PREMIERE. Eine kleine Sensation ODER Aus allernahster Ferne. Katie Mitchells Inszenierung von Frank Martins Tristan-Erzählung „Le Vin herbé“ an der Staatsoper im Schillertheater Berlin.

[Fotografien (©): >>>> Hermann und Clärchen Baus.
Fotos im Saal, vorm TRAFO Berlin & am Schreibtisch: ANH/iPhone.]


Zum ersten: Mit dieser Aufführung fand der Saal des Schillertheaters-als-Musikbühne zu sich.

Ja, es ist beinah nicht zu fassen, von welcher Eignung er sich plötzlich als ein wirklicher Klangraum erwies, nunmehr, mit diesem Stück, dessen orchestrale Besetzung doch denkbar ausgedünnt ist, so sehr, daß jeder einzelne Musiker genannt werden kann – und nach dieser Premiere auch sollte – , sieben Streichinstrumente und ein Flügel vor dem Dirigenten Franck Ollu: Lothar Strauß, Barbara Weigle, Yulia Deyneka und Matthias Wilke, Sennu Laine und Claire So Jung Henkel, Matthias Winkler, Sarah Tysman – – einfach nicht zu fassen, welch eine Klangfülle sich im Saal erhob, daß es wirklich auch laut werden konnte, mit der kompositorischen Einschränkung freilich, die Frank Martin niemals auftrumpfend werden, sondern immer geradezu vornehm gebunden sein läßt, dabei höchst konzentriert auf den Fluß des musikalischen FortGangs eines, der Auffassung des Mittelalters gemäß, unabänderlichen Geschicks, das sich in diesem Stück, in dieser hier tatsächlich Legende, erfüllt und wiedererfüllt. Nicht Überwältigung soll die von Martin doch durchaus gemeinte Klärung – Reinigung – der Hörer:innen bewirken, sondern ihr aufnehmendes, doch stets bewußtes Mitfließen und Betrachten; man kann, besonders in Katie Mitchells Inszenierung, von einem befreiten Brecht sprechen, vielleicht auch von einem um die Transzendenz erhöhten, in die das nicht im Ritual erstarrte, sondern noch empfundene Gebet finden will, da nämlich, wo es Meditation ist. Nur in diesem Sinn schreibe ich von einer kleinen Sensation; de facto ist es eine große, die aber „still für sich selbst“ ist, ginge es eben nicht um Musik, die laut wird und, bei Martin, sowohl Mär als Moritat ist. Der Komponist spricht davon, sie sei wie Kulissen eingesetzt; auch das verweist auf den epischen Charakter des Stücks und bedeutet, daß die Sänger:inn:en immer nur darstellen, nie aber sind, was sie darstellen, nie für immer („immer“ als die Dauer der Aufführung insgesamt verstanden). Genau so behandelt Mitchell sie in den Szenen auch:

Die Personen lösen sich aus dem beinahe antiken Chor, treten als jemand hervor, die und den die Allegorie des zu Geschehenen ergreift, durch den sie hindurchzieht, und treten in den Chor – die, quasi, „große Verbindung“ – wieder zurück, sowie ihr Geschick sich erfüllt hat. Deshalb gibt es weder bei Martin noch bei Mitchell eigentlich „Stars“, deshalb auch kann es im Publikum nicht zur Erschütterung kommen, nicht zur großen Ergreifung, schon gar nicht zu Tränen der Rührung – man muß denn diese Musik wieder und wieder und wieder hören, bis man tief in ihre Binnenstrukturen und das geradezu Verhängnisvolle ihrer Repetitionen eingedrungen ist; erst dann nämlich werden die Möglichkeiten arioser Großartigkeiten gespürt, die hinter denen, sagen wir, Wagners, Puccinis, Verdis nicht zurückstünden, wäre Martin denn deren Wege gegangen. Sie gehören aber nicht zu seiner Strenge; es bleibt an uns, sie zum Beispiel in den gestischen Beharrungen des Klaviers zu ahnen oder in den halb überlappenden Nachseufzungen der Streicher, mit denen sie Sangespartien von den Sängern gleichsam abnehmen und fortführen, nicht selten wie eine Levitation; kurz dringen sie hinein, klingen mit etwas Zögern wie ein paralleler Mit- und Untergrund, aber lösen den Sangpart schon ab, stehen singend, instrumental, allein, und oft übernimmt dann, aus ihren Händen, wieder der Chor.

Das ist, von den Zäsuren der jeweiligen Übergänge von Stück zu Stück, eine, auf seine Weise, a u c h unendliche Melodie, doch ohne irgend ein Auftrumpfen, ohne selbstbefeierndes, dem melodischen Einfall “da capo, da capo!” zujubelndes und ihn wieder- und wiederholendes Brusttrommeln eines genialen Gorillas, der den Nebenbuhler einschüchtern und davondrohen will, – aber auch ohne das Bohrende der bühnenpsychologischen „Analyse“, in deren Verlauf die schließlich von Alkohol und Selbstmitleid zerlösten Charaktere auf Klo Etiketten von Weinflaschen kratzen, will sagen: ohne jeden zersetzenden Exhibitionismus. Sondern Martins Musik wahrt die Entfernung und damit das Legendäre seines Stoffs. Ob wir uns selbst in ihm erkennen, ist an uns selbst gelassen. Wer sich auf diese Musik konzentriert, wer sich nicht von großen Gesten überwältigen lassen muß, sondern in die Binnenstrukturen des Klanges sinkt, dem eröffnet sich fühlbar eine ganz andere Gestik: Mitleid wird zur Tätigkeit, ist, kulturindustriell-kritisch gesprochen, keine künstlich erzeugte, um die Kassen zu füllen. Unter anderem daran liegt es, daß Frank Martin nicht das ist, was man einen wirklich berühmten Komponisten nennen kann. Und unter anderem deshalb wäre der gestrigen Premiere beinah die Champions League ein Unheil geworden; es hat, hörte ich, einige Anstrengungen gegeben, den Abend vor ihm zu bewahren.
Das gelang wahrscheinlich auch, weil Katie Mitchell in Berlin keine unbekannte Regisseurin mehr ist – seit dem der Staatsopernleitung selbst überraschenden, so berechtigten wie riesigen Erfolg ihrer >>>> Inszenierung von Nonos „Al gran sole“ im TRAFO, dem aufgelassenen Berliner Kraftwerk Mitte:

Spätestens seitdem, seit März 2012, wissen wir, daß auch sehr sperrige Stücke, die keineswegs den bequemen Hörgewohnheiten und -wünschen entsprechen, wahre Renner werden können, die dann leider, aus Gründen mangelnden Muts, bzw. durchaus berechtigter finanzieller Sorge viel zu früh abgesetzt werden. Freilich fehlt der Inszenierung des Vin herbé das Spektakuläre des Aufführungsorts; auch diesbezüglich bescheidet sich Martin, nicht ohne aber daß es sehr wohl Verbindungen gibt. Zwar verlegt Mitchell das Stück in ein seiner Entstehungs- und Uraufführungszeit (1942) entsprechendes Szenario, nämlich ein, erzählt der Programmflyer, kriegszerstörtes Theater, worin eine Aufführung eben dieses L Vin herbé geprobt werde, aber der Ort des Geschehens könnte ebensogut irgend ein kriegszerstörter französischer Salon sein; es spielt für die Darstellung ebenso wenig eine Rolle, wie daß „nur“ geprobt werde. Aber die Ästhetiken der Orte – dort die reale quasi musealisierte Ruine des ehemaligen Kraftwerks, hier das gebaute Bühnenbild – ähneln einander, und so ist Katie Mitchells Inszenierungs-Ästhetik imgrunde dieselbe. Das wird von dem Umstand unterstrichen, daß es sich in beiden Fällen um für das Handlungstheater modifizierte Oratorien handelt; Martin selbst stand einer szenischen Realisierung seines Stücks zeitlebens skeptisch gegenüber; keine, die er sah, habe ihn je überzeugt, teilt Uwe Schweikert im Programmheft mit. Hätte der Komponist Mitchells Inszenierung noch sehen dürfen, er hätte seine Ansicht ganz gewiß geändert. Denn wenn Mitchell ihr in ihrer Nono-Inszenierung doch manches szenisch zu grob, ja eigentlich unszenisch geriet, quasi gestische Agitation wurde, wird ihr chorischer Stil hier zu ständig neuen Tafelbildern, gleichsam menschlichen Stilleben, die fließend ineinander übergehen, und zwar mit den allereinfachsten Verwandlungsmitteln; eine quer über das Bühnemvordre gespannte, von zwei der Sänger gehaltene Leine wird zur Reling eines normannischen >>>> Nefs

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das Wehen des Haares im Wind wird von einem von einem Sänger gewedelten Kurzbrett bewirkt, und wenn das Schiff rollt, hebt man je seitlich den Tisch und senkt ihn wieder; der in den Achteln der Musik gemalten Dünung sekundiert der Chor mit langsamem Schunkeln; und daß das Stück eines um den Tod ist, zeigt ständig – und ständig simultan – der als ein zerstörter aufgebaute Bühnenraum. Wobei die Nähe von Bühne und Saal auch ganz feine Inszenierungsgriffe erlaubt, die Frau Mitchell hätte im Kraftwerk gar nicht umzusetzen können.
Plötzlich füllen sehr kleine Gesten ganze Minuten – und auch kleine Requisiten, um an das Spiel der Tücher zu denken, das sie hier von einem breiten gespannten Tuch als das Segel über das Tisch- und schließlich Leichentuch bis zu dem Tücherl durchdekliniert, das den Bräuten je als Hochzeitschleier über den Kopf gelegt wird – alle, alle in Weiß, das für Tristans Hoffnung steht, als er die Geliebte auf seinem Sterbebett erwartet. Und sie kommt auch, doch zu spät:

Es ist von einer ungeheuren Konsequenz, daß das schwarze Segel allein in der Behauptung von Tristans später Gattin Realität wird, also allein in seiner Fantasie. Da aber verlöscht – unmerklich geradezu; man ist schockiert, als es plötzlich fehlt – das Feuer, das in der Mitte des Bühnenhintergrunds allerzeit geflackert hatte: Erinnerung an die Kamine des Mittelalters, aber auch an die offenen Feuer der Kriegs- und Nachkriegszeiten, die in Blechfässern brannten, Sinnbild gleichzeitig des Überlebens wie der lohenden Liebe des Paars, das nun sein Dasein hinweggibt. Sein Leid war, daß es nie sein durfte, die Hoffnung aber, die es über all die Jahrhunderte bleibend vermittelt, daß es dennoch war.
Kaum ein schöneres Zeichen ist die Richard Wagner wahrscheinlich zu bescheidene, Frank Martin indessen nahe, weil grad in ihrer Märchenhaftigkeit strenge Sage, es sei, nachdem die Liebenden je zur Seite einer Apsis zu letzten Ruhe gebettet, aus Tristans Grab eine Brombeerranke hinüber zu dem der Isolde gewachsen, habe sich in es hineingesenkt und sei, trotz mehrfacher Versuche, es auszuroden, zu einem Buschgestrüpp gewachsen. Das ist auch formal streng; bereits im vierten Bild erzählt der Chor, Tristan sei nach dem Liebestrank gewesen, als hätte „ein wilder Brombeerstrauch mit spitzen Dornen und duftenden Blüten (…) seine Wurzeln in seines Herzens Blut“ versenkt; ein bißchen schade, daß das Programmheft nur die deutsche Übersetzung und nicht auch das französischsprachige Original des Librettos an die Hand gibt. Ich nehme an, das hat Urheberrechtsgründe, für die wie so oft ein Urheberwille nichts zählt; bei Nono waren das italienische Original und die deutsche Übersetzung noch zu vergleichen. Aber es gibt ja das Netz – Alors!:

Il semblait à Tristan qu’une ronce vivace, aux épines aigües, aux fleurs odorantes, poussait ses racines dans le sang de son cœur et par de forts liens enlaçait au beau corps d’Iseut et toute sa pensées et tout son désir.Und am Schluß:Mais pendant la nuit, de la tombe de Tristan jaillit une ronce verte et feuillue, aux forts rameaux, auc fleurs ororantes, qui s’élevant par-dessus la chapelle, s’enfonça dans la tombe d’Iseut.

Anders als Wagner bezieht sich Martin auf die „Urlegende“ Tristans und Isots, darin dem grandiosen „Faust“ Ferrucio Busonis ähnlich. Anders als Wagner deshalb wird die Zeit des wilden Lebens, nach der Flucht aus König Markes Burg, miterzählt, die Entbehrungen der Liebenden, die neben allen zu erwartenden Härten auch Entbehrungen der Liebe sind: gegen eine abermalige Vereinigung stehen Lehenstreue und Ehre; zwischen beiden, eine jede Nacht, liegt nicht nur trennend das Schwert, sondern auch die Gewissensnot darüber, unschuldig schuldig geworden zu sein.

In dieser Phase zeigt sich einmal mehr die in ihrer Einfachheit geradezu geniale Fähigkeit der Regisseurin, die zuhandensten Gegenstände symbolisch und zugleich konkret verwandeln zu können: Sowohl die Flucht des Paars als auch Tristans Irrwege im Wald werden auf Stühlen vollzogen, über die man wie über Felsen, Baumstümpfe, klaffende Abgründe steigt.

Was allzu oft, und oft von mir beklagt oder verspottet, pure Bühnenmätzchen sind (meine Oma: „Das soll jetzt so was sein“), gerät unter Frau Mitchells Händen zu geradezu naturalistischen Innenbildern der gemeinten Szenen. Überhaupt nichts in dieser Inszenierung ist überflüssig oder nachlässig; es gibt rein keinen Einfall, der nicht aufs seelenhafteste direkt mit dem Stück verbunden wäre; nirgends, nicht einmal sekundenlang, drängt sich aufgesetzte Ideologie oder Meinung vor, alles wird aus der Musik und dem Libretto entwickelt – wobei es gerade deshalb ein kleines bißchen stört, wenn das Libretto davon spricht, Isolde habe ihren Arm auf Tristans Schulter gelegt, in der Szene legt sie aber die Hand auf; in diesen Zusammenhang gehört auch, daß Isolde „die Blonde“ genannt, Anna Prohaska, ihre Sängerin, aber dunkelhaarig ist; insofern nämlich die zweite Isolde, „die Weißhändige“, Tristans spätere Gattin, ebenfalls blond ist, geht eine Innenspiegelung der Erzählung verloren. Wirklich schlimm ist das selbstverständlich nicht, es sei denn, es mangelt einem an Imaginationskraft. Zumal wir mit ganz anderen, abermals leisen, fast zufälligen, Großartigkeiten mehr als nur entschädigt werden: etwa wenn es zur wie zufälligen ersten Berührung der Liebenden kommt. Sie legt eine ihrer Hände auf seinen Oberschenkel und er, geradezu unmerklich, deckt sie gleichsam schützend mit einer der seinen zu. So etwas, in dieser Diskretion, geht nur in einem Kammerspiel.

Später sinkt sein Kopf auf ihre Schenkel, und sie, das Mädchen, wird zur Mutter, die über sein Haar streichelt. Ebenso diskret-innig die ganze erste – und einzige – Liebesvereinigung der beiden, die, wie die „Mutter“szene, nahezu sexualfrei ist, obwohl ein Akt gezeigt wird. Jedes Moment eines gierigen Begehrens läutert sich nahezu sofort ins auf die Ewigkeit – und schon damit auf den Tod – zielende Zusammengehören – eine Auffassung, in der Frank Martins protestantische Prägung ebenso künstlerische Gestalt wird wie in seiner kompositorischen Strenge. Man muß das nicht mögen, den damit idealisierten Asketismus nicht mögen, um dennoch begreifen zu können, daß wahrscheinlich gerade dieses Element die Legende von Tristan und Isolde hat durch alle Jahrhunderte ebenso präsent bleiben lassen wie aus Platos Gastmahl den Kugelmythos.
In der Tat bewahrt die Idee der unbedingten und immerwährenden Vereinigung unsre tiefsten Kinderwünsche; damit hat sie Teil an der Kraft der Utopie. Genau das wird er gemeint haben, wenn Martin über seinen Tristan schreibt: „daß auch der Tod darin seinen Frieden bringe, nach all den Beglückungen und Ängsten der Leidenschaft“. Daß er von Frieden, nicht etwa von Erlösung spricht, hält sein Le Vin herbé von jeder ideologischen Weltverneinung frei. Unterm Strich wurde einfach eine Geschichte erzählt, die zum einen nicht auf dramatische Effekte fokussiert ist, sondern auf Sukzession; zum anderen hat die zeitliche Entfernung ihre Gültigkeit als Legende bewahrt. Genau das unterscheidet, trotz der Ähnlichkeiten im Prozeß der Distanzierung, Martin von Brecht. Le Vin herbé ist kein Lehrstück, sondern ist „reine“ Erzählung und seine Personen sind wie Treibgut, das die Wellen bisweilen an die Oberfläche des Lebensflusses spülen, aber auch schnell wieder in sich zurücknehmen – in die „große Verbindung“, von der ich zu Anfang geschrieben.

Das hat Konsequenzen für die Sänger:innen; so gleich zu Beginn für Katharina Kammerloher, die als Mutter Iseuts mit sehr großem weiten Ton anhebt, ihre Figur mit aller Präsenz ausstattend, die sich stimmlich und gestalterisch nur denken läßt. Aber sie bleibt flüchtig, hallt nur noch in der Erinnerung nach. Besonders formt es aber Iseut selbst, Anna Prohaska, von der eingangs der Aufführung, um witterungsbedingte Indispositionen der Sänger zu entschuldigen, der Ansager am Mikrophon von „unsrer süßen Anna Prohaska“ sprach, um die Präsenz dieses – ob vermeintlich oder nicht – zarten Publikumslieblings schon mal vorweg und ein bißchen, finde ich, übergriffig zu unterstreichen. Vielleicht lag es auch wirklich an dem grippalen Infekt, daß Frau Prohaska die durchsichtig strahlenden Höhen Sandrine Piaus nicht erreichen konnte, die man >>>> in dieser leider nur noch „gebraucht“ erhältlichen Aufnahme von 2006, der harmonia mundi, hören kann. Allerdings ist diese im Studio entstanden, konnte sich also auf das nur-Musikalische konzentrieren – eine völlig andere Arbeit, als wenn man es mit persönlich-bildlicher Gestaltung zu tun hat, abgesehen davon, daß live-Aufführungen im Moment ihres Werdens nicht nachgearbeitet werden können. – Doch die Rolle selbst ist – für Martins Ästhetik bezeichnend – sehr viel weniger herausgehoben, als der zugrundeliegende Mythos vermuten läßt; nicht von ungefähr gibt der Zaubertrank dem Stück den Namen; er wird eben nicht von den Hauptfiguren hergeleitet. Der einzige, dem wirklich Raum gelassen wird, sich als handelnde Person umfassend zu gestalten, ist der Tristan, in diesem Fall Matthias Klink, dessen Tenor auch sehr gute Kraft hat, aber in den Forte-Höhen manchmal ein bißchen nachgedrückt wirkte. Selbst das, selbstverständlich, kann das Ergebnis einer Tagesverfassung sein; es fiel mir wohl nur deshalb auf, weil Peter Gijsbertsen, der die kurze „Nebenrolle“ (wohlgemerkt, alle Sänger:innen sind alle Zeit auch solistisch im Chor präsent) des Kaherdins sang, am Bett des siechen Tristans unvermittelt schöner, lyrischer, fand ich, klang. Das ist, bitte, kein Urteil, sondern eine Geschmacksempfindung, der ich bei einem nächsten Besuch dieser Inszenierung noch einmal nachhören möchte. Denn sie gehört zu jenen, die man mehrfach hören und sehen sollte, schon deshalb, weil sich uns die ganze Weite dieser Musik, ihr fast kosmischer Reichtum, erst dann erschließen wird, wenn wir sie uns ebenso vertraut machen, wie es uns die großen Werke des vorletzten, vorvorletzten, vorvorvorletzten Jahrhunderts geworden sind: erst dann wird sie uns zueigen werden, und wir werden – zueigen i h r. Und sowieso gilt >>>> das dort. Denn darauf kommt es an, daß u n s die Dinge in sich nehmen.
*******

Ach, es wäre so zu wünschen, daß die Programmleitung der Staatsoper, so lange sie noch im Schillertheater spielen wird – ein viel längres Interim, als geplant war -, nach weiteren Stücken Ausschau hält, die derart perfekt auf das Haus passen, das ein riesiges spätromantisches Orchester, so offen hörbar ist das, gar nicht will, sondern dem intimen Klang erlaubt, sich unvergeßlich zu entfalten. Auf Anhieb wüßt’ ich sieben.

Frank Martin
LE VIN HERBÉ

Ein weltliches Oratorium

Inszenierung Katie Mitchell Co-Regie Joseph W Alford
Ausstattung Lizzie Clachan Licht James Farncombe
Dramaturgie Katharina Winkler

Narine Yeghiyan – Anna Prohaska – Evelin Novak – Virpi Räisänen
Katharina Kammerloher – Stephanie Atanasov – Thorbjørn Gulbrandsøy
Matthias Klink – Peter Gijsbertsen – Arttu Kataja – Ludvig Lindström
Jan Martiník
Mitglieder der Staatskapelle Berlin:
Lothar Strauß – Barbara Weigle – Yulia Deyneka – Matthias Wilke – Sennu Laine
Claire So Jung Henkel – Matthias Winkler -Sarah Tysman

Musikalische Leitung Franck Ollu

Die nächsten Vorstellungen:
29. Mai,
1., 7., 9. und 13. Juni.
Je um 19:30 Uhr
>>>> Karten.

4 thoughts on “PREMIERE. Eine kleine Sensation ODER Aus allernahster Ferne. Katie Mitchells Inszenierung von Frank Martins Tristan-Erzählung „Le Vin herbé“ an der Staatsoper im Schillertheater Berlin.

  1. Dieses Stück steht leider viel zu selten auf den Spielplänen der Theater. Ich hatte einmal ein mystisches Schlüsselerlebnis auf der Bühne in der Rolle der Brangäne, so intensiv erlebte ich diese Musik damals. Der Schlusschor ist das Schönste, was ich je an Liebestod-Musik gehört habe. Es gibt übrigens einen Mitschnitt, leider nicht sehr gut abgemischt, aber falls Sie mal reinhören wollen: bei Gelegenheit!
    Herzliche Grüße – T.

    1. @Terpsichore zum Vin herbé. Sehr sehr gerne!

      (Ich wollte eigentlich auch noch mehr und genauer auf die Musik eingehen, etwa auf die Passacaglia-Artigkeit vieler Partien, die gerade bei einer so eigentlich zarten Instrumentalbesetzung auffällig ist; aber meine Rezension ist ohnedies schon sehr lang. Das erste Stück, über das ich Martins Musik kennenlernte, i s t bezeichnenderweise eine Passacaglia – die seine, so auch genannte, von 1944 in der Originalfassung für Orgel. Das Stück ist schuld daran, daß ich beinahe rauschhaft begann, Variationssätze zu lieben. Die Schallplatte (Vinyl) trägt eine sehr frühe Nummer meines Archivs und wurde 1976 gepreßt, da war ich einundzwanzig. Wenn Sammlungen Geschichte bekommen, werden sie beinahe überreal, nämlich magisch.)

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