein weiterer Arbeitschritt sein. Eine Überstzung einer Umschreibung. Oder Umschreibungen zu finden, die nur anagrammatisch anmuten.

    24. Wolpertinger Klammheimliche Freude, lieber Alban Nikolai Herbst,

      klammheimliche Freude kann ich n i c h t empfinden, wenn es darum gehen sollte, Texte von Raspe (oder einem der anderen) ernst oder überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Aber ich habe zurückgeblättert in Ihrem Buch. In der motivstarrenden Exposition wird in der Tat der Held Deters von Jerry Cotton (S. 58) angeheuert als Spitzel. Das hatte ich bisher als skurrile Agentengeschichte nicht weiter ernst genommen. Und die Implikationen wohl auch nicht mögen und daher nicht sehen wollen. Mal schauen, ob dieser vielschichtige Roman jetzt auch noch ins Politische umschlägt…

      Aber es geht ja allemal um ästhetische Kriterien. Und insofern hat die so einfühlsame MelusineB natürlich recht, in diesem Buch wird auch die alte Bundesrepublik vor dem Leser abgerollt. Ist lange her; schon fast nicht mehr wahr. Zitat. Bonn, Blicke.

      Was mir `mal nicht so gefällt, lieber ANH: Der abgekackte Sprechstil der Sprechenden in dem Bolano-Reigen (S. 421 – 447) ist zwar klasse, mir aber zu oft zu ähnlich (einerseits Claudia, Akademikerin: „Hab‘ ja geglaubt, dass es. Man könnt‘ ‚ne Maschinenpistole und dann.“ (S. 425); andererseits Katrin Legrande, Verkäuferin: „Hat auch der Versicherungsheini gesagt damals als er mich. Klar, hat mich eigentlich nur ins Bett.“ [S. 438]).

      Weiter geht es im Roman mit dem RING: Den hat Gangolf nämlich von den Terroristen und Sympathisanten erbeutet in Münden vor Jahren (S. 445). Vorher taucht Leo Brosamer auf, aber, lieber ANH, ich habe nicht entdeckt, wer das ist bisher, sorry. In dem folgenden Kapitel ringen Lipom und Bertrecht mit den üblichen Verdächtigen um die Deutsche Schuld und die Gnade der späten Geburt:

      „Wir haben etwas gutzumachen .…- Ich nicht. Sie heroisieren die Deutschen,…nur eben negativ“ (S. 451).

      Das Thema auch von Walser. Und von mir, diese historisch-politische Debatte von Lipom und Freunden interessiert auch mich inhaltlich. Denn SIE, lieber Alban Nikolai Herbst, lassen einem das Blut in den Adern gefrieren, wenn Sie dazu passend zwei Leute in der Kneipe sich einig sein lassen:

      „Das hätte auch alles ganz anders ausgesehen, wenn wir den Krieg gewonnen hätten…Da spräche auch keiner mehr von den Juden. Und jetzt. Ausländer wohin man guckt“ (S. 457/458).

      Fürchterlich. Wie fürchterlich hässlich können Sie den Deutschen darstellen. Wie sehr muss einem das zu denken geben. Zu Recht fragen Sie nach eines jeden Haltung. Manchmal, wenn ich Zeit habe, verfolge ich in Ihren Dschungeln die Diskussion um Kindererziehung. Mir scheint es passend, daraus SIE jetzt hier in diesem Zusammenhang zu zitieren:

      „Das Problem ist ja doch das: was wollen wir, dass unsere Kinder werden? Anders? So wie die anderen? Letzteres enthält, wahrscheinlich, die meiste Chance auf Glück. Aber dann heben sie auch wie andere die Hände, irgendwann arrangiert, wenn gefragt wird: wollt ihr den Krieg?

      Respektvoll erschüttert nimmt man das zur Kenntnis. Das sind jetzt keine ästhetischen Kategorien. Das ist Ernst. Und in diese Ernsthaftigkeit platzt Tamara Jagellowsk (S. 473). Der GSD-Sicherheitsoffizier. Ich fasse es nicht! Wir sind auf der Orion! Weltklasse! Das macht Ihnen so schnell keiner nach!!

      In dem ekeligen Zweites Blumenstück geht es um Vampire, Mord, Inzest, Blut. Es beginnt wunderschön HERBSTlich („am Ende eines ausgetrunkenen Tages…“ – S. 479), aber wenn der trinkende Bettler Kark „seine geröteten Augen in Gangolfs Antlitz geschlagen hatte“ (S. 479), ahnt man schon, dass es übel werden wird: Vater verkauft Tochter an Vampir als Futter für dessen Josefine, und Vater will zusehen dabei und missbraucht Tochter. Wie in Stanley Kubricks (den Sie am Anfang des Buches ja schon einmal mit „2001“ zitiert hatten) Verfilmung von Stephan Kings „Shining“ bricht hier plötzlich das Dämonische ein. Gut gemacht, finde ich, man ist verblüfft. Hier wechselt zur Abwechslung einmal Gangolf die Erzählerperspektive vom ER ins ICH und zurück (S. 491), und auch inhaltlich scheint mir der Roman um eine Dimension erweitert, die religiöse, denn im Grunde streitet Gangolf mit dem Trinker Kark um Gott. „Gott ist tot“ (S. 486).

      Trotzdem wird mir nicht recht klar, was das soll? Okay, der böse Geist wird eingeführt, der von Kark auf Gangolf überspringt, aber wozu dient das? Und so einfach auskoppeln wie die Weihnachtsgeschichte des Ersten Blumenstücks kann man das auch nicht. Ich bin etwas ratlos. Aber egal, so ein Vampirstück (mit Marianne Rosenberg als Begleiterin) muss ein anderer erst einmal schreiben! Außerdem: Bei Vampir denken wir ja an Dracula und Transsylvanien und damit an Rumänien. Daher dürfte dieses Blumenstück vermutlich eine Rose sein für Alea Torik (1983!!).

      Lieber Alban Nikolai Herbst, ich hätte da wieder ein paar Fragen! Wenn Ihnen das zu doof ist mit dem ewigen Nachfragen, verstünde ich das, schicken Sie dann einfach 3 Fragezeichen (???) und beantworten Sie nicht mehr. Wäre völlig okay. Aber für alle Fälle:

      Josefine: Mir kommt das wie ein weiterer Hinweis auf Kafka vor. Aber dann wäre Josefine eine Maus und kein Schwein. Wie passt das?

      Kark-Jonas: Ich weiß, auf S. 121 zitieren Sie den Herrn ausdrücklich, vermutlich ein großer Philosoph oder Religionsgelehrte. Aber für mich klingt das trotzdem mehr (oder jdf. auch) wie eine Hommage an den großen Uwe Johnson („Karsch und andere Prosa“; „Jonas, zum Beispiel“)!?

      Dostojewski: Die pointierte ständige Bezeichnung von Kark als dem Trinker schreit schon so sehr nach Marmeladow, dass ich nach Szene in Kellerkneipe, Sonderbeziehung zu Tochter (wenn auch nicht Sonia), Mord (wenn auch nicht mit Beil, sondern mit Messer) und insbesondere der Glaubensszene auf S. 487 eigentlich keinen Zweifel mehr habe, dass Raskolnikow hier mitspielt (auch weil Sie dessen Geständnisszene mit Sonia irgendwo vorne im Buch [ich finde die Stelle nicht mehr] schon einmal zitiert hatten).

      Literaturbetriebsanmerkungen folgen.

      Beste Grüße

      NO

      .

    25. Melusine B. Wolpertinger Melusine, Melusine,

      hätte ich Klügeres, Schöneres schon über das Zerfliesen der Zeit, hier im Wolpertinger oder sonst, gelesen, ich würde es jetzt sagen.

      Einfühlsam. Feinsinnig. Reich. Wie Frauen ja oft. Bei sich, so weit möglich. Sie sind schon, was wir kleinen Jungs immer erst noch lernen müssen.

      Hätten Sie mehr Zeit, und nicht nur so „zwischendurch“, – was das wohl gäbe?

      Liebe Grüße

      Ihr NO

    26. Lieber No, Danke für die Blumen. Ich nehme sie für – keine Rosen, die ich ja nicht so mag, sondern für – Löwenmäulchen (ach, die liebe ich).

      So bei mir, wie Sie glauben, ich sei es, fühle ich mich nicht. Ich verwandle mich, stetig – und begrüße den Wandel. Doch fühle ich auch Trauer, denn wenn ich mich umdrehe, dann sehe ich, was nicht wurde, das Ungeborene, an dem ich versagte. Das geht wohl jeder so, die sich wendet…

      Ich lese so gern, was Sie schreiben, allein Ihr Hinweis auf Uwe Johnson, dessen Arbeit mir viel bedeutet. “Jahrestage” steht immer in Griffweite bei mir. Gesine und Jakob und Heinrich sind mir wie Freunde. Ich freute mich, wenn Sie auch einmal über Ihre Leseerfahrung hierzu schrieben. Und natürlich weiter über den Wolpertinger.

      Liebe Grüße

      Melusine

    27. Lieber Dr. No, der Wolpertinger mag heimlich sei, klamm aber, denke ich, hoff ich, nie. Es wäre zudem, welche Freude auch immer, ganz unangemessen in Begriff und Inhalt: ein solches Gefühl, sei es triumphierend, sei es hämisch, gegenüber der RAF zu haben; genau aus diesem Grund vermeide ich es, von „Bande” zu sprechen. Die Gruppe eine Bande zu nennen, wäre völlig verfehlt – man muß allein nur Ulrike Meinhoffs Reportagen aus der Zeit vor ihrer Radfikalisierung zur Gewalt gelesen haben, um dies zu wissen. Vieles ging damals durcheinander, so sehe ich das heute, durcheinander an Motiven, die teils der Gruppe, teils ihren Gegnern nicht bewußt waren, bzw. diese wollten sie gar nicht bewußt bekommen, und kein Zweifel, es sind Verbrechen geschehen, nicht nur aber auf einer Seite – doch hinter dem allen stand Überzeugung, wenigstens nicht weniger als hinter dem französischen Revolutionsausschuß gestanden hat. Und der, immerhin, hat uns letztlich das Bürgerliche Gesetzbuch gebracht. Ich bin vorsichtig mit dem Urteilen. Was nun im speziellen Jan-Carl Raspes Texte anbelangt, so sind sie, ob man ihnen folgen will oder nicht, in jedem Fall so klug, daß sie der Analyse, auch einer politischen, wert sind. Mich jedenfalls haben sie sehr beschäftigt. Mich hat die ganze erste RAF als Phänomen beschäftigt; sie hängt ja auch zusammen mit der Wiederentdeckung des Guerillakrieges als Abwehrstrategie, wir alle sehen die Zusammenhänge, wenn wir nach Südamerika blicken, anders, als wenn wir in unser eigenes Land blicken. Ich fand darüber hinaus, als ich sechzehn/siebzehn war, Raspe als Person interessant, anders als etwa Bader, der mich nie sonderlich interessierte. Und ich bin nicht der einzige gewesen, der fasziniert gewesen ist; Hunderte waren es von denen, die ein wenig älter als ich waren damals, bei nicht wenigen fanden die RAFler bisweilen auch Unterschlupf; von denen ließ ich mir erzählen. Man muß die Zeit und ihre Verzweiflungen vor Augen haben, welches politische Verzweiflungen gewesen sind, um hier auch dann zu verstehen, wenn man den Gewaltweg ablehnt. Das große Vorbild der Bundesrepublik, die USA, hat den Gewaltweg im übrigen n i e abgelehnt, bis heute nicht tut sie es nicht, da geht es rein um Staatsraison; selbst Kriege werden, wenn es dem Staatsinteresse dient, geführt. Die Deutschen, das sah Horst Köhler völlig richtig, sind dazu unterdessen auch wieder bereit. Es ist immer eine Frage der Perspektive, die jemand anlegt, wie man zu Urteilen kommt. „Nicht zur Kenntnis zu nehmen” aber halte ich in jedem Fall für eine nicht nur falsche, nein für eine fatale.
      Als Baumwolle Deters anheuert, ist die Rede vom Stammheim-Mord, über den, den Baumwolle da kühl berichtet und den er kalkuliert verteidigt, sich Deters noch aufregt. Das sind dann bereits die Achtziger. Bis heute sind viele Fragen der Vorgänge ungeklärt geblieben, aber die Selbstmord-Version hat sich allein durch erinnerndes Hörensagen als wahr eingeschliffen. Auch so wird Geschichte gemacht – unabhängig davon, ob Baumwolle recht, wenn er sagt: ein Stammheim-Standgericht unter Ausschluß der Öffentlichkeit sei völlig gerechtfertigt gewesen im Staatsinteresse.
      Jedenfalls haben mich die RAF-Jahre so sehr geprägt, daß mich die Frage bis heute nicht losläßt, ob es einen gewaltfreien Widerstand überhaupt geben könne, und Terroristen durchziehen bis zu den Myrmidonen des ANDERSWELT-Projekt nahezu alle meine Romane. Das entspricht völlig, meine ich, der Realität, denn das Phänomen ist seit den Siebzigern ununterbrochen Teil unserer jeweiligen Gegenwarten, wobei ich immer wieder aus jeder mir nur denkbaren Perspektive darüber geschrieben habe.
      Hier aber auch gleich zu Dostojewski; sicherlich hat mich der Raskolnikow eine Zeit lang beschäftigt, wenngleich mir seine direkte Fragestellung nach der Freiheit zur Unmoral immer eher fremd gewesen ist, nicht aber die Fragestellung der Verneinung, die durch einen ganz anderen Typos Dostojewskis repräsentiert wird, nämlich Nikolai Stavrogin aus den Dämönen; hier auch ist bereits ein Zusammenhang eröffnet, der politisch ist, oder, wenn man eine Gegenposition einnimmt, wenigstens scheinpolitisch. Mit Stavrogin habe ich Raspe in Günter Carstens zusammengedacht, habe da immer eine direkte Verbindung gespürt und habe sie, soweit es mir ging, aber eben immer wieder, zu gestalten versucht und versucht, sie auf meine unmittelbare Gegenwart zu übertragen. Dem entgegengesetzt habe ich etwas, das einen n i c h t mit Adorno, der für mich eine Riesenrolle spielte, auf ein letztliches Verstummen angesichts der totalen Warengesellschaft verpflichtet.

      In diesen Zusammenhang eine hübsche Anekdote am Rande: Während der Wolpertinger-Zeit, nein, vorher, wurde ich einmal als vermeintlicher Terrorist, wenn auch nur kurz, verhaftet. Bonn, Blicke. Ich war mit meinem Freund Andreas W. auf der Durchfahrt nach Paris – wie seltsam! die Zeiten! – auf den damals fertiggestellten Sternbau flaniert. Es hatte alles offengestanden, wir sind da einfach durchgegangen. Plötzlich hatten wir Grenzschützer vor uns, angelegte MPs, dann die Vernehmungen usw. Das sagt einiges über die Zeit damals. Auch diese Szene findet sich in Anderswelt wieder.

      Soweit dies.
      Nun zum zweiten Blumenstück:
      Es ist – in der Urfassung, sie wurde über die Jahre immer wieder verändert – die allererste Erzählung, die ich je schrieb; ich war fünfzehn. Heute sieht das Ding ziemlich anders aus, aber die Grundkonstellation ist strukturell gleich. Ursprünglich spielte die Erzählung in Braunschweig, wo ich auch meine Prägungen durch die RAF erlebte. Das Vampirmotiv kam später hinzu, und zwar über einen Roman, den ich hier variiere, Miodrag Bulatovičs, den ich für einen der ganz großen Romanciers des letzten Jahrhunderts halte. Es ist ein ganz bestimmter Roman, der mir die Motive gab, die sich in mein Erstkonzept auf im Wortsinn ungeheure Weise einfügten, ja überhaupt erst Licht auf es warfen: Die Daumenlosen heißt das Buch. Der Vampir in den bayerischen Alpen, das Schwein Josefine, die Kinder, die man ihm vorwirft – das alles, das Bulatovič als Allegorie auf den Menschenhandel (nämlich den brutalen Schlepperhandel mit illegalen Einwanderern aus Jugoslavien nach Deutschland) hernimmt, das alles ist von Bulatovič. Ich habe das bloß mit dem Terrorismus kombiniert, einer anderen Form von extremer Gewalttätigkeit, vor allem aber mit einem Motiv, das schon sowohl den Prolog als auch die Erste Abteilung durchzieht, wo immer wieder aus Stokers Dracula zitiert wird, der seinerseits Bürgers Lenore zitiert („Wir und die Toten reiten schnell”), die ja der Grundstrang der Fahrt-Erzählung ist. Sozusagen habe ich, indem ich den Vampirmythos mit Bulatovič las, die viktorianische Romantik davon weggezogen und die Erlösung durchgestrichen, um dann – auf dem Weg des varianten Erzählens der gleichen Szene mit verschiedenen Abläufen – einen Weg zu suchen, der Befreiung eben d o c h möglich macht. Das war meine Idee, mein Versuch einer Utopie. Und in der Tat, letztlich geht es hier um Gott – in dieser Letztlichkeit, die Kant, der ja ebenfalls immer wieder Gegenstand des Romanes ist, dazu brachte, ihn proklamieren zu müssen, wenn es denn eine allgemein gültige Moral geben sollte. Auch das eine der Fragen, die mich bis heute umtreiben. Da sind wir dann auch wieder bei Dostojewski, sowohl des Raskolnikows wie der Dämonen. Und >>>> Aléa Torik gab es damals für mich noch nicht. Jedenfalls ist Ihre Kafka-Idee hier falsch. Näher schon Uwe Johnson, den ich las und bewunderte, der aber nicht solche Spuren in mir hinterlassen konnte, wie es Jugenderfahrungen tun. Die meisten Motive meiner Arbeit stammen sowieso aus direkter Erfahrung und weniger aus Leküren, die ich allerdings gerne hernehme, um zu bebildern und/oder um Zusammenhänge zu bauen, die auch jenseits meiner Erfahrung, gleichsam historisch, verankert sind.

      Ein letztes Wort noch, zu Leo Brosamer diesmal. Das ist einfach ein Spiel. Brosamer ist ein wichtige Figur in Martin R. Deans Roman „Die verborgenen Gärten”; Dean und ich waren beide 1983 in Klagenfurt und freundeten uns an, was viele Jahre hielt. Ich las begeistert sein Buch und habe ihm mit Brosamers Monolog, der Brosamer eine Vorgeschichte gibt (die in dem Roman gar nicht erzählt ist), eine hommage schreiben wollen. Und das getan. Für den Wolpertinger spielt das keine Rolle; imgrunde ist die Passage das einzig „wirkliche” Blumenstück. Aber ich bin ein bißchen stolz drauf.

    28. Paris A. Wolpertinger @ “auf der Durchfahrt nach Paris – wie seltsam! die Zeiten!”

      “Die Uhren tief in uns”. Zwar Köln und nicht Paris, aber so ist das wohlmöglich nämlich tatsächlich. Und Alea Torik hat recht: Bleiben Sie von der Seine weg, den PC hat’s da auch erwischt!

      Beste Grüße und viel Spaß noch!

      NO

    29. Literaturbetrieb/Wolpertinger Lieber Alban Nikolai Herbst!

      Ihre Ausführungen zum Literaturbetrieb (6. 8. 19, 18:11) interessieren mich sehr. Allerdings ist dies hier wohl nicht der richtige Ort, sondern: „DieKorrumpel“? Ich bin auch kein Profi, weder in der Literatur, noch in dessen Betrieb, und beobachte daher alles nur als Laie aus der Ferne. Außerdem ist das Thema sehr komplex, und ich habe mir auch noch keine fundierte Meinung gebildet. Einstweilen nur so viel dazu:

      An MRR (zu Walter Jens kann ich wenig sagen) liegt es m.E. nicht. Dass er etwas oder jemanden vergessen gemacht hat, kann ich wahrlich nicht beurteilen. Aber er hat meines Wissens auch das Gegenteil getan bzw. versucht (Wolfgang Koeppen, Rainer Kunze). Und Fehleinschätzungen durchaus zurückgenommen. „Aus der Fülle erzählen“, wie Sie das nennen, – das hatte Johnson in den „Jahrestagen“ sicher auch gemacht. Und das Buch wurde deswegen von MRR als „ledern, nein kunstledern“ abgetan – ebenso wie die Blechtrommel. Aber beide Fehler hat er später korrigiert.

      Warum verteidige ich ihn eigentlich? Ohne „Der Dichtung eine Gasse“ in der FAZ hätte ich vielleicht nie Poesie gelesen (ausgenommen „Göthe“ – wie Brinkmann so schön despektierlich formuliert hat), ohne das Literarische Quartett vielleicht nie den „Roman eines Schicksalslosen“ gelesen; und kennte nicht Javier Marias (öde) und Alexander Tisma (sehr düster, sehr gut). Schließlich: MRRs Lebenserinnerungen sind großartig (und unterfüttern noch heute – zusammen mit Szczypiorski, Penderecki und Lutoslawski – meine Zeit in Warschau). Ich „verdanke“ MRR also viel (als Leser).

      Bernd F. Lunkewitz hatte mir einmal erzählt, trotz bester Kontakte zu MRR konnte er ihn nicht (ausreichend oft) davon überzeugen, Bücher von Aufbau (gerne auch kritisch, Hauptsache überhaupt) zu besprechen. Ist das aber bereits das Spielen „dunkelster Rollen“? Natürlich wurden von MRR kritisierte Bücher populär und die von ihm nicht besprochenen nicht (so schnell). Aber gilt nicht dasselbe, wenn Bücher nicht in die Spiegel-Bestsellerliste kommen, nicht von Elke Heidenreich besprochen wurden, oder heute nicht in Iris Radischs „Literaturclub“ behandelt werden? Ich meine ja, und also muss es also (auch) um etwas anderes gehen.

      Bei den Beiträgen im „Korrumpel“, die ich kurz gescannt habe, geht es oft genug (nur) um Geld. Aber wenn sie die Preise nicht bekommen und die Fördergelder nicht, sind Autoren beleidigt, genauso, wenn sie schlecht oder nicht kritisiert werden. Das war schon immer so und käme mir als Begründung etwas zu kurz vor.

      Dass die Verlage (heutzutage) wichtige Literatur wegdrücken, ist m.E. bestenfalls ein Reflex. Die Unternehmen müssen und wollen verkaufen. Verkaufte sich ein „Herbst“ wie doof, würden die Verlage sich um Sie reißen, wollten die Leute 1000-Seiten-Romane lesen, würden die Verlage drucken lassen. Es verkauft sich wohl aber eben nur, was Hype ist (und der wird in der Regel nicht von Kritikern gemacht). Es ist der Umsatz, der fehlt, also die Kunden, die Käufer, die Leser. Das ist mangelndes Bildungsniveau.

      Ja, ich verstehe Sie menschlich sehr gut: Dass Herr Krekeler undifferenziert nur „Turm“, „2666“ und „Undendlicher Spaß“ als nicht-kleinmütige Literatur nannte, ist angesichts ihrer beider Ko-Autorenschaft im US-Blog schon mindestens unhöflich gewesen. Und angesichts der bisher mir sichtbar gewordenen Klasse Ihres „Wolpertinger“ m.E. in der Sache auch ungerecht. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das das Problem ist. Herr Krekeler kannte Ihren „Wolpertinger“ vermutlich gar nicht. Und selbst wenn er ihn geschätzt hätte, waren ja seit dem 16 Jahre vergangen, so dass jdf. bezogen auf die Zeit nach 2000 sein Statement trotzdem hätte richtig sein können. Vor allem aber hat er ja mehr von den Lesern gesprochen, von der Überraschung, dass das Publikum in Deutschland Weltenentwürfe über 1000 Seiten zumindest (wieder) kauft (ob liest, ist ja eine ganz andere Frage).

      Also, ob der Literaturbetrieb wirklich systematisch manipuliert? Wirklich Autoren totschweigt, weil die dumm und frech geworden waren? Oder politisch unbequem (wie ich mir das bei Ihnen vorstellen könnte). Ich bin mir nicht sicher, ob wirklich System dahinter steckt.

      Es gibt ja auch andere. Immerhin hat der Kiwi-Verlag ja den Blog für US ermöglicht (wenn auch, glaube ich zu erinnern, Frank Schirrmacher so eine Idee zuerst gehabt hatte mit „Die Wohlgesinnten“ in der FAZ); und das Buch hätte es ja vermutlich ähnlich schwer gehabt wie der „Wolpertinger“. Und immerhin hat Guido Graf Sie als Kommentator eingeladen und Ihnen damit ein Forum gegeben, auf welchem auch Ihre älteren (vergessenen) Bücher dem Publikum wieder ins Auge hatten gerufen werden können. Guido Graf hat also gewissermaßen den Hype um DFW genutzt, um auch wichtige ältere Werke wieder bekannt zu machen. Das war gut!

      Aber da liegt m.E. der Hase im Pfeffer. Es gibt sowieso schon wenig Leser genug. Die kaufen mangels Kenntnis den Kanon (Gruppe 47 etc.) oder den Hype (Bolano, Müller). In der von Ihnen im US-Blog angestoßenen Diskussion hatte Thomas von Steinaecker m.E. völlig zu Recht gesagt: „Es braucht eben Hypes. Tellkamp ist Hype…Wallace ist Hype…Gaddis ist
      k e i n Hype. Gass ist k e i n Hype. Das macht sie jedoch nicht weniger lesenswert.“ Und darum geht es, finde ich, dass der Literaturbetrieb außerhalb des Tagesgeschäfts der Neuerscheinungen nicht ausreichend genug kenntlich macht, was eigentlich sonst noch wirklich lesenswert ist und vor allem: w a r! – und solche Bücher wiedererweckt und damit zwar keinen Hype, aber Interesse der Interessierten generiert.

      Und da versagt der Literaturbetrieb. Da bin ich bei Ihnen! Unbedingt! Sehr!

      Aber versagt nicht nur und nicht gezielt bei Ihnen.

      Gleichwohl bin ich sehr unsicher, was ich Ihnen schreiben soll. Und die Marktmacht des Buchhandels (sowie zuweilen die kartellrechtswidrige Praxis bei einigen) wäre auch nich zu beleuchten.

      Herzliche Grüße aus der Ferne des Laien

      Ihr NO

    30. @Mr. No. …anh vertritt wahrscheinlich einen hübschen manierismus, der sich überholt hat, nicht kleinmütig war in dem blog zu US in richtung einer vibration gemeint, die in texten bezüglich von welt und gegenwart anklingt, was sie vom wolpertinger erzählen, klingt eher nach introvertiertheiten oder autismus.

    31. @La Lune. Ganz sicher bin ich vieles, autistisch aber nicht. Mich zumal introvertiert zu nennen, grenzt ans Bizarre. Man merkt da, wie wenig Sie eigentlich verstehen. Ich kann auch nicht meinen, einmal umgekehrt betrachtet, daß Introvertiertheit zu Welt & Gegenwart ein notwendiger Gegensatz sei; auch sie, auch Introvertiertheit, gibt es nach wie vor. Selbst wenn das US-Militär das nicht will (denn mit Introvertiertheit läßt sich’s schlecht morden, was aber doch die Aufgabe ist von Soldaten, jedenfalls im Krieg); und ebenso schlecht läßt Introvertiertheit sich für den galoppierenden Konsumismus bewegen. Sie leben h i n t e r sich, liebe La Mondin, wenn Sie den Widerschein der Sonne für Ihr eigenes Licht halten.

      Was den Unendlichen Spaß anbelangt, den ich unterdessen eine Unendliche Ödnis zu nennen geneigt bin, so halte ich Foster Wallaces Buch für ein ziemlich schlechtes – wohlgemerkt: als Roman. Es gibt großartige Stellen darin, es gibt wunderbare Formulierungen, es gibt auch erschreckende – aber als Konstruktion ist das Buch ziemlich beliebig, unstrukturiert und verlabert. Das eben unterscheidet es von wirklich jedem Buch Pynchons und jedem Gaddis’, von jedem deLillos und von den meinen sowieso. David Foster Wallace war kein Romancier, das ist das ganze Geheimnis. Man m u ß das auch nicht sein. Es genügt vollkommen, mit Recht als ein großer Lyriker in die Geschichte einzugehen.

      Aber Sie haben, Frau Mondin, hinter sich selbst vielleicht alleine den Hype, was Sie als Vibration noch empfinden können. Poetisch gesehen wäre das Ihre kosmische Reststrahlung. Über weitres maße ich mir, zu Ihnen, ein Urteil nicht an. Und Sie sind ja nicht allein, Sie sind vielmehr die Mehrheit. Das sollte Sie beruhigen. Immer haben ja Mehrheiten recht, denen wir die großen Leistungen der Menschheit ganz alleine verdanken. Bitter find ich es allerdings, wenn ein Selbstmord das Schmiermittel ist. Überhaupt lese ich lieber Bücher von Menschen, die am Leben bleiben wollen – oder aus Zeiten, a l s sie es noch wollten. Auch Foster Wallace wollte das mal.

    32. so eine lange antwort anh.. seien sie doch etwas selbstbewusster und fühlen sich nicht so schuldig an der misere, die deutsche literatur kann im moment und konnte in den letzten 60 jahren nur kleinmütiges hervorbringen, das ist ein preis der geschichte, sie glauben offenbar, dass diese beiden kriege nur körper und häuser und namenlose seelen zerstört hat, nein, er hat auch die sprachen, die wahrnehmungs- deutungs-und ausdruckspotenzen deformiert, über generationen, die deutschsprachige literatur konnte in den letzten sechzig bis siebzig jahren nur noch manierismus, moralismus, innerlichkeit, sentimentalität oder skurillität erzeugen. dass sie aus zweiter hand lebt, leben muss, ist nicht verwunderlich, einfach weil im deutschen sprachraum keine welt mehr stattfand, stattfinden durfte, konnte sie keine weltliteratur mehr hervorbringen, eben nur so hintermbusche-spinner wie arno schmidt oder thelen etc… oder die deutsche literatur hat an die stelle der literatur den literaturbetrieb gesetzt, zu dem auch diejenigen gehören, die von ihm ausgegrenzt werden, denn deutsche autoren beschäftigen sich hauptsächlich mit ihrer autorenexistenz und mit sonst nichts. deshalb ist alle deutsche literatur immer introvertiert, und deshalb ist klar, das aufregendes nur noch aus anderen erdteilen kommen kann, da haben krekeler und co einen richtigen instinkt. literatur kann nur in regionen geschrieben werden, wo leute bewaffnet sind, und in extensive reationsräume gezwungen werden, deshalb ist und bleibt amerika der meltingpot, aus deutschland kann nur sentimentales, maniriertes, oder nachgeahmtes kommen. einen deutschen pynchon, einen deutschen foster wallace oder einen deutschen Marques wird es in naher zukunft wohl nicht geben.

    33. Weltliteratur Liebe Frau Lune, da tun Sie aber dem Herrn Herbst sehr, sehr, sehr unrecht. Geben Sie doch zu, daß Sie den Wolpertinger noch gar nicht gelesen haben. Spüren Sie doch wenigstens dem Dialog zwischen Herrn Herbst und Herrn NO nach. Da wird nicht nur zwischen den Zeilen deutlich, daß der Wolpertinger Weltliteratur (wenn auch verkannte) ist. Sagen Ihnen die Hinweise von Frau Melusine so gar nichts. Dieses Dreiergespräch, dem ich ausgesprochen gern folge, schraubt sich in Höhen, in denen Ihnen schlicht und einfach die Luft wegbleibt. Mir scheint, Sie schreiben nicht nur klein, Sie denken auch so. Ich finde, gerade Sie als Frau sollten Konstruktives formulieren, wünscht sich Ihre Edith

    34. Weltliteratur Liebe Frau Lune, da tun Sie aber dem Herrn Herbst sehr, sehr, sehr unrecht. Geben Sie doch zu, daß Sie den Wolpertinger noch gar nicht gelesen haben. Spüren Sie doch wenigstens dem Dialog zwischen Herrn Herbst und Herrn NO nach. Da wird nicht nur zwischen den Zeilen deutlich, daß der Wolpertinger Weltliteratur (wenn auch verkannte) ist. Sagen Ihnen die Hinweise von Frau Melusine so gar nichts. Dieses Dreiergespräch, dem ich ausgesprochen gern folge, schraubt sich in Höhen, in denen Ihnen schlicht und einfach die Luft wegbleibt. Mir scheint, Sie schreiben nicht nur klein, Sie denken auch so. Ich finde, gerade Sie als Frau sollten Konstruktives formulieren, wünscht sich Ihre Edith

    35. difference Was uns doch verbindet, liebe Frau Lune, ist die Leidenschaft für wahre Literatur. Und mit dem Wolpertinger könnten unsere Seelen doch an das streifen, was Redlichkeit ist. Nichts für ungut, Ihre Edith

    36. Weltliteratur/Wolpertinger/Betrieb Liebe La Lune,

      in aller Eile nur kurz dies:

      Diese Diskussion könnte wichtig sein. Nicht für mich. Ich lese als Privatmann zur Unterhaltung – oder etwa anspruchsvoller formuliert (ist aber nicht von mir, sondern von Thorsten Krämer): Ich erwarte von einem Buch, dass es mich aufregt, mich verunsichert, mich in andere gefährliche Zusammenhänge schleudert. Das ist sicher abhängig vom (individuellen) „Verwöhungsgrad“, geht aber auch bei manieristischem Zeugs, oder ich lese die Ausländer meinetwegen. Aber für die Schriftsteller ist die Diskussion vielleicht wichtig, für den „Betrieb“, für die Literatur? Insofern ist es schade, dass Sie anscheinend bei US nicht in die Diskussion eingegriffen haben (und Herr Krekeler sich nicht geäußert hatte). Und insofern wäre es schön, wenn hier jetzt ganz andere sprechen würden. Ich bin mangels Kompetenz ganz gewiss der Falsche.

      Ich habe aber den Eindruck, dass hier nicht alle über dasselbe reden. Wie immer, so auch hier, würde es sich aber m.E. lohnen, die Schlachtfelder auseinanderzuhalten.

      I C H habe „nicht-kleinmütige“ Literatur als MUTIGE verstanden. Für mich bedeutet mutig das Entwerfen einer Welt, die ich so nicht kannte, weil ich es so noch nicht gelesen habe (oder wohlmöglich sogar, weil es neu ist, was ich aber, wie gesagt, kaum ernsthaft beurteilen kann). Das ist für mich mit dem „Wolpertinger“ der Fall. Manierismus hin oder her, darüber könnte man ja durchaus streiten. In dieser Hinsicht hatte und habe ich mich in der Nähe von Guido Graf gewähnt, der nach meinem Verständnis solche Bücher (auch den Wolpertinger) für
      l e s e n s w e r t gehalten hatte. Es ging darum, was der Roman kann. Was ein Buch imstande sein kann zu leisten, zu bewegen, zu schaffen, zu entwerfen.

      In diesem Sinne lese ich den Wolpertinger und bin von den ersten 500 Seiten begeistert (auch wenn Sie das als wenig „verwöhnt“ bei Edith88 abgetan haben). In diesem Sinne war nach meinem Verständnis Alban Nikolai Herbst so freundlich, in seinem Blog hierauf einzugehen. Und das würde ich auch fortführen wollen, denn mir macht das Spaß. Diese Diskussion ist aber vielleicht nicht ganz so wichtig.

      S I E haben ein ganz anderes Schlachtfeld aufgemacht, meine ich. Sie sagen, die deutsche Literatur ist keine Weltliteratur (mehr), weil wir der Welt nichts (mehr) zu sagen haben. Denn nachkriegsbedingt beschäftigt sich die deutsche Literatur (also auch Herbst, lesenswert oder nicht) notwendigerweise mit sich selber, ist introvertiert und also verhaftet in Manierismus (Herbst) und Moralismus (Gruppe 47: Böll! Wohl auch Grass, nehme ich an!?). Das lässt sich ja hören. Ob es stimmt, kann ich nicht beurteilen. Mir ist nur Folgendes aufgefallen:

      Herr Krekeler hat sich ja bei seinem Statement ausdrücklich auch auf Tellkamps „Turm“ bezogen. Der aber ist ja nicht nur deutsch, sondern mit der DDR und der Wende als Thema rückwärtsgewandt, also gerade nicht, wie Sie schreiben, „bezüglich Gegenwart und [heutige] Welt“. Wie passt das denn mit Ihnen zusammen? Der „Turm“ vibriert also auch nicht? Oder Herr Krekeler hat sich (hier einmal) geirrt? Was ist mit Bongartz „Örtlichen Leidenschaften“ (aus den 90ern, wie „Unendlicher Spaß“, wie Herbsts „Wolpertinger“)?

      Und: SIE erwarten Vibration nur aus „anderen Erdteilen“. Schließt das Europa also aus? Ist auch Saramagos „Die Stadt der Blinden“ keine Weltliteratur (auch aus den 90ern)? Schließt das Europa also aus, weil auch dort keine Kriege mehr stattfinden? Wäre dann aber nicht Aleksandar Tismas „Schule der Gottlosigkeit“ – es geht dort um die Jugoslawienkriege – Weltliteratur? Oder ist der einfach nur qualitativ zu schlecht, Ihrer Meinung nach? In William Gass „The Tunnel“ beschreibt ein Schriftsteller – er sitzt den ganzen Roman über nur im Keller – u.a. seine Vergangenheit in Nazideutschland und wie das so ist mit dem Schreiben und seinem Leben. Ist denn das nicht in Ihrem Sinne auch introvertiert, obwohl aus dem Melting Pot? Wie passt das alles zusammen?

      Und dann weise ich noch auf ein drittes Schlachtfeld hin, dass nämlich Guido Graf das Krekeler-Statement als auf den Literaturbetrieb bezogen ausgelegt hatte. Und gefragt hatte, ob „kleinmütig“ denn überhaupt eine vernünftige Kategorie ist. Die Frage ginge dann aber auch an Sie, liebe La Lune.

      Beste Grüße

      NO

    37. @ La Lune muss es auch nicht geben, einen deutschen pynchon oder gaddis. aber es gibt gleichwertiges. krekeler hat da einfach quatsch geschrieben und Sie quasseln diesen quatsch nach, weil es bequem und politisch irgendwie schick ist und damit Sie nichts lesen müssen, was Ihnen nicht passt. vor allem finde ich es dumm, immer wieder nachzquasseln, dass es in europa keine welt gegeben hat. was verstehen Sie unter welt? dass man krieg führt und menschen foltert? da passiert dann was, das literatr werden kann? oder was meinen Sie sonst. Das ist ein so ein bornierter unsinn. nicht auf ein einziges argument gehen Sie ein, nicht von herbst, nicht von no oder von den anderen. Ich habe wolpertinger auch nicht gelesen, aber werde das ganz schnell nachholen. Es ist doch komplett verrückt, wenn man statt dessen giftet: das ist nichts und in deutschland gibt es keine grosse literatur. Oder wollen Sie sagen: gut, dass es hitler gab, nun müssen wir uns damit nicht mehr befassen? ich finde Ihre kommentare peinlich. eigentlich überführen sie sich selbst.

    38. @No sie sprechen ja gleich von Europa, ich sprach von deutschland, nein, europa hat großes in den letzten jahrzehnten hervorgebracht, aber nicht als “europäische” literatur – an diese kategorie glaube ich nicht. selbstverständlich sind ingmar bergmanns filme auch große literatur und selbstverständlich haben italo svevo oder auch sandor marai großartige bücher, vibrierende Bücher fabriziert…oder moravia, ich sprach ja konkret von der deutschsprachigen schriftraum und seiner mentalen deformierung und damit einhergehenden strategien des herumdrucksens und seiner fluchten ins manirierte oder moralische oder fantastische. literatur ereknnt man daran, dass sie “echt” ist. egal ob realismus, phantastik, oder was auch immer..deutsche autoren beschäftigen sich mit sich selbst, und das ist eben leider einer deformierung durch die beiden kriege geschuldet, sie trauen sich nichts mehr, sie zitieren nur noch.

    39. @ La Lune, No “sie trauen sich nichts mehr” Genau dafür ist Herbst das Gegenbeispiel. So habe ich NO verstanden. Er hat das so auch belegt, und so habe ich selber “Wolpertinger oder Das Blau” gelesen, aber vor allem auch “Thetis”, das hier noch gar nicht als wirklich meisterhaftes Gegenbeispiel für La Lunes Meinung genannt worden ist. Sie versprechen sich auch selbst, wenn Sie von einer Flucht ins Fantastische sprechen und dann aber plötzlich Phantastik anerkennen. Ihr Ausschlußkriterium für gute Literatur ist, daß sie deutschsprachig ist, und ihre grundsätzliche Kategorie für gute Literatur heißt “echt”. Aber was ist das, “echte Literatur”, für mich klingt da “ein echter deutscher Mann” an. Das ist vollkommen gefühlig und mindestens so subjektiv und herumgedruckst wie das, was Sie den deutschen Nachkriegsautoren vorwerfen – gleich allen auch noch gemeinsam, alle Generationen in einem Abwasch, als habe es da nicht riesige Unterschiede, alleine zwischen den deutschsprachigen Nationen gegeben. Gilt Ihre Deformation auch für die deutschsprachige Schweiz, zum Beispiel? Und was ist mit H.C. Artmann zum Beispiel?
      Für mich sind jedenfalls Alban Nikolai Herbsts Wolpertinger und Thetis gerade Beispiele dafür, daß sich Autoren aus dem erhoben haben, was Sie für so vieles zu recht als herumgedruckst bezeichnen. Lesen Sie diese Bücher, lesen Sie auch die Sizilische Reise! Da ist von deformiertem deutschen Herumdrucksen nicht die geringste Spur. Herbst ist sogar deswegen so interessant, weil er meiner Meinung nach der einzige aus seiner Generation ist, der in seinen Romanen beschreibt, wie sich ein Deutscher aus dieser Deformation hinausarbeitet. Was Sie schreiben, hat nämlich in der Verwirrung des Gemüts noch gegolten. Aber da steht auch schon, wo Herbst den Ausweg findet. Das ist da schon formuliert. Interessant finde ich aber, dass er genau damit an den Rand gedrückt worden ist, dass er diesen Weg dann gegangen ist. Was Sie über deutsche Literatur klagen, hat Herbst viel früher geschrieben und daraus Konsequenzen gezogen. Er hat sich für die deutsche Literatur deshalb zu viel, nicht zu wenig getraut. Man muss das nur lesen. Es hat doch keinen Wert, liebe La Lune, sich eine liebgewordene Meinung dadurch zu bewahren, dass man nicht wahrnehmen will.

    40. @ m. kerber, lune, no und was ist mit christian krachts letztem alternativsweltroman? was ist mit helmut krausser und rainald goetz. da stimmt doch nichts an lune’s aussagen. ich finde das mit dem “echt” sogar gefährlich. und von neuer literatur scheint lune sowieso nichts zu verstehen, wenn sie das zitieren einem ankreidet. sie hat gar nicht begriffen was postmoderne ist oder sein soll, auch bei den amerikanern wird dauernd zitiert, die südamerikaner zitieren dauernd, das gehört überhaupt zu gegenwartsliteratur. wieso macht das anh schlechter als andere? ich kenne wahrscheinlich nicht so viel wie m. kerber von herbst, aber thetis und das sizilienbuch und die niedertracht der musik. ich würde gerne lune nur mal seine verganageschichte und alma pichiola zu lesen geben.
      den wolpertinger habe ich mir jetzt auch vorgenommen zu lesen.

    41. ach wissen sie, mit “echt” meinte ich, sie muss dringend sein, und neu und gegenwärtig vibrierend, so wie bolano oder wallace – kracht, goetz, und wie sie alle heißen, die genannten verteidigen doch nur noch ihre existenz, aber sie sind keine literaten mehr, also sie schreiben nur noch, aber sagen nichts mehr, ach herr piet…wenn ich von verwöhnung sprach, verstehen sie bitte, dass literatur auch etwas neues zu sagen hat, wenn sie literatur sein will, muss sie etwas neues bringen, neue erfahrungen anregen, erzählen oder transportieren, ich bitte sie doch einmal das gewicht von vorgängerdichtungen dagegenzuhalten…..

    42. ach weisst du, lune unsere meinungen sind ja gar nicht weit auseinander. ich finde, mit bolano hast du recht, mit wallace aber nicht, den find ich genauso überschätzt wie herbst das sagt. Ich finde auch, dass du kracht falsch einschätzt, ich glaube, du liest die meisten sachen erst gar nicht. Das ist das Problem. Wir sagen, lies herbst, lune, und du sagst: nein, denn es kann in deutschland keine gute literatur geben und schon gar keinen guten herbst. dabei sagt herbst irre viel in seinen büchern, der ist viel weiter als wallace, gar kein vergleich! Aber wenn du sagst: dringend, dann ist das eben bei ihm mehr so als bei irgend einem anderen schriftsteller der gegenwart. Ja, das ist schön gesagt mit den Vorgängerdichtungen. Da kackt das meiste wirklich ab, auch, wie gesagt, Wallace. Aber nicht Herbst. Versuch das mal auf die reihe zu kriegen, lune, auch wenn das natürlich schwer ist, mit so einem vorurteil dann überhaupt zu lesen anzufangen.

    43. Typisch Männer! Während Herbst irgendwo dahintreibt, keine Spur, kein Lebenszeichen von ihm, streiten die Herren munter vor sich hin und arbeiten sich an Frau Lune ab. So sind Sie: loben den Dichter und lassen ihn einfach absaufen. Und heute abend weinen sie in ihre Kissen und über der Seine steigen Tauben auf. Muß das wirklich sein, fragt Edith.

    44. Liebe edith das ist trotzdem was neues. Seit no seine kommentare zum wolpertinger postet, in denen er herbst an die seite von wallace stellt und nicht, piet, über wallace, habe ich den eindruck, dass sich jetzt mal einige trauen, auch was zu sagen die sonst immer schweigen. Lauter neue namen und so eine pro herbst-flut habe ich bisher in den dschungeln noch nicht gelesen. da kommt was ins rollen, habe ich den eindruck. Männer hin, frau her, das ist einfach mal ein neuer ton. Ich mag den deshalb, weil das ganze gehässige trollzeug in den hintergrund tritt und wirklich diskutiert und auch belegt wird, was die leute meinen. Ich bin mir aber komischerweise nicht sicher, ob herbst das überhaupt gefällt, wenn sich seine site zu einer fansize entwickelt. Er schreibt ja immer, dass er keine groupies mag und schon gar nicht männliche, wie ich ihn einschätze. Sondern er will ja immer aus sowas wie einer kraft der gegnerschaft schreiben. Abgesehen davon kommt es aber nicht drauf an, ob das jetzt lauter männer gegen eine frau sind. Ich bin mir nicht mal sicher, dass la lune eine frau ist, sondern ihre schreibe erinnert mich irgendwie an ifone. das war ein mann. Misslich aber, wo du recht hast… dass wir von dem dichter selbst heute gar nichts mehr zu hören kriegen. Auch mich macht das unruhig. Der arme herbst und der fluss. Wie kommst du aber auf ein floss, edith? Er hat von einem boot geschrieben oder?

    45. ach, herr m. kerber ich sprach von neuigkeiten und “traute” aber sie führen simulationen und wiederholungen an. deutschsprachige schreiber schreiben seit siebzig jahren schielend, sie schielen auf einen common rail, der nicht von ihnen kommt, den sie nicht ins gleis gesetzt haben, neunzig prozent der deutschsprachigen schreibarbeit beschäftigt sich mit der frage, wie kann ich und auf welchen rail aufspringen und dort wenigsten in der zweiten klasse platz nehmen, literatur aber beginnt da, wo ein neuer zug und neue gleise gebaut werden, das kann ich aus den wolpertingern und anderswelten dieser welt nicht raushören, weil das alles rails sind, die von großen viel früher ins gleis gesetzt und ausgestattet wurden – in diesen rails zu schreiben, ist malen nach zahlen aber keine literatur, dagegen: wenn ich albert camus lese zum beispiel, dann spüre ich sofort, hier hat jemand das zwanzigste jahrhundert am wickel…als echter neuer gleisbauer, warum, weil soetwas nur aus grenzberührungen kommt, hier im falle aus der mischung algerien frankreich, die eine mischung aus archaik und europa ist, und das vibriert, da ereignet sich etwas, weil der Fremde in der Fremde aus der Fremde erzählt und somit ein Glücksfall von Wahrnehmung sich ereignet, die mit gegenwart verbunden ist, bei anh dagegen wird algerien zum deutschen kitschtraum in form einer algerierin mit ihren füssen vor der tür in paris, für diese unfreiwillige verkitschung können deutsche autoren, die nach 1930 geboren sind, nichts, sie ist sogar auf ihre weise auch rührend, weil sie etwas karl-may-haftes haben, ein mentales Radebeul einer ereignislosen bundesrepublik träumt sich in Ereignisräume, das ist alles mögliche, es kann fantastisch sein, ja es kann sogar gut geschrieben sein, oder irgendwie komplex verwoben, aber literatur ist es eben nicht.

    46. @La Lune zu Herrn Kerber. Sie werfen schon wieder zusammen, was nicht zusammen gehört: Bei mir kommt Algerien gar nicht vor, sondern eine Algerierin, die sehr wahrscheinlich bereits in Paris geboren wurde und von “Algerien selbst”, was immer das sei, genauso wenig weiß wie Sie wissen und ich weiß. Wenn ich heute Albert Camus lese, dann weiß ich: das ist alles alles vergangen, das ist alles eine Vorstellung von Realität, die gar keine mehr ist. W a s Realität ist, für uns, in unserer Welt (es gibt Hunderte von Realitäten, die durch die Globalisierung aufs engste verzahnt werden, wogegen sich etwa der fundamentale Islamismus wehrt – vergeblich wehrt, denke ich), davon weiß kein Camus mehr etwas. Und in der Tat, die meisten Autoren, nicht nur Deutschlands, beileibe nicht, sondern auch der USA, Frankreichs, in jedem Fall: des Westens haben nicht die geringste Ahnung von der Realität… oder doch, Ahnung schon, aber sie wehren sie ab, rufen permanent ihr Apage! – während ich sehr früh damit angefangen habe, diese neue Realität poetisch zu formen, ins Poetische zu formen. Darüber gibt es Aufsätze, das können Sie alles nachlesen. Daß ich nicht der einzige bin, liegt auf der Hand, daß es für meine Romane aber eben k e i n e n Vergleich gibt, genauso. Das Problem ist wirklich, daß Sie nicht mitsprechen können, weil Sie diese Bücher nicht kennen. Ich muß mich wiederholen, weil wir sonst nicht weiterkommen: Sie w o l l e n sie nicht zur Kenntnis nehmen, das ist ja nicht nur m e i n Eindruck, sondern einige Kommentatoren haben einen ganz ähnlichen zum Ausdruck gebracht.
      Es kommt etwas hinzu, das es sonst, schon gar nicht s o, nirgendwo gibt als in Der Dschungel: Sie haben es bei mir mit einem Dichter zu tun, der öffentlich Auskunft gibt, und zwar direkt aus seiner Arbeit heraus. Es ist dies ein Geschenk, das ich meinen Lesern mache, ein riskantes Geschenk; darauf hat >>>> gestern Frau Kiehl hingewiesen, als sie von der abgedeckten Leinwand schrieb. Ich entblößte mich hier ja auch, und >>>> sehr früh habe ich erklärt, weshalb.

      In einem gehen wir völlig einig, wenn ich Sie richtig verstehe: Literatur – Dichtung – muß aus der Leidenschaft kommen, aus dem Leben kommen, gelebtem Leben; andere Literatur spielt immer eine Rolle, selbstverständlich, weil Bücher auch Gespräche sind, die sie miteinander führen; aber am Grund der Dichtung ist immer E r d e. Es geht um Existenz. Alles andere interessiert auch mich nicht. Sie aber tun so, als hätte mich die Existenz gar nie berührt, genau da liegt der Fehler Ihres Vorurteils. Ich habe nie aus der Sicherheit herausgeschrieben, ich bin bis heute existentiell in ständiger Gefährdung, und wer meine Reisebücher kennt, weiß das auch und erlebt das auch. Dennoch breche ich sie, als Mensch des spätern 20. und frühen 21. Jahrhunderts n i c h t auf einen Realismus herunter, den ich für völlig überkommen halte. Wenn Sie davon sprechen, bei mir würde “Algerien zum deutschen Kitschtraum” und dann noch “in Form einer Algerierin“, dann haben Sie überhaupt nicht kapiert, wovon ich erzähle. Was Radebeul anbelangt, haben Sie wiederum recht, aber auch nur g e g e n den Strich Ihres Ressentiments; selbstverständlich spiele ich mit Karl May, und ich tue das nicht anders – um Ihnen mal Bezüge, die Sie aber leugnen werden, klarzumachen -, als Pynchon das mit Jules Verne tut. Ich schreibe dieses auch nicht eigentlich Ihnen, da ist, fürchte ich, kein Brett vor der Stirn mehr zu lösen, nicht mal zu lockern – sondern ich schreibe das für alle anderen, auch für die Hunderte schweigenden Leser, die Die Dschungel hat, um ihnen vielleicht den einen und/oder anderen Zugang zu öffnen. Wobei nach vor zweierlei verwundert: 1) Weshalb wenden Sie gegen meine Arbeit so viel Zeit auf, wenn sie doch nichts wert ist? 2) Weshalb, wie so viele Gegner, verschanzen Sie sich in der Anonymität, anstelle eine solche Auseinandersetzung mit Ihrem tatsächlichen Namen und Ihrer öffentlichen Funktion, wenn Sie denn eine haben, zu führen? Ich – anders als Sie und viele Ihresgleichen – habe so etwas nie getan, habe mich niemals verborgen, sondern, wenn ich denn angriff, ebenfalls angreifbar gemacht. Und so werde ich es weiterhalten: mutig sein, auch wenn mich das immer wieder, und wirklich tief, verwundet.
      Meine Ahnung aber, in der Sache selbst, ist, daß sie eine Vorstellung von Literatur haben, die aus dem 19. Jahrhundert stammt und für Deutschland von dem geprägt ist, was Wolfgang Weyrauch falsch den “Kahlschlag” nannte, was dann zur Gruppe 47 und anderen Unsäglichkeiten führte. Ich glaube, La Lune, Sie haben gar nicht begriffen, was Postmoderne ist, und deshalb verstehen Sie auch nicht, was nach ihr kommen könnte. Ich gehöre zu denen, die genau das formen. Sie aber, La Lune, glaube ich, gehören zu jenen, die eine Vorstellung von Realismus haben, der einem Exotischen gleichkommt, von dem Sie ausgeschlossen sind. Er gibt Ihnen aber das G e f ü h l eines “Echten”. Wo Ihnen dieses allerdings von ausgerechnet Foster Wallace in seinem verunglückten Roman gegeben worden ist, bleibt mir schleierhaft. Da ging so viel Papier verloren… rein ans Papier!

      Entschuldigen Sie bitte, Herr Kerber, wenn ich Ihnen jetzt ins Wort gefallen sein sollte, bevor Sie selbst entgegnen konnten. Aber das ist Die Dschungel ja a u c h, und besonders: Der Dichter antwortet selbst.

    47. anh… zunächstmal: es gibt nichts langweiligeres für die literatur als einen “gelungenen Roman”, nichts ist spießiger und antiliterarischer als von einem “gelungenem Werk” einer “kompositorisch runden Dichtung” zu sprechen, das ist ungefähr so antidynamisch wie das Wort vom “regelmäßigen Geschlechtsverkehr” oder das Wort von einem “gelungenen Leben” ganz im Gegenteil: Kunst und Leben kommt aus dem Nichtgelungenen und Unrunden. Es entspringt dem unregelmäßigem Geschlechtsverkehr. Schon deshalb werweist ihr Angriff auf Wallace ins Leere, ebenso wie ihr sprechen von “poetischer Formung” nun vollkommen aufs 19 Jh wenn nicht aufs 18. verweist.
      Zudem würde ich jule verne und karl may lieber nicht so sehr auf eine stufe stellen,
      das problem ist wahrscheinlich, dass sich “wahre” “echte” literatur den dichter aussucht und nicht umgekehrt. wenn dichtung auf dichter trifft, sie ihm also über den weg läuft oder durch ihn hindurchweht oder ihn vereinnahmt, und dann durch ihn hindurch schreibt, ist es immer ein glücksfall. ich höre aus ihrer argumentation heraus, dass sie sich an theoretischen diskursen orientieren, ob in gegnerschaft oder in assoziation. schon das ist falsch. sie interessieren sich viel zu sehr für irgendwelche weihrauchs die mal irgendwann irgendwas theoretisches gesagt haben, also ergreifen sie partei und glauben nun, sozusagen im kampfe gegen den kahlschlag anschreiben zu müssen, und das aber bringt ein ganz unfreiwilliges moment in das sprechen, die texte werden diskurs-observabel anstatt weltempfindlich. sie müssen in diskurobservabilität oder theorieobservabilität sich selbst oder anderen immer etwas beweisen und schreiben in einem dagegen oder dafür. so entstehen positionspapiere aber keine Vibrationen. so muss man also die deutche literatur heute unterscheiden nach den Dafürhaltern oder Gegnern von irgendwas, aber der impuls von dichtung wird dadurch vereinnahmt von dieser produktion des dafür oder dagegenhaltens, und positonslampen, er kann sich nicht in dichtung umwandeln…der impuls von dichtung verfehlt so das kerngeschäft von literatur. Er verliert sich. Das Kerngeschäft von Literatur heisst: Der Fassungslosigkeit gegenüber eine Fassung versuchen. Das Kerngeschäft von Literatur heisst: Das Alte mit Neugier zu konfrontieren, mit der Betonung auf Gier nach Neuem und weiterhin heißt das Kerngeschäft der Literatur: gegenwart in sprache übersetzen, und genau das ist eben das problem der deutschsprachigen literatur: sie setzt nicht gegenwart in sprache, sondern setzt sprecher in szene oder bestenfalls verwandelt sie szenen in Sprecher.
      Aber durch meine hier aufgeführten 3 Forderungen an das Kerngeschäft von Literatur wird Literatur überfordert, aber genau diese Überforderung erzeugt Literatur. Literatur wird nicht durch “gelungene” Formen erzeugt oder durch “regelmäßigen Geschlechtsverkehr” und auch nicht durch ein “gelungenes Leben” sondern durch Überforderung der Fassung gegenüber der Fassungslosigkeit.
      Bei Camus gibt es eine Stelle, ich glaube, in der Fremde, wo jemand darüber nachsinnt, was er eigentlich empfindet, nachdem er jemanden erschossen hat, ob und warum und wie er empfinden kann, was er innerlich dazu zu sagen hat..und irgendwie geht ihm darüber das Ereignis, also der Mord selbst irgendwie verloren…das nenne ich Fassung gegenüber Fassungslosigkeit behaupten und zu befragen und davon überfordert sein, das nenne ich Literatur. Nur mal so als Beispiel. So etwas kann sich aber nur ereignen, es kann nicht gewollt werden…und es ereignet sich jenseits von literaturtheoretischen Observablen.
      Diese Überforderung der Fassung gegenüber der Fassungslosigkeit ist auch bei Wallace drin. Selbstverständlich ist der Roman nicht “gelungen”. Das wäre ja auch das Schlimmste.

    48. Keine Rechtfertigung! Lieber Herr Herbst, ich möchte Sie bitten, auf Kommentare wie von La Lune und Edith08 nicht mehr zu reagieren. Wo sie Ihnen zu unangenehm sind, löschen Sie sie bitte einfach weg. Dafür würden wir alle Verständnis haben. Ich finde nämlich nicht, dass es irgend einen Grund für Sie gibt, sich überhaupt zu rechtfertigen. Sie machen Ihre Arbeit und ausgezeichnet, soweit ich das beurteilen kann. Sie stellen sich Argumenten und gehen auf sie ein, wo andere Autoren sich beleidigt zurückziehen. Das ist mehr als achtbar von Ihnen, aber ich finde, dass es Grenzen gibt, die hier über ein verträgliches Maß hinaus auch ins Persönliche reichen. Wenn Ihnen vorgeworfen wird, Sie hätten nicht genug Leben oder gelebt, um gute Literatur zu schreiben, dann ist das schon al Anmaßung absurd genug, um es zu ignorieren. Mir scheint es nämlich gerade so zu sein, dass Ihre “Kritiker” ein solches Leben nicht haben und dass sie von der Literatur deshalb erwarten, dass sie es ihnen als Ersatz gibt. Dagegen ist auch nichts zu sagen. Das ist immer schon eine Funktion der Literatur gewesen, auch der sehr guten. Aber La Lune schreibt viel zu oft von “echtem” Leben und von Vibration, die sie aus Romanen erwartet, als dass man nicht denken müsste, aha, das fehlt ihr also. Vielleicht ist sie ganz zurückgezogen in einem Büro, ist Sekretärin, obwohl ich eher glaube, dass La Lune in Wirklichkeit ein Mann ist, der sich sehr gut eingerichtet hat und über sein Auskommen verfügt, weil er einer regelmäßigen Tätigkeit nachgeht, die vielleicht viel mit Papier zu tun hat. Vielleicht ist er auch beruflich ein Kritiker. Das kann sein, aber auch das wäre nur dann interessant, wenn es sich offen zeigen würde. Jedenfalls scheint er ein “wirkliches” Leben zu vermissen und projiziert das auf Sie. Das ist meine Fantasie, wenn ich Kommentare wie von La Lune und Edith lese. Ich bitte Sie nur, lassen Sie die Kommentare entweder einfach so stehen und haben Sie etwas mehr Vertrauen in uns Leser. Oder Sie löschen sie weg. Denn es ist wirklich von Schaden für uns, die wir gerne hier lesen, wenn man irgendwann nicht mehr will, weil diese Leute einem den Genuss kaputtmachen und die ernsthaften Gespräche torpedieren. Herrn Nos Beiträge zum Wolpertinger empfinde ich als großen Gewinn, ebenso wie die von MelusineB und anderen.
      Was ich aber richtig gut finde, das ist, dass Sie in Ihrer Paris-Erzählung jetzt angefangen haben, Edith zu einer Figur zu machen. Ja, Herr Herbst! Genau so muß ein Schriftsteller reagieren, das ist dann wieder seine Arbeit oder führt uns, nämlich die Leser, in sie zurück. Ich bin sehr gespannt, wie Sie Edith beschreiben werden und habe sehr darüber gelacht, dass Ihnen Edith und BettyB “zugeführt” wurden. Wirklich, “zugeführt” ist ein köstliches Wort, wenn man die ganzen Kommentare von vorher kennt.

    49. @La Lune Ich lese gerade Ihren neuen Text und kann Ihnen nur sagen: Lesen Sie endlich den Wolpertinger! Lesen Sie Thetis! Was Sie da schreiben, ist doch genau das, wofür diese Romane beispielhaft sind. Diese Fassungslosigkeit: ja eben! Das ist völlig Herbst. Mehr habe ich dazu wirklich nicht mehr zu sagen und bitte Herrn Herbst inständig, alles andere von Ihnen zu löschen, weil sich das immer nur wiederholt. Da liegt das direkt vor Ihren Augen und Sie spucken drauf, weil Sie es nicht kennen wollen. Sie treten es weg und treten es weg, weil Sie weiterglauben, dass Sie alles schon wissen und vor allem, dass es in Deutschland keine “wirkliche” Literatur mehr gibt. Dabei müssten Sie nur zu lesen anfangen. Übrigens hat Herbst meines Wissens erst lange danach angefangen, auch über die Theorie von Romanen zu schreiben, nachdem der Wolpertinger und sogar Thetis längst erschienen waren. Kann man ebenfalls nachlesen. Aber Sie wollen nicht.

    50. @La Lune nur noch dieses. Jeder Cretin kann einen mißlungenen Roman schreiben; die Rede von dem Mißlingen als einem ästhetischen Wert ist selbst längst banal und abgestanden; banal war das wahrscheinlich immer, weil es seine Kriterien nicht aus der ästhetischen Wahrheit, sondern den Zeitläuften der Ideologien und Verletzungen, nämlich Traumata, bezog. Selbstverständlich ist Against the day ein g e l u n g e n e r Roman, anders als US, und seine Konstruktion ausgefeilt und grandios. Das gilt für alle großen Romane, auch für die, die Fragment geblieben sind und – da wurden ihre Autoren gar nicht gefragt – zu einer Ideologie des Fragmentes führten.
      Wenn Kunst den Anspruch aufgibt, vollkommen zu sein (wozu auch gehört, daß man absichtlich Fehler einwebt), hat es keinen Sinn mehr, überhaupt von Kunst noch zu sprechen. Dann können wir, wie Foster Wallace, alles, was uns grad so einfällt, zu einer fetten Sauce zusammenkippen. Manchmal ist ja auch Foster Wallace was Gutes eingefallen, übrigens, das hab ich nie bestritten.
      Selbstverständlich ist ein Anspruch auf Vollkommenheit hybrid, und man wird diesen Grad von Vollkommenheit vielleicht niemals erreichen – aber wir können uns ihr nähern, und zwar mit Leidenschaft wie mit Eulenspiegeleien, mit Tricks und mit Technik, mit Idee und Genie. Doch nichts hat Vollkommenheit, aber auch gar nichts, mit “Regelmäßigkeit” zu tun, wie Ihr hübsches, aber wieder einmal falsches Beispiel des “ehelichen Geschlechtsverkehrs” uns nahelegen will.

    51. @ Herrn Kerber. Danke.
      Ich möchte darauf jetzt nicht mehr eingehen, weil mich >>>> meine Erzählung so einsaugt. Aber danke, wie schon Dr. No, daß Sie so lesen.

      Das ist komisch jetzt hier: eigentlich sollte ich ja hinausgehen und tue das auch immer wieder. Trotzdem sitze ich an diesem Tischchen wie festgeklebt und schreibe. Manchmal muß ich mir direkt sagen: Du bist in Paris, geh raus! Aber dann habe ich wieder Angst, Jenny zu verpassen… daß sie eben doch noch mal herkommt.

    52. Wolpertinger Lieber Alban Nikolai Herbst!

      Danke Ihnen, dass Sie trotz meines Mescalero-Auftaktes so ausführlich und offen Auskunft über Ihre politische Haltung gegeben haben. Ich weiß das zu schätzen.

      Das nach Ihrer Zählung Vierter Septor genannte nächste Kapitel schließt ja daran unmittelbar an, witziger Weise. Der Dichter in der Dichtung erklärt dem Leser auf S. 506, dass und wie er die dem Leser aus den Gedankengängen des Terrorosten/Sympathisanten Polst schon von S. 435 bekannte Rede des Mündener Bürgermeisters über die verhassten Amerikaner und über den terroristischen Plan der Sprengung einer Brücke in den Roman eingebaut hat.

      Und wir erfahren, dass das Treffen von Deters, Lipom und den anderen im Wolpetinger einen erzählerischen Vorläufer (also einen vorangegangenen Roman im Roman) gehabt habe. Auf dieser völlig neuen Erzählebene tauchen jetzt ganz unvertraute Freunde von Hans Deters auf (z. B. Angela Hoffman und Asmus Petersen). Bremer Gruppe und die Frage, wohin der konsequente Geschichtsgedanke führt. Dazu haben Sie ja, lieber ANH, einiges ausgeführt zuletzt. Ich vermute, der Gangolf-Vorwurf: „Sie geben die Politik auf, Sie verlieren den Blick auf die Emanzipation, die Aufklärung, das Menschenrecht, auf die Humanität. Sie werden…luxuriös“ (S. 510) hat durchaus auch persönlichen Bezug, sei es als Credo, sei es als Ihnen gemachter Vorwurf?

      Egal, über das Politische verliert der Roman nicht seine mir gefallenden Auffälligkeiten, wie z.B.:
      – die Auffächerung europäische Kultur in Form von z.B. Kzystof Penderecki (S. 512),
      – die Wortschöpfungen wie das für den leise auftretenden Deters verwendete „gefußspitzt“ (S. 518),
      – die Verwendung unbekannter Namen und Begriffe (vermutlich aus der Mythologie) wie „Urd, Verdandi, Skuld“ auf S. 519: Wer oder was ist das denn, um Gottes Willen???
      – auf S. 523 die Sprünge in die verschiedenen Romanebenen und zurück.

      Außerdem wird die Diskussion der Lipom-Truppe über Demokratie und Heimat – hoch interessant – selbst für mich. Ich darf anführen Sätze wie diese (S. 515 f.):

      „Nix ist schädlicher als Harmonie, als Brüderlichkeit“
      „….Episoden, ganz wie die sogenannte Demokratie, … die kann nicht funktionieren – …Sie kommen nur übers Eigentum ran…“
      „Nur die Technik erzeugt Gleichheit…“
      „Die Heimat. Eine gefährliche Mystifikation!“
      „Meine Heimat ist, wo ich frei bin…“

      Spannend!

      ABER. Aber ab S. 532 wird es sehr bunt. Eine erdrückende Fülle von Anspielungen:

      Speer und Klingsor, Esclarmondes und Gral verweisen auf Parsifal (und Anna ist also Kundry), Walpurgisnacht meint Goethes Faust und/oder Wagners Tannhäuser, Puk taucht auf und wir sind also auch bei Shakespeare, König Laurin und seine Rosenzucht, Hans Sachs und der Sängerkrieg auf der Wartburg, Walhall und damit doch auch Wagners Ring, Dietrich von Bern, der biblische Evangelist Lukas erzählt, wie Jesus den bösen Geist in die Schweine fahren lässt (was im Wolpertinger auf das Vampir-Blumenstück sich bezieht und darüber hinausweisend auf Dostojewski, denn diese Lukas-Geschichte ist das Vorwort zu den „Dämonen“), der Blechtrommler Oscar aus Danzig, und ……

      Und das ist ja nur die Fortsetzung der Fülle anderer Anspielungen, Motive, Hinweise, die nur ich – hier und früher im Roman – gesehen habe (wohl eher nur die Spitze des Eisberges). Mir kommen kleine Zweifel. Was ist der Sinn davon? Daher frage ich mich mittlerweile manchmal so:

      Hat denn eigentlich auch der Leser Spaß an dem Buch, der das alles nicht sehen kann? Ist die Vielzahl und Vielheit des Zugrundeliegenden nicht übertrieben?

      Ich tue mich schwer, beides kann ich nicht wirklich beurteilen.

      Aber beurteilen kann ich, wie elegant andeutungsvoll und gleichwohl erotisch drastisch der Alban Nikolai Herbst Sex darstellen kann, bei Anna und Depardiue (540) und schon früher bei Katrin Legrand (S. 436). Das hätte auch Marcel Reich-Ranicki gefallen!

      Ich lese weiter!

      Beste Grüße

      NO

    53. @Dr. No nur zu Zweiem, während ich jetzt eigentlich >>>> ganz woanders bin:

      Hat denn eigentlich auch der Leser Spaß an dem Buch, der das alles nicht sehen kann?Ich hoffe: ja. Einfach deshalb, weil auch ich Spaß an Büchern hatte, bei denen ich längst nicht alles sah, beileibe nicht. Die für mich so wichtigen “Die Dämonen” habe ich mindestens dreimal gelesen im Abstand von Jahren, und immer war da etwas Neues zu finden. Wobei ich alles, was einem Leser nötig ist, um die Zusammenhänge zu verstehen, ja noch eigens hinzuerzähle, bzw. die Romanfiguren erzählen lasse. Um der Handlung zu folgen, die ja auch Spannung hat oder witzig ist (“Deppi! Deppi!), braucht es nicht mehr.
      (Nur für Sie: aus Laurin ist Puck abgezogen – wesentlich für den Sommernachtstraum, auf den Sie längst viel früher kamen. Da ich aber wenigstens auf einer Ebene realistisch schreibe, direkt aus dem Alltag, war Oskar Matzerath nicht zu umgehen – auf meine neueste persönliche Geschichte ein zynischer Streich, den mir der Wolpertinger gespielt hat, als ich noch nicht ahnen konnte… )

      Ist die Vielzahl und Vielheit des Zugrundeliegenden nicht übertrieben?
      Nein. Wenn man erst einmal anfängt, nach Bezügen zu fragen und zu suchen, wird es immer verwirrend, nein: vielstgestaltig und aus diesem Vielstgestaltigen hebt sich dasjenige heraus, was uns, sagen wir, anspricht. Ich kann aber und will das andere nicht wegretouschieren, sondern will es intergrieren, auch dafür eine tragende Form finden.

      Urd, Verdandi, SkuldDas sind die drei Nornen, jeder von ihnen wird auf dem Spaziergang begegnet.
      sei es als Credo, sei es als Ihnen gemachter VorwurfJa. Ich diskutiere immer auch mit mir selbst, auch g e g e n mich selbst. Zumal es hier um eine zentrale Frage des aufgeklärten Bewußtseins geht.

      Was die Namen Petersen usw. anbelangt: das sind r e a l e Personen. Ich habe seit dem Wolpertinger immer darauf geachtet, daß auch die sog. “Urbilder” sichtbar werden, etwas, wofür mir in der Buchprozeß-Zeit starke Vorwürfe gemacht worden sind, was ich aber tatsächlich immer schon als ästhetische Grundierung verfolgte und weiterverfolge. Das “flog” aber erst “auf”, als jemand das eingeklagt hat; vorher wurden alle meiner Personen für Fiktionen gehalten, nahezu immer; ich s t a n d geradezu für jemand, der “immer nur erfindet” – so ein geläufiger Vorwurf gegen mich aus den Siebzigern.

    54. Wolpertinger Lieber Alban Nikolai Herbst!

      In der letzten Zeit ist privates Lesen etwas in den Hintergrund gerückt. Auch das, was ich las, nachdem Sie dankenswerter Weise auf meine Fragen zur Überfrachtungsgefahr eingegangen sind.

      Aber ich erinnere mich dunkel: Die Sache wird immer verwirrender. Ab S. 547 hatte ich das Gefühl, auf der realen Handlungsebene wird eine zweite Front aufgemacht: Dieselben Figuren unter anderem Namen in einer alternative Handlung, 4 Jahre vor der bisher erzählten. Und Daniello = Lipom steuert alle und alles über einen Computer wie bei „Matrix“ oder Löwitschs „Welt am Draht“?

      Bei ungefähr der Hälfte des Buches angelangt, stellt sich daher schon einmal zwischendurch die Frage, um was geht es denn eigentlich in diesem Buch? Bei mir setzt diese Frage immer voraus, dass ich wenigstens ungefähr weiß, was eigentlich hier passiert.

      Wenn ich das richtig sehe, gibt es im Wesentlichen einen Haupt- und einen Nebenerzählstrang. Der Nebenstrang ist der kleinere und vermeintlich mehr in der Realität angesiedelt. Hier fährt Deters Zug, weil er eine Frau verfolgt nur so zum Spaß, die er Anna nennt und mit der er Tage in Göttingen verbringt, um dann mit ihr in einem Hotel Daniello und andere für eine Konferenz zu treffen, während im Ort sich Terrorosten sammeln für einen Anschlag, die aber wiederum vom Geheimdienst beobachtet werden, welcher Deters für Spitzeldienste angeheuert hat. Der Hauptstrang spielt in der Geisterwelt, voller Mythologie, da gibt es auch einen Deters, der eine Anna getroffen hat, die ihn mit Hüon verwechselte und ihm den Ring zuschob, und beide sind teils in der Diskutier-Runde um Lipom, teils im „wahren“ Leben, wobei die „wahren“ Lebenden die Geister teilweise sehen können und teilweise eben nicht, während die Geister ihrerseits einen Streit ausfechten um Ring oder Beutelchen.

      So, hilft mir das jetzt, dass ich das für mich so zusammenfasse (gefasst hatte vor einiger Zeit)? Nicht wirklich.

      Also: „Warum spielt mein Roman im Feenreich?“ (S. 582).

      Ich ahne irgendwie den Hauch einer Antwort bei dem großartigen, starken Satz:

      „Die lustbetonte Urreligion pervertierte erst im christlich-römischen Soldatengeist zur Treupflicht Hagen von Tronjes und diese in die Gehorsamsethik Eichmanns“ (S. 543/544).

      Ich erinnere mich an ein eindrucksvolles Buch über Bader-Meinhof: „Hitlers Verlorene Kinder“, und denke mir, damit wird wohl alles irgendwie zu tun haben.

      Ja, ich weiß, Sie erläutern Einzelnes, z.B. ab S. 560 schwierige Teile seiner Romankonstruktion, hilft mir persönlich aber nur bedingt weiter.

      ABER. Aber das macht den Herbst für mich bisher aus: Der Vorhang zu und alle Fragen offen, aber dann wird es plötzlich wieder lesenswert und man vergisst die Fragen. Reicht das nicht für gute Literatur? Fragen? Offene Vorhänge? Egal, denn es wird ausgesprochen vergnüglich mit den Betrunkenen in der Kneipe. In der Kneipe sind alle besoffen, das Radio spielt, Vicky Leandros singt und es klingt erst ein bisschen nach Heinrich Manns „Untertan“, aber mit „Leipzig“ (S. 608) wird klar, Auerbachs Keller aus dem Faust I wird nachgespielt mit Lipom als Mephisto und Deters als dem Doktor der Magie. Das ist höchst amüsant! Kompliment. Trotz des Vergnügens fragte ich mich zwar trotzdem: Warum? Aber nur so im Hinterkopf. Denn explodiert das Ganze:

      Auerbachs Keller schlägt um in die Walpurgisnacht, Lipom macht alle besoffen, zettelt Schlägereien an, alle werden obszön, schwarze Brühe kocht aus dem Boden, alle besuhlen sich, eine Orgie geht ab, alle sind fast wahnsinnig, ein Slapstick, denkt man, spinnt der, der Herbst, es wird immer schlimmer, das Volk johlt und schreit, fürchterliche Worte fallen, das Grölen wird immer ärger, Lipom ist ein wahrer Teufel, alle sind völlig enthemmt, Spießbürger schreien und am Ende schreit alles: Schuld ist der da, der Jude!!! Entsetzlich.

      Mann Herbst! Welche Wucht! Welche Kraft! Neu oder nicht, vibrierend oder nicht, das ist doch was!

      Jetzt mag der Vorhang zu und alle Fragen offen sein, aber ich stelle keine, ich bin begeistert, verblüfft, betroffen, unterhalten, muss verschnaufen. Kam insofern ganz gelegen, meine Lesepause.

      Beste Grüße

      NO

      PS: Was hat es übrigens mit den ständig zitierten Birken und dem Spitznamen „Birkchen“ für Murnau auf sich?

    55. Wolpertinger Lieber Alban Nikolai Herbst!

      Nur ganz vorsichtig die Frage, ob auf Antwort zu den Fragen vom 1. 7. 2010 noch gehofft werden kann, oder ob das in der Hektik um die Fenster in Paris, Melusine etc. untergegangen ist? Ich hänge den Text vorsorglich unten dran, aber bitte: Keinen Aufstand. Wenn Sie nicht antworten wollten, weil zu blöd, oder was auch immer, kein Problem.

      Beste Grüße

      Ihr NO

      ———————————————–

      NO (Gast) antwortete am 2010/07/01 19:52:
      Wolpertinger
      Lieber Alban Nikolai Herbst!

      In der letzten Zeit ist privates Lesen etwas in den Hintergrund gerückt. Auch das, was ich las, nachdem Sie dankenswerter Weise auf meine Fragen zur Überfrachtungsgefahr eingegangen sind.

      Aber ich erinnere mich dunkel: Die Sache wird immer verwirrender. Ab S. 547 hatte ich das Gefühl, auf der realen Handlungsebene wird eine zweite Front aufgemacht: Dieselben Figuren unter anderem Namen in einer alternative Handlung, 4 Jahre vor der bisher erzählten. Und Daniello = Lipom steuert alle und alles über einen Computer wie bei „Matrix“ oder Löwitschs „Welt am Draht“?

      Bei ungefähr der Hälfte des Buches angelangt, stellt sich daher schon einmal zwischendurch die Frage, um was geht es denn eigentlich in diesem Buch? Bei mir setzt diese Frage immer voraus, dass ich wenigstens ungefähr weiß, was eigentlich hier passiert.

      Wenn ich das richtig sehe, gibt es im Wesentlichen einen Haupt- und einen Nebenerzählstrang. Der Nebenstrang ist der kleinere und vermeintlich mehr in der Realität angesiedelt. Hier fährt Deters Zug, weil er eine Frau verfolgt nur so zum Spaß, die er Anna nennt und mit der er Tage in Göttingen verbringt, um dann mit ihr in einem Hotel Daniello und andere für eine Konferenz zu treffen, während im Ort sich Terrorosten sammeln für einen Anschlag, die aber wiederum vom Geheimdienst beobachtet werden, welcher Deters für Spitzeldienste angeheuert hat. Der Hauptstrang spielt in der Geisterwelt, voller Mythologie, da gibt es auch einen Deters, der eine Anna getroffen hat, die ihn mit Hüon verwechselte und ihm den Ring zuschob, und beide sind teils in der Diskutier-Runde um Lipom, teils im „wahren“ Leben, wobei die „wahren“ Lebenden die Geister teilweise sehen können und teilweise eben nicht, während die Geister ihrerseits einen Streit ausfechten um Ring oder Beutelchen.

      So, hilft mir das jetzt, dass ich das für mich so zusammenfasse (gefasst hatte vor einiger Zeit)? Nicht wirklich.

      Also: „Warum spielt mein Roman im Feenreich?“ (S. 582).

      Ich ahne irgendwie den Hauch einer Antwort bei dem großartigen, starken Satz:

      „Die lustbetonte Urreligion pervertierte erst im christlich-römischen Soldatengeist zur Treupflicht Hagen von Tronjes und diese in die Gehorsamsethik Eichmanns“ (S. 543/544).

      Ich erinnere mich an ein eindrucksvolles Buch über Bader-Meinhof: „Hitlers Verlorene Kinder“, und denke mir, damit wird wohl alles irgendwie zu tun haben.

      Ja, ich weiß, Sie erläutern Einzelnes, z.B. ab S. 560 schwierige Teile seiner Romankonstruktion, hilft mir persönlich aber nur bedingt weiter.

      ABER. Aber das macht den Herbst für mich bisher aus: Der Vorhang zu und alle Fragen offen, aber dann wird es plötzlich wieder lesenswert und man vergisst die Fragen. Reicht das nicht für gute Literatur? Fragen? Offene Vorhänge? Egal, denn es wird ausgesprochen vergnüglich mit den Betrunkenen in der Kneipe. In der Kneipe sind alle besoffen, das Radio spielt, Vicky Leandros singt und es klingt erst ein bisschen nach Heinrich Manns „Untertan“, aber mit „Leipzig“ (S. 608) wird klar, Auerbachs Keller aus dem Faust I wird nachgespielt mit Lipom als Mephisto und Deters als dem Doktor der Magie. Das ist höchst amüsant! Kompliment. Trotz des Vergnügens fragte ich mich zwar trotzdem: Warum? Aber nur so im Hinterkopf. Denn explodiert das Ganze:

      Auerbachs Keller schlägt um in die Walpurgisnacht, Lipom macht alle besoffen, zettelt Schlägereien an, alle werden obszön, schwarze Brühe kocht aus dem Boden, alle besuhlen sich, eine Orgie geht ab, alle sind fast wahnsinnig, ein Slapstick, denkt man, spinnt der, der Herbst, es wird immer schlimmer, das Volk johlt und schreit, fürchterliche Worte fallen, das Grölen wird immer ärger, Lipom ist ein wahrer Teufel, alle sind völlig enthemmt, Spießbürger schreien und am Ende schreit alles: Schuld ist der da, der Jude!!! Entsetzlich.

      Mann Herbst! Welche Wucht! Welche Kraft! Neu oder nicht, vibrierend oder nicht, das ist doch was!

      Jetzt mag der Vorhang zu und alle Fragen offen sein, aber ich stelle keine, ich bin begeistert, verblüfft, betroffen, unterhalten, muss verschnaufen. Kam insofern ganz gelegen, meine Lesepause.

      Beste Grüße

      NO

      PS: Was hat es übrigens mit den ständig zitierten Birken und dem Spitznamen „Birkchen“ für Murnau auf sich?

      Antworten
      http://albannikolaiherbst.twoday.net/stories/erst-einmal-ankommen-dachte-ich-eben-arbeitsjournal-freitag-der-14-mai/#6407004

    56. Wolpertinger Lieber Alban Nikolai Herbst!

      In freudiger Erwartung der im Freundesland versprochenen Antworten auf den 1. Juli fahre ich schon einmal fort:

      Noch immer denke ich an die sinnliche Beschreibung des Sündenpfuhls am Ende des letzten Septors (S. 635)! Vorsorglich habe ich das nicht noch einmal gelesen, damit mir der Eindruck nicht kaputt geht (auch Hesses „Narziß und Goldmund“ habe ich deswegen seit meinen Jugendtagen nie wieder in die Hand genommen). Aber der Eindruck wirkte noch lange nach:

      In diese witzige Kneipenszene in Münden, zu Auerbachs Keller mutiert, bricht das Böse und der hässliche Deutsche ein, so unvermittelt wie in diesem Quentin Tarantino-Film, wo John Travolta auf der Flucht mit seinem Gefährten in eine Kneipe in der Wüste einkehrt und sich das Personal urplötzlich in Vampire verwandelt und über die Gruppe herfällt, ein heilloses, wirres Durcheinander, Alkohol, Mord und Totschlag, eine aberwitzige Szenerie, in der bei einem skurrilen Gemetzel die Vampire von der Travolta-Truppe geköpft, getötet, erschossen werden, ein wildes Durcheinander, der Raum steht in Blut wie in Ihrem Buch alle in dieser aufsteigende schwarzen Brühe, Die erinnerte mich auch an die „Schwarze Milch der Frühe“, spätestens als der Spießbürger in der Orgien-Schlägerei nach Adolf Hitler schreit.

      Schaurig! So nah also unter der Oberfläche, finden Sie, steckt uns Deutschen, jdf. noch 1993, das Dumpfe, das Handheben, wenn alle sie heben, das Mitschreien und Mitmachen, das Wegschauen? Mann, ich hoffe, Sie irren sich.

      Aber zurück zum Buch:

      Die schönen Tage von Münden sind nun vorüber. Ich habe nämlich bis zu S. 822 weiter gelesen. Gefallen haben mir Claudia und ihr Mann Michael, also die eine Impotenz-Gewalt-Szene zwischen Deters und Claudia Deutsch (S. 686) und das Ende der Beziehung zwischen Claudia und Michael (S. 744).

      Und sonst? Na ja. Hellmuth Karasek taucht auf (S. 645). MRR hatten wir schon, so dass, wenn jetzt noch die Löffler erschiene, das literarische Quartett fast komplett wäre. Deters nimmt Drogen und fliegt durch Schlüssellöcher. Eckard Cordes erscheint (eine Deters-Alternative-Figur), was die Wirtschaftsgeschichte der alten Bundesrepublik assoziiert, denn Cordes und Dieter Zetsche waren damals sehr erfolgreiche Daimler-Manager unter Reuter und Kronprinzen unter Schrempp; heute führt Zetsche den Konzern und Cordes ist bei Karstadt.

      Popel, Pöbel, Plebs und Volk: Hüon zeigt endlich sein Album, welches er schon den ganzen Roman mit herumschleppt (S. 722). Nasenpopel! Was für ein eklig-spaßiger Einfall. Eine Sammlung der Popel aller möglicher Leute, Terroristen wie Holger Meins, Dichter wie Bulatovic, Nazi-Größe Goebbels und Sänger Cat Stevens, eine Fülle von Namen, die Vor- und Nachnamen vertauscht. Der „Peace-Train“-Barde, damals in aller Munde, ist Folie der alten BRD, oder hat die Anspielung eine Funktion?

      Das dritte Blumenstück (S. 755) ist kurz. Das könnte Bolano in 2666 von Ihnen übernommen haben: Auf mysteriöse Weise werden in der Kirche die Bänke jede Nacht verrückt und am Ende wird dem Kirchenvertreter Gewalt angetan. Den Tonsetzer holt der Teufel anscheinend. Adrian Leverkühn als Pate?

      Dann kommt es zu einer Versammlung der Geister im Wald (S. 794). Lipom ist Oberon, Anna ist Titania, alles passend zur mit dem Kamm verzettelten Miss Piggy viele Seiten vorher, aber die war wohl nicht nur der liebestolle Eselskopf, sondern auch eine Anspielung auf die Muppets Show. Deters beobachtet: Über Lipom wird Gericht gehalten. Die Sprache wird blumiger, märchenhafter.

      Jetzt schaffe ich auch noch den Schluss.

      Beste Grüße

      Ihr NO

    57. @No, sie bringen herrn nicolai herbst in erklärungsnot. das hört sich jetzt nach mätzchen an, die beliebig so oder so oder so zusammengeschmissen wurden.

    58. @Literaturpapst zu No. Das hört sich nur dann so für jemanden an, wenn er das unbedingt so hören w i l l – was, wie wir wissen, bei Ihnen der Fall ist. Daß der Wolpertinger ziemlich streng gearbeitet ist und es quasi nicht ein einziges Motiv in ihm gibt, das nicht begründet, wieder aufgenommen, zugleich geerdet ist, darüber wurde auch schon an anderer Stelle oft geschrieben. Genau das ist ja das Ärgernis für Leute wie Sie: daß Sie dieses Buch, wie insgesamt mein Werk, nicht wegschweigen können. Darum auch müssen Sie anonym Ihre Behauptungen streuen: damit Sie nicht hinterher in einem Regen stehen, der aus Urin ist.

      Und Erklärungsnot? Ganz gewiß nicht. Es ist momentan eine Frage der Zeit.

    59. also nach einer bestimmten methode, kann man, denke ich, alles mit allem auch irgendwie streng erden. da würde ich jedem literaturwissenschaftler unbedingt mut machen, ich persönlich finde ja die popelsammlung einen total lustigen einfall und würde das garnicht kritisieren wollen. das ist ganz köstlich.

    60. @Literaturpapst. Jedenfalls verhalten Sie sich wie eine Gattung, die ihr kritisches Recht aus dem Umstand bezieht, daß sie nicht liest, was sie kritisiert. Bevor Sie das nicht ändern, wird man Sie mit allem Grund nicht ernstnehmen können. Ist auch egal, denn man riecht die Mißgunst eines, der selber nicht kann. Was die Popelsammlung anbelangt, ist es ein wenig schade, daß Dr. No das verpetzt hat; ich selber, bei Rezensionen, vermeide so etwas -schon, damit nicht später Leute mitreden können, die ohne Quellenkenntnis so tun, als wüßten sie was.

    61. Wolpertinger Lieber Alban Nikolai Herbst!

      Nun ist es noch einmal spannend geworden. Götterdämmerung! Lipom = Oberon = Auberon wird aber nicht gerichtet, sondern gerettet durch Rede und Gegenrede. Wohlmöglich nun hier ab S. 801 die Quintessenz (?) des Romans:

      Lipom spricht vor einer riesigen Geister-, Vampir-, Nosferatu-, Zwergen-, Rumpelstilzchen- und sonst-was-Versammlung. Die Geisterwelt wird bedroht von der realen Welt, das kennt man schon aus dem Prolog. Warum? Weil die Menschen zu d e n k e n gelernt haben (S. 825/826). Dadurch aber erkannten, dass sie nichts waren und deswegen die Ordnung erfanden, das System, die Theorie. Soll ich hinzufügen: Das Gesetz? Und zurückverweisen auf S. 167, wo ANH den Prof. Murnau die freiheitlich-demokratische Grundordnung dieses Landes als Zoo-Ordnung einstufen lässt („Das Grundgesetz dieses Landes … ist eine Zoo-Ordnung …. Füttern verboten. Die Tiere hat keiner gefragt. Ganz dasselbe Prinzip.“)?

      Zwecks Überleben der Geister wurde Lipom von ihnen zum Führer gewählt und erhielt von Anna = Alda = Titania die Insignien der Macht (Ring, Speer/Spazierstock). Lipom schuf den Prof. Murnau, als Menschen-Studierer und Botschafter. Der aber ging fremd, wollte Mensch werden, man sieht ihn förmlich als Bruno Ganz auf der Goldelse im Himmel über Berlin; oder war es Colombo? Die rechtlich zu beanstandende Auswahl dieses Erfüllungsgehilfen geht für Lipom trotzdem durch, denn Lauscher Deters, „auch Husar geheißen, weil ich gegens Vergessen ritt“ (S. 823), springt in den Kreis und rückt die Dinge für die Geister zurecht.

      Für mich ist Dr. Lipom schon deswegen rehabilitiert, weil ihn Alban Nikolai Herbst so Schönes sagen lässt wie dieses:

      „Ich will der Schatten werden eines Baumes bei Dämmerung, der dem Flügelschlag des Zitronenfalters nachwehende Duft. Will sein der Klang, den der Träumer im Ohr hält, wenn er schläft nach altem Tanz, wie das Rauschen von Segeln in Flaute, ein lautloses Vergessen“ (S. 809).

      Aber da fallen auch sonst starke Sätze, in denen sich die früheren Wortgefechte zwischen Lipom und Murnau (und den anderen) aus der Tischgesellschaft des Wolpertingers spiegeln:

      Geister (an Deters): „Die Seele… was ist sie, Mensch, für die Ihr Euch habt umbringen lassen und umgebracht … habt?“. Murnau (an alle): „Es gibt keine Seele! Das ist Mythologie … , Religion!“ (beides S. 821).
      Und vorne im Buch bei der Tischgesellschaft Lipom (an Murnau): „Vernunft? Wie, hä? Vernunft zerstört den Frühling … Zerstört die Poesie, die Liebe!“ (S. 167).

      Deters (an Geister): „Es macht keinen Sinn, die Bäume zu besingen, wenn es keine mehr gibt, und ebenso wenig, die Technik nicht zu besingen, wenn sie überall ist. Ihr müsst in die Maschinen hinein …“ (S. 828).
      Und vorne im Buch bei der Tischgesellschaft Bertrecht (an Lipom): „Vernunft ist Verstand gewordene Macht!“ (S. 165). Und Anna: „Was ist es eigentlich mit dem Sex? Finden Sie Erotik vernünftig?“ (S. 168).

      Lipom also wird rehabilitiert, der Überläufer Murnau nicht bestraft. Deters sieht ihn als Vorbild. Deters (zu den Geistern über Murnau): „Wollt Ihr ihn bestrafen dafür, dass er Euch in dieses Neue vorauseilen will, von dem er so wenig weiß wie ihr, was es bringt? Lasst ihn gehen, und wenn ihr könnt, so folgt ihm!“ (S. 828). Folgen wohin? In die Maschinen wohl. Und damit in unser aller Leben wohl.

      Um was geht es?

      Es geht um Mythos und Logos, um Natur gegen Aufklärung. Oder wie hatte eine kluge Frau unlängst gesagt: „Chaos und Kosmos“; „Unordnung und Ordnung“. Es geht um das Verständnis dieses Romans. Es geht um Phantasie. Mit ihr die sich notwendig ändernde Welt ständig neu zu erschaffen. Alban Nikolai Herbst ist ein Phantast, wie Aléa Torik in ihrer Besprechung zur „Sizilianischen Reise schreibt: „Einer, der sich nicht damit zufrieden gibt, dass die Welt ist, wie sie ist. Denn genau so ist sie ja gerade nicht.“

      Letzten Sonntag, nicht in dieser Stadt, in einem Zelt, vor Königen, hörte ich einer zu, die von einem erzählte, der unverschuldet in großes Unglück geriet. Die bekannte Welt war auf einmal nicht mehr so wie immer gewesen. Und was tat dieser Mann? Er baute ein Schiff. Mitten in der Wüste. Ein Irrer. Ein Phantast. Ein Träumer. Und dann regnete es 40 Tage…… Danach war die Welt anders und neu.

      Deters hat in seinem Pass gestanzt bekommen das besondere Kennzeichen: „Träumer“ (S. 17). Wenn dieses Buch eine Aufforderung zum Träumen ist, dann folge ich gern. Es erinnert mich, und das ist, fürchte ich, von Ihnen, lieber ANH gar nicht beabsichtigt, denn im Wolpertinger kritisieren Sie ihn irgendwo, an Rolf Dieter Brinkmann, der in den römischen „Blicken“ – ist es Tagebuch, sind es Briefe, ein Briefroman, ein Roman von einem Schriftsteller, der nach Italien reist und dort Brief schreibt? – so hinreißend genau dies fordert: Tagträume:

      „Und was ist Gegenwart anderes als körperliches Dasein, Vorhandensein in der Zeit, und
      t r ä u m e n … Ich will damit sagen, dass Du Dir auch Zeit nehmen musst zum Träumen, unter allen Umständen! “ (aus: „Rom, Blicke“ S. 82).

      Lieber Alban Nikolai Herbst! Abschlussfrage: Was hat es auf sich mit diesem „Hell lachte die Sonne. Den Duft von Kaffee und Naschwerk umwehte Grasgrün“, das sich durch den gesamten Roman zieht???

      Und was hat es auf sich mit dem Blau? Ich weiß, irgendwo sucht irgend jemand eine blaue Blume, aber was bedeutet das?

      Beste Grüße

      NO

    62. @Dr. No zum Wolpertinger, des weiteren. Lieber Dr. No,

      schnell die Frage, bevor ich wieder einmal zu antworten vergesse: “Hell lachte die Sonne. Den Duft von Kaffee und Naschwerk umwehte Grasgrün.” Es ist ein klangliches Ironisches Leitmotiv, das ich meines Wissens im Dritten Septor anschlug, so, daß ich im Sechsten nur noch d a s schreiben mußte, und jeder Leser weiß sofort, wo er ist, nämlich auf der Terrasse. Meine Idee war, solche Bildleitmotive als Grundierung von Tableaux zu verwenden.
      Sie fragten auch, was es damit auf sich habe, daß Lipom den Prof. Murnau bisweilen “Birkchen” nennt, Murnau also – in e i n e r Lesart des Romans – ein Birkengeist ist. Auch hier verdrehe ich, drehe ins Gegenteil. Ich zitiere nach Lees “Fairies”, Harry N. Abrams Inc., NY (1978), in der Übertragung von Renate Reimann: “Der Geist der Birke hat weiße Spinnenfinger. Wen er am Kopf berührt, der behält ein weißes Mal und verliert den Verstand. Wen er am Herzen berührt, der muß sterben.” Bei mir s t e h t Murnau aber gerade für den Verstand…
      Insgesamt hat das in Deutschland als “Das große Buch der Geister” bei Stalling erschienene Buch einigen Einfluß >>>> auf den Wolpertinger gehabt, vor allem ein Bild, das für mich von Anfang an ebendas zeigte, was Hans Deters in Hannoversch Münden widerfährt: wenn man von den Geistern erwischt wird, in einem ihrer Tanzplätze, muß man mittanzen, bis man umfällt:

      Das Blau wiederum ist im Wolpertinger die Sehnsuchtsfarbe, s o wird sie aus der Romantik hergenommen; es steht für eine transitorische, permanent transitorische, Ferne. Und für die Lockung dahin. Insgesamt ist der Wolpertinger ein Hybrid, sowohl ästhetisch wie nach seinen Inhalten; er ist eben a u c h ironisch: das zusammengesetzte Jägertier als Postmoderne; es ist aber auch n i c h t ironisch, insofern das Spiel ausgesprochener Ernst werden kann: so, wie Sie mit Katzen spielen können, schmusen können, und plötzlich springt etwas über, und das Tier schlägt Sie. Bei Hauskatzen gibt das Kratzer, mit denen man schon umgehen kann; bei Großkatzen geht’s da ans Leben. Hier wäre auch ein Unterschied zu Brinkmanns Tagtraum: was Deters fordert, vom Menschen u n d von den Geistern, ist ein Tagtraum, der hochriskant ist: für sie die sog. Realität, für jene die Aufgabe definierter Zusammenhänge: Stufen, die weit in die Höhe führen, aber kein Geländer haben, an dem man sich festhalten kann. Daß das für Deters – in e i n e r Lesart des Romans – durchaus nicht gut ausgeht, werden Sie noch lesen.
      Der Wolpertinger ist ein phantastischer Roman, ja, aber er ist kein esoterischer; das ist mir – bei allem Spieltrieb – ungemein wichtig. Das Hohelied des Tagtraums ist keine Beschwörung einer Harmonie. Er ist – wie Camille Paglia, die ich später las, das über Sexualität geschrieben hat – kein Spaziergang im Grünen. Daß ich eigentlich nur schreiben kann, was er n i c h t sei, zeigt schon, wie problematisch dies alles ist. Genau deshalb habe ich während der Arbeit – imgrunde an der ganzen zusammenhängenden Roman-Serie “Verwirrung des Genüts” – “Wolpertinger” – “Anderswelt I – III” hartnäckig auf ständige Erdung geachtet und mindestens eine Ebene dieser Romane nie von der Alltagsrealität abheben lassen, sondern wir werden immer wieder in sie zurückgeworfen. Es geht mir ja tatsächlich – zur Wolpertigerzeit formulierte ich das aber noch nicht so – um einen neuen, einen eigentlichen, einen endlich angemessenen Realismus. Die meisten Autoren, die ich kenne, hängen an einem überkommenen Realismus, der imgrunde schon im 19. Jahrhundert nicht mehr gestimmt hat, und setzen, wenn es gutgeht, eine Form imaginärer Befreiung dagegen, indem sie lächelnd fantasieren. Es geht aber gerade darum, die Zustände miteinander zu vermitteln.

      Tatsächlich ist dieses “Thing” eine der Zentralstellen des Romans, man könnte sie die “Coda” nennen, käme da nicht noch was nach – romandramaturgisch war problematisch, daß da noch was folgen m u ß t e, daß dieses aber nicht einfach wegplätschern durfte. Noch sind die Fäden ja auch nicht alle verknüpft. Und: ja, Sie haben recht, es geht um den Tanz von Ordnung und Unordnung, es geht um die Frage, wie denn Freiheit möglich sei, für die es keinerlei naturwissenschaftlichen Gründe gibt. Als ich die Romanserie begann, wußte ich bereits eines: daß es darum gehen muß, den Satz vom Ausgeschlossenen Dritten zu widerlegen. Das habe ich auch explizit so formuliert; da war ich zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig. Die literarische Welt hatte damals völlig andere Interessen.

      Insofern es mir bis heute darauf ankommt, in einem Roman wirklich alle Fäden zu verknüpfen, ist der Wolpertinger weniger postmodern als vielmehr klassizistisch; unverknüpfte Bücher empfinde ich als schwach; eine Freundin nannte das mal meinen “Beziehungswahn”. Insofern ich nie Scheu hatte, dann logischerweise auch Entlegenstes zusammenzunehmen, ist der Roman postmodern. Insofern ich eines der Lieblings-Topoi der 68er Literaturen bediente, nämlich das Buch in der Provinz spielen ließ, nicht etwa in einer Großstadt (wie danach ANDERSWELT), ist er aber auch mit ihnen verknüpft.

      Bitte, ich weiß nicht mehr alle Fragen, die Sie hatten. Vielleicht sollte aber auch nicht unbedingt der Autor sie beantworten, weil es sein kann, daß Leser des Romanes mehr von ihm erfahren als ich, der ihn schrieb.

    63. Wolpertinger Lieber Alban Nikolai Herbst!

      Es ist vollbracht! Die letzten 175 Seiten sind gelesen, der Wolpertinger ist zu Ende. Spaß hat es gemacht, auch wenn verwirrend zuweilen.

      Sollte es vielleicht aber, die Marionetten wissen ja auch nicht immer, wie ihnen geschieht. Denn: Immerhin stellt sich heraus, das gesamte Hotel Wolpertinger ist ein Biocomputer (S. 852). Menschen als Nahrung. Gesteuert vom „Börsenschwein“ Daniello in seinem österreichischen Dialekt. Welt am Draht! Oder sind wir bei Neo (Deters) und Trinity (Anna) auf der Nebukadnezar? Aber das kam wohl doch erst nach Erscheinen dieses Romans, oder?

      Am Ende des Romans wird Hexensabbath gefeiert, ein Maskenball, in welchem fast alle noch einmal auftreten, in unterschiedlichen Konstellationen, die Orte ineinander verschränkt, die Handlungen verschiedener Jahre aufeinander geblendet, eine Collage der tausend Bilder, eine Montage einer Million Fotos und Filme übereinander.

      Und im Verklingen dieser blauen Symphonie verwandelt sich Deters in ein Tier (Gregor Samsa lässt grüßen?) paart sich mit der Elfin und lebt fortan eins mit der Natur als Leguan im sonnigen Wald bei der Wolpertinger Ruine.

      Ist die Welt Wirklichkeit, oder ist sie eine Schimäre, die Wirklichkeit?

      Einiges Handfestes wird vorher noch mitgeliefert:

      – Ein „Steinewerfer“ (auf S. 930). Sprechen wir von Joschka Fischer?

      – Ein Phantom fliegt über Deters im Wald als Tiefflieger hinweg (S. 938). Ein Wortspiel von ANH. Denn es muss heißen: E i n e Phantom. Die von McDonell Douglas nämlich, der Nachfolger des „Starfighters“, der Vorgänger von „Tomcat“ und „Eagel“ (und heute: „Reptor“).

      – Eine nackte Frau im offenen Leopardenmantel wird begehrt (S. 943). Von der war schon am Anfang des Romans zu lesen, und schon dort erschien mir das Bild von der Nitribitt (und dem roten Mercedes-Cabrio); das ist sie doch wohl hier? Oder setzen Sie, lieber ANH, der großen Nina Hoss ein Denkmal? Ahhh, Nina Hoss! So schön, so blond! So begnadet! Wenn sie auftritt im Deutschen Theater, geht die Sonne auf, wenn sie spielt, wie zuletzt in Lukas Bärfuss „Öl“, ist sie Lichtjahre über den anderen auf der Bühne (und ich mit ihr).

      – Es taucht „die Löwin“ auf (S. 946 – und auch später beim Paarungsakt), die ja wohl auch heute noch durch Ihre „DieDschungel“ geistert?

      – Die Psychologin Dr. Weigan wird von der Kommissarin Karin Anselm verhaftet (S. 967), und dass, lieber ANH, ist doch wohl wieder die Folie BRD in den 70ern und 80ern mit dem Tatort“-Kult, denn die Schauspielerin Karin Anselm stellte doch wohl, erinnere ich recht, die erste Tatort-Kommissarin Wiegand dar!?

      – Und Murnau: Das ist doch wohl die Anspielung auf den Filmemacher und seinen Nosferatu (bzw. Max Schreck)?

      Aber auch wirklich Schönes (wie bisher immer wieder auch, aber man gewöhnt sich daran und berichtet es nicht immer mit), wie z.B. der Gimpel, der Kartoffeln schlürft: Damit die Kartoffelkiste vom Prolog leer wird? Der Gimpel, der durch den Wald schnellt „mit den Bewegungen eines hier vertrauten Wildes“. Oder wie z.B. die Beschreibung des verwitterten Wolpertinger-Hotels, in welches immer wieder Touristen von den Kobolden zu Partys entführt werden, in der Sprache der Erzähler des 19. Jahrhunderts (S.972: „Manch Wanderer stand einst …“). Die Wiederholung der Bauplatzszene (S. 984) vom Anfang (S. 18, also vor mehr als 960 Seiten!): Deters ist (auch nun für mich erkennbar) wieder an Ausgangspunkt zurück, die Zeit hat sich gebogen; – aber vor allem habe ich noch nie eine so poetische Beschreibung einer Baustelle gelesen! Kompliment!!

      Gleichwohl, eine in sich geschlossene Ordnung des ganzen konnte ICH für mich nicht herstellen, habe es aber auch nicht sklavisch versucht. Ist die Welt Wirklichkeit, ist sie Schimäre? Ich habe mich damit begnügt zu wissen, es gibt einen roten Faden, ich weiß nur nicht immer ganz genau, welchen. Aber, lieber Alban Nikolai Herbst, Sie erwarten das auch nicht, oder? Der Roman ist trotzdem als solcher erfahrbar? Ich frage das mit Blick auf die eine Figur mit degenerierten Sprachgebrauch: Hotel Wolpertinger oder Hotel Andreesberg in den Zeitebenen – „Pissegal, kann sowieso keine Sau auseinanderkriegen!“ (S. 962).

      Herbst lesen ist wie wenn man sich mit einem Spiegel in der Hand im Spiegel spiegelt: Viele tausend Mal sieht man sich. So ist das mit seinen Figuren auch, die mal so heißen und sind und mal so, und mal auf der ersten Erzählebene angeordnet sind und agieren, dann auf der zweiten und dort identischen Handlungen vornehmen (oder auch ganz andere) an oder in identischen Orten, die genauso heißen oder ganz anders, mal auf der dritten Erzählebene, auf der vierten, fünften und zurück und von vorn. Ästhetisch ist die Konstruktion Lesegenuss, intellektuell komme ich nicht immer mit. Muss aber auch nicht sein. Viele Begriffe, Plots, Szenen in David Foster Wallace’s „Unendlicher Spaß“ (oder in Johnsons „Mutmaßungen“) konnte ich auch nicht verstehen oder zuordnen, ich habe es einfach hingenommen und weiter gelesen. Es hat meinem Gesamtverständnis und meinem Lesegenuss keinen Abbruch getan.

      Aber Fiktion und Realität verschwimmen dadurch. So wie in DieDschungel ja auch, was mir vor einiger Zeit besonders auffiel, als SIE, ANH, von dem Fahrer des Profis „berichteten“ (?) und von der Unterhaltung mit dem Profi darüber, ob der Fahrer denn nun im Rotlichtbezirk war und das wirklich so gesagt hatte, wie es in DieDschungel nachzulesen ist. Da habe ich die Prosa von in Amos Oz in „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ besser verstanden, auch dort ist nicht klar (und unerheblich für Gehalt und Schönheit der Darstellung), ob eine bestimmte Tante an einem bestimmten Ort zu einer Zeit denn nun „wirklich“ das getan und gesagt hat, wie es nachzulesen ist, oder ob es diese Tante vielleicht gar nicht gibt.

      Letztlich hat sich dann der Wolpertinger doch für mich, den Laien (!), befriedigend zu einem einheitlichen Bild gefügt: Die Unterscheidung, oder besser: die Vermischung von Realität und Fiktion entspricht der von Mythos und Logos, von Geisterwelt und realer Welt; und da „die Geister in die Maschinen müssen“ (S. 828) und die Menschen in die Natur müssen, um wieder einheitlich und eins zu sein, um zu „überleben“, ist es in der sprachlich-konstruktiven Ausführung nur konsequent, dass die Unterscheidung zwischen Wahn und Wirklichkeit schwer fällt.

      Ob’s richtig ist? Ob’s hilft?

      Beste Grüße

      NO

    64. @Dr. No zum Wolpertinger und seinem „Ende”. Lieber Dr. No,

      sehen Sie sich vor! Es ist nicht gewiß, daß Deters „als Tier”, wie Sie schreiben, im verfallenen Hotel bleibt. Das ist nur e i n e der Möglichkeiten: das Buch hat nicht grundlos d r e i Epiloge – und einen vierten Epilog schreibt ihm fünf Jahre später >>>> THETIS hinein (ich verlinke mit Grund auf meine Antwort an Frau Torik). Daß Deters im verfallenen Hotel bleibt, und wie, ist nur die eine berechtigte Lesart.

      „Welt am Draht” wird in THETIS wiederaufgenommen, Neo und Trinity gab es damals noch nicht, die nahm wiederum i c h vorweg, allerdings ohne Erlöser-Einheit. Ich bin da Cronenberg näher (>>>> „eXistence”). Die Themen liegen in der Luft, lagen schon damals in der Luft. Es sind logische Themen, die uns unsere Gegenwart vorgibt. Nein, das kam nicht erst nach Erscheinen dieses Romans, aber dieser Roman ist einer der ersten, der das Thema behandelt: das heißt: in künstlerische F o r m übersetzt, also das Thema nicht nur als „Plot” nimmt.

      Ja, Joschka Fischer.
      Ja, ein(e) Phantom

      …dort erschien mir das Bild von der Nitribitt (und dem roten Mercedes-Cabrio); das ist sie doch wohl hier? Oder setzen Sie, lieber ANH, der großen Nina Hoss ein Denkmal? Keiner von beiden. Ich bin mir nicht sicher, aber es scheint mit ein französischer Spielfilm gewesen zu sein, der die Fantasie anstieß. Andererseits, aber da war ich ein noch ein Junge, war die Nitribitt bei mir zuhause ein ziemliches Thema. Ich erinnere mich daran, wie man sich an Gerüche erinnert, Gerüche von vor Jahrzehnten…– Es taucht „die Löwin“ auf, die ja wohl auch heute noch durch Ihre „Die Dschungel“ geistert?Ganz sicher: eine andere, nämlich k o n k r e t e, im Frankfurter Zoo.

      Karin Anselm: J a.

      Und Murnau: Das ist doch wohl die Anspielung auf den Filmemacher und seinen Nosferatu?Nein, sondern das ist mir „unterlaufen” – ebenso, wie ich auch in THETIS jemanden „Beutlin” benamst habe, ohne an den Herrn der Ringe zu denken – was ich schon deshalb nicht tat, weil ich den Roman erst lange nach THETIS gelesen habe, und zwar mit meinem Jungen. Aber „Murnau”… ich weiß genau, daß der Name aus dem ursprünglich vorgesehenen „Murne” entstand; das ist mir dann aber zu nahe an „Urne” gewesen.dir>Damit die Kartoffelkiste vom Prolog leer wird?Ist mir nicht eingefallen, aber das scheint mir eine klasse Interpretation zu sein.

      Wegen der Baustellen: die haben mich immer schon angezogen und fasziniert; das dürfte einer der Gründe dafür sein, weshalb mich Berlin sofort so erfaßt hat… also nach 89.

      Gleichwohl, eine in sich geschlossene Ordnung des ganzen konnte ICH für mich nicht herstellen, habe es aber auch nicht sklavisch versucht. Aber, lieber Alban Nikolai Herbst, Sie erwarten das auch nicht, oder?Nein, erwarte ich nicht, obwohl es keinen Faden gibt, der nicht verknüpft wäre. Wirklich nicht einen einzigen. Der Roman ist trotzdem als solcher erfahrbar?Ich glaube, Sie h a b e n ihn erfahren.Herbst lesen ist, wie wenn man sich mit einem Spiegel in der Hand im Spiegel spiegelt: Viele tausend Mal sieht man sich.Oder eben viele tausend Mal sich in den Figuren und die, das ist mir wichtig, als Sie in sich.Ästhetisch ist die Konstruktion Lesegenuss,Es tut mir sehr gut, das zu lesen. Danke. intellektuell komme ich nicht immer mit. Muss aber auch nicht sein.Ich glaube nicht, daß das eine Frage der Intelektualität, vielmehr eine der Zeit ist, in der man gerade liest. Sehr wahrscheinlich, wenn Sie später einmal wieder zum Wolpertinger greifen würden, läsen Sie ganz anderes, jedenfalls wäre anderes betont.Da habe ich die Prosa von in Amos Oz in „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ besser verstanden, auch dort ist nicht klar (und unerheblich für Gehalt und Schönheit der Darstellung), ob eine bestimmte Tante an einem bestimmten Ort zu einer Zeit denn nun „wirklich“ das getan und gesagt hat, wie es nachzulesen ist, oder ob es diese Tante vielleicht gar nicht gibt.Später habe ich das Verfahren >>>> Möglichkeitenpoetik genannt. Diese Möglichkeiten werden jede für sich als „wahr” erzählt, auch dann, wenn sie einander nach dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten widersprechen. Ganz früh schon hab ich das formliert: daß es in Kunst darauf ankomme, den Satz vom ausgeschlossenen Dritten zu widerlegen. Nur dann nämlich, wäre das möglich, gäbe es Freiheit.

      Und d a z u einfach: – „ja!”:

      Die Unterscheidung, oder besser: die Vermischung von Realität und Fiktion, entspricht der von Mythos und Logos.Doch ob das hilft, das weiß ich nicht.

      Ich bedanke mich bei Ihnen für einen solchen Leser.

      Ihr
      ANH
      Herbst & Deters Fiktionäre

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