Von Schuld & Eskapismus. Guths Juliette von Martinů nach Nerveux an der Staatsoper im Schillertheater Berlin. Dirigiert von Barenboim.


[Fotografien (©): >>>> Monika Rittershaus]



Imgrunde kehrt Claus Guths Bohuslav Martinůs nach einer Erzählung >>>> Georges Neveux‘ komponierte Oper Juliette um, nämlich gibt ihr einen von den Surrealisten gerade gemiedenen realistischen Boden. Denn der Mord (juristisch eher, da aus dem Affekt, Totschlag) geht hier nun der Fabel voran, so daß die surrealistische, sagen wir, Allegorie zu einer Art Studie über Verdrängung wird. Ich möchte sie eine Schuldflucht nennen. Die nun aber gerade nicht im Sinne Neveux‘ war.
Die „eigentliche“ Geschichte geht so: Der Pariser Kunsthändler Michel kommt in eine kleine Stadt, weiß sich kaum zu erinnern, hat aber die Sehnsucht nach einer Frau, die er dort einmal in einem Fenster sah, woraufhin er sich bleibend in sie verliebte. In sich nannte er sie Juliette und sucht sie also nun. Dabei begegnet er verschiedenen Menschen, die sich alle nicht, an nichts, erinnern können. Dennoch findet er Juliette, aber sie entspricht nicht seiner Imagination; das nimmt seiner Liebe aber nichts.
Die beiden kommen tatsächlich zusammen. In einem Wald aber, anläßlich ihrer beider in Streit übergehenden Rendezvous‘, erschießt er sie. Die Leute strömen zusammen, wollen ihn richten, doch er weiß es abzuwenden, indem er ihnen von etwas erzählt, das sie ja alle nicht mehr haben: eine Erinnerung. In der indes löst er sich selbst auf und kommt im dritten Akt aus dieser seinen Fantasie in einem „Zentralbüro für Träume“ wieder zu sich, wo sich zeigt, daß imgrunde alle männlichen Liebesprojektionen Juliette heißen: Der Name (aber nicht die Person!) steht für die idée fixe Berlioz‘ oder sagen wir für die erotische Anima-ansich. Doch da man ihr „tatsächlich“ nur im Traum begegnen, erst recht sich mit ihr nur in einem solchen vereinigen kann, ist für Neveux‘ wie für den Surrealismus insgesamt der Dauerzustand somnischer Entrückung, den ein „normale“ Mensch Wahnsinn nennte, erlösend. „Entsprechend ist das Ende keine Katastrophe,sondern ein surrealistischer Glücksfall“, schreibt im Programmheft Ivana Rentsch.
Guth indes sieht Eskapismus darin.



Darf man das, die Aussage einer Fabel derart verkehren?
Sicher. Denn was ist ‚verkehrt‘? Es geht bei Regie um Interpretation, nicht ums Affirmieren, bzw. bloßes Durchexekutieren von Handlungsanweisungen. Freilich sollte vorausgesetzt werden, daß das Publikum die Grundgeschichte kennt und die Umwertung also verstehen kann – und eben auch, weshalb Guth die Pistole, die bei Neveux/Martinů erst im zweiten Akt auftaucht (was in Träumen ja geht: plötzlich hat man sowas in der Hand), von Anfang an zu einem bildlichen Leitmotiv macht; es wird im Lauf des dritten Aktes geradezu bedrohlich inflationär, aus der einen Waffe werden zunehmend mehr: Permanent fallen da diese Pistolen aus den kassettenartigen Tafeln, die den Raum tapezieren, der die Stadt vorstellen soll. Diese wird imgrunde als eine (Anstalts?)Zelle gezeigt; allerdings läßt sich das Bild auch konzeptuell verstehen, was dem rationalistischen Regieansatz entspräche und dennoch die andere Lesart nicht ausschließt. Erst der dritte Akt verungefährt sich in ein surreal Unkonkretes, indem die Stadt sich so weit nach links zurückrückt, als schaute man umgekehrt durch ein Fernrohr, und in ganzer Breite und Tiefe davor in wallendem Nebel gespielt und gesungen wird.


Interessanterweise bekommt dieser Einfall etwas viel Realistischeres, gerade in seinem Schwebenden, als die konkrete Zelle hatte, in der sich die Protagonisten auch noch sehr seltsam bewegen. Oft zucken sie, nicht selten haben sie etwas spastisch Zappelndes wie in >>>> triadischen Balletten, was den Eindruck des Traumhaften verstärken soll, aber eher bizarr wirkt. Zumal es auch, und sogar besonders, für Michael gilt, der doch anfangs fremd in dieser Stadt ist – also als ob auch er seine Erinnerungen längst verloren habe, deren eine er aber doch hinterjagt. An diesem Widersprich krankt die Glaubwürdigkeit der Interpretation ein bißchen, weil so die psychologische, bzw psychiatrische Studie zur technoiden Gesamtgroteske wird: Es hampeln Marionetten. Insofern ist eine wirkliche persönlich-identifizierende Empathie nicht eigentlich möglich.
Das wird durch Rolando Villazóns Neigung zur mimischen (komödiantischen) Übertreibung noch verstärkt; für meinen Geschmack hätte es gutgetan, ihn im Interesse der Rolle hie und da nachdrücklich an die Kandare zu nehmen; sie, die Übertreibung, mag zwar anschaulich machen, stört aber doch sehr die Glaubwürdigkeit.
Entsprechend übertrieben showhaft war nachher seine Entgegennahme des Applauses; und wie er die grandiose Magdalena Kožená immer wieder nach vorne schob, als wollte er auch ihr einen besonderen Anteil gönnen, abgesehen von seiner permanenten Handküsserei, hatte etwas unangemessen Gönnerhaftes, auch wenn er‘s in so gespielt jugendlicher wie freundschaftlicher Burschikosität tat. Bescheidenheit ist seine Sache offensichtlich nicht, mußte es allerdings auch nicht sein, gab ihm „sein“ Publikum fanhaft jubelnd zu verstehen. Da störte es auch nicht, daß Villazón, wenigstens in der von mir gesehenen Premiere, sogar das Orchester dominierte – was an seinem äußerst präsenten, wenn auch nicht immer klangschönen, hin und wieder sogar jammernden, weil scharf gepreßten Tenor liegt; die Stimme war quasi tiefenlos – völlig anders als Kožená, deren Klangweite ihre surreale Partie mehr als nur füllte, in der direkten Begegnung mit Michel aber ebenso notwendig eng wird: wie die Rolle es da braucht, nämlich mädchenverschwärmt oder, als sie auf Widerstand stößt, so zickig, daß sich der Träumer Michael nur noch mit diesem verhängnivollen Schuß zu „wehren“ weiß – wobei Martinů und Niveux offenlassen, ob nicht auch er eigentlich nur imaginiert ist.


Es stellt sich für Guths Interpretation noch eine andere, „eigentliche“ Frage: Indem er die Geschichte zum konkreten Fallbeispiel einer Schuldverdrängung macht (entsprechend zitiert das aufwendig gemachte, wieder einmal ausgezeichnete Programm„heft“auf dem unteren Fünftel einige Seiten aus Dostojweskis Rodion Raskolnikov), wird die sozusagen allgemeine Frage entschärft, inwieweit nicht immer, oder doch mindestens oft, das Liebesobjekt ein projeziertes ist, das mit der tatsächlichen Person „nur“ in Teilmengen übereinstimmt – woraus sich dann, ohne freilich gleich mit einer Erschießung zu enden, notwendigerweise Konflikte ergeben. Ich meinerseits hätte, dem nachzugehen, favorisiert, zumal durch die gestisch outrierende Überzeichnung „der Mensch“ Michel von Anfang an nicht wie ein konkreter wirkt, sondern eben wie ein triadischer Typos – eine Vorführpuppe, mit der sich nicht mitfühlen läßt. Auch wenn in den letzten Jahren Martinůs nach ihrer Uraufführung höchst selten gegebene Oper auf einigen Spielplänen auffällig oft aufgetaucht ist, eine „wirklich“ Chance, in die lebendige Musikgeschichte einzugehen, hätte sie meines Dafürhaltens nur dann. Das Zeug dafür bringt sie mit – gerade im leitmotivischen Sehnsuchtsthema, das sich freilich von Szene zu Szene immer wieder anders gestaltet – und nicht zuletzt auch in den traum-, bzw. erinnerungshaften Akkordeonpartien, die etwas von einem Licht am aber nicht Ende des Tunnels haben, sondern es leuchtet fern, doch mittendrin.
In jedem Fall gut war, daß sich Barenboim und Guth – nach im vergangenen Jahr Zürich – für die französische Fassung entschieden haben, die die ursprüngliche war; die tschechische entstand erst nachher, als es zur geplanten Pariser Uraufführung nicht gekommen war. Ich selbst habe hier auch noch einen deutschsprachigen Mitschnitt der Salzburger aus den Achtzigern, unter Pinchas Steinberg, die tatsächlich noch ergreifender ist. Überhaupt fällt gerade an der Juliette, bzw. in den anderen Fassungen Julietta, der Einfluß des sprachlichen Idioms auf den Melos extrem auf; ein ähnlicher „Fall“ ist, für mich, >>>> Verdis Don Carlos.


Martinůs Musik nimmt Tendenzen der Dreißiger auf und führt sie in ein weniger impressionistisch als expressonistisch wirkendes, rhythmisch von heller Trommel und bisweilen dem Xylophon angetriebenes Laufrad, aus dem niemand mehr herausspringen kann – bei Guth eine endlose Wiederholung psychischer Gefangenschaft; um so mehr, als die große Traumzszene des Dritten Aktes, im Zentralbüro für Träume, nun wie die eigentliche Realität wirkt. Die Entscheidung aufzuwachen, dann aber das Objekt des eben nicht nur libidinösen Begehrens für alle Zeiten zu verlieren, ist indes eine nur scheinbar mögliche. So bleibt Michel bei Guth eben in i h r hängen, nicht etwa in seiner Traumwelt-selbst – die sich zwar szenisch wiederholt, aber entfernt in der zum Guckkasten gewordenen Zelle und betrachtet von ihm selbst, der sich insofern nun, im Nebel (!!) stehend, in ein zweites Ich abgespalten hat und ohne Kontakt selbst zu seinem Traum bleibt – das imgrunde fürchterlichste Ergebnis, das sich hier denken läßt. Überdies erweist er sich als nur einer von Hunderten, ja Tausenden, die alle um ihre Eine Julietta flehen.
Barenboim läßt sein Orchester diese expressiven Momente der Musik deutlich betonen, ohne aber dabei exzessiv zu werden; gleichsam geht er vornehm damit um. Das formt das un|terlaufende Melancholische (oder, besser, Lyrische) – völlig anders als das aufs Groteske ausgerichtete Spiel. Bisweilen erinnern die musikalischen Phrasen und besonders das Sehnsuchtsthema an Motivgesten, Barenboim wird es nicht gerne lesen, Othmar Schoecks, manchmal auch an, das wird ihm wieder gefallen, Janácek. Und es bestehen Verwandtschaften zum Frank Martin des >>>> Vin herbés. Eine größere Entfernung zur handfesten Melodie-, ja Gassenhauerorientierung etwa Puccinis ist jedenfalls im Feld der Tonalität kaum denkbar. Dabei liegen zwischen dessen, Puccinis, letzten Arbeiten und der Julietta keine zwanzig Jahre, ganz wie zu Bretons Surrealistischem Manifest; auch läßt sich Martinůs Oper wie schon der Surrealismus selbst als, bei Martinů zeitversetzte, Antwort auf die >>>> Neue Sachlichkeit begreifen, auch wenn sie eben, wie diese, auf Schmelz weitgehend – und bewußt wohl – verzichtet. In der Premiere jedenfalls war dieser Schmelz Tenorgeplärr. Zur Rolle freilich eines tatsächlichen Mörders, oder cholerisch ausgerasteten Totschlägers, paßt das; insofern hätte Guth für den Michel einen besseren Sängerdarsteller als Villazón gar nicht finden können, indes die Flexibilität der großen Stimme Koženás sich jeder Interpretation einzuschmiegen wüßte – ja in jeder für das Traumobjekt stünde, das Julietta i s t – die Anima der in Schlaf- und Halbschlaf träumenden Männer, der keine konkrete Frau jemals zu entsprechen vermag.



Bohuslav Martinů
J U L I E T T E

Lyrische Oper in drei Akten von Bohuslav Martinů H. 253
Text von Bohuslav Martinů nach Georges Neveux

Inszenierung Claus Guth Bühnenbild Alfred Peter Kostüme Eva Dessecker
Choreographie Ramses Sigl Licht Olaf Freese Dramaturgie Yvonne Gebauer und Roman Reeger

Magdalena Kožená – Rolando Villazón – Richard Croft – Thomas Lichtenecker – Wolfgang Schöne – Elsa Dreisig – Adriane Queiroz – Arttu Kataja – Jan Martiník – Natalia Skrycka – Florian Hoffmann
Staatskapelle Berlin
Staatsopernchor
Daniel Barenboim

Die nächsten Vorstellungen:
05. Jun 2016 | 19:30 UHR
07. Jun 2016 | 19:30 UHR
10. Jun 2016 | 19:30 UHR
14. Jun 2016 | 19:30 UHR
18. Jun 2016 | 19:30 UHR

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3 thoughts on “Von Schuld & Eskapismus. Guths Juliette von Martinů nach Nerveux an der Staatsoper im Schillertheater Berlin. Dirigiert von Barenboim.

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