sei es, daß man sogar, wie bei Zimmermann, Johann Sebastian Bach anklingen hört. Trotz des Materialismus, auf dem jeder Marxismus beharrt, wäre es nicht minder absurd, Nono seinen vor allem auch politischen Glauben vorzuhalten wie jenem den an Gott; was in Al gran sole derart Kunst wurde, ist ohne ihn nicht zu haben. Wir müssen ihn so wenig teilen wie Bachs, um den metaphysischen Schauer zu empfinden, der von Werken wie diesem ausstrahlt – in der Moderne sind das nicht viele.
Sakralmusik also, weltliche Sakralmusik.
Das Orchester gibt die Massen des sich befreienden Volkes: nicht individuiert im saugenden Klang der elektronischen Musik, die im Weltatem des über Pianissimo-Stellen unüberhörbaren Mitrauschens – als
wäre es der Atem – der wahrscheinlich riesigen Klimaanlage in der Halle des ehemaligen Kraftwerks vibriert; permanent wummert und dräut das mit – „psychisch“ nannte mein Zwölfjähriger das, der eine Woche vor gestern eine Probe mitbesuchte,
psychedelisch meinte er, „und irgendwie unheimlich, Papa“ -; dazu der massige, nicht handelnde, aber agitierende Chor, aus dem und aus allem anderen sich die vier Frauenstimmen erheben – gleichsam
fliegen sie, schwebend, darüber hin, es sind
>>>> Levitationen mehrgestrichener C‘s, die sich in solchen Höhen mit unendlicher Schönheit vereinen, aber von Nono das Recht bekommen haben, darunter, im Realen, Individuen zu bleiben: das ist sehr mediterran-katholisch, immer
die Mutter, zugleich aber im Leib irdisch wie der Nazarener. Das schwingt in Al gran sole nicht nur mit, sondern ist tiefstes Element seines klingenden Marxismus. Nicht von ungefähr galt Nonos Sympathie vor allem Südamerika, das auch eine
>>>> Kirche der Befreiung kennt. Aber neben Che Guevaras Mitkämpferin Tania Bunke gibt Nonos marxistische Messe der von Verlaine wie Rimbaud bewunderten Louise Michels die Stimme, Kämpferin der Pariser Kommune 1971, sowie Paveses gnadenreicher Prostituierten Deola und Gorkis „Mutter“. Dabei ist allein schon bewundernswert, mit welcher Inaginationskraft und handwerklichen Grandezza Nono die historischen und imaginären Gestalten mischt und einander zusprechen, zusingen, sich einssingen und als solche Eine u n s sich zusingen läßt – wobei die sakralen Phänomenen nötige Ferne zugleich immer gewahrt bleibt. Dies liegt zum einen an dieser Klangwelt Luft
>>>> vom anderen Planeten, zum anderen, und dies vor allem, an dem R a u m.
Denn zwar läßt sich jetzt
>>>> ein ums
>>>> andere Mal mit Recht behaupten, es erschöpfe sich Jürgen Flimms Staatsopern-Intendanz alleine darin, sich selbst zu recyceln, diesmal aber gerät das zu einem neuen künstlerischen und bedeutenden Gewinn. Wer immer das Kraftwerk als Spielstätte entdeckt haben mag, hier wird nämlich vorgeführt, was eine lebendige Staatsoper sein kann und daß es bisweilen sinnvoll ist, alte Inszenierungen neu aufzulegen, auch wenn man sie teuer importiert. Dafür alle Bewunderung. Denn es ist nicht so sehr das
Ereignis, das die Premiere gestern abend zweifelsfrei war, ein „Berliner Ereignis“ jenseits nervender Repräsentiererei, sondern Flimm holt mit Mitchells Inszenierung Luigi Nono an seinen eigentlichen Ort zurück: in einer
Arbeitsstätte, die imgrunde sowohl brutaler, nämlich in der Architektur gewordenen industriellen Arbeitswirklichkeit, wie doch auch, ihrer Dimensionen halber, sakraler nicht sein kann – wobei sogar die Versuche, die provisorischen Foyers mit Sperrmüll auszustatten wie im erhobenen Restaurantbereich edle Gedecks auf weiße Decken zu legen, also eine Art großbürgerlicher Heimischkeiten vorzuschürzen, mitsamt Ölgemälde-Repliken an den rohen Zementwänden, den brüchigen Boden zeigt, auf dem die zehntausend Oberen leben.
Das hat einiges von Stanislav Lems
>>>> futurologischem Kongreß und ist, wie mein Junge sagte, „unheimlich“ viel mehr als die Musik. Gleichzeitig reflektiert der Ort als halluzinative Technostätte – gleich nebenan der szenebasale
>>>> Tresor – die unmittelbare Modernität des Zweiten Fin de Siècles, eines mithin Wallfahrtsortes der sich an Techno und Drogen berauschenden kapitalistischen Jung-Décadence. Deren ravender semi-religiöser Profanität, die alles und jedes fürs Entertainment nutzt, setzen Flimm/Mitchell/Metzmacher ein auch nicht auf Gewalt, wenn es sein muß, verzichtendes, aktives Mitleid mit dem erniedrigten Geschöpf entgegen – allein durch den Raum. Der überdies klanglich sensationell ist – Kathedrale fürwahr, die nun der tiefe Humanismus des Al gran sole erfüllte. Das, in der Tat, rückerstattet Nonos Musik eine Utopie, die in der Inszenierung-selbst so k e i n e n Platz hat.
Da sie nicht neu ist, wurde schon viel zu ihr geschrieben. Ich mag
>>>> das nicht wiederholen; Georg Etscheid hat recht. Problematischer aber noch, als daß die einzelnen Bühnenbilder klischierter Dickens sind, vermixt mit Sozialkritikromanze, ist die große Filmwand. Nämlich werden die
azioni der in den raumhalber sehr weit vom Publikum entfernten Zimmern, die die eigentliche Bühne ausmachen, agierenden Frauenspersonen live gefilmt und die Filme auf diese Wand übertragen. Sie ist roh, trägt keine Leinwand, was die Projektionen nicht nur chamois aussehen läßt, bzw. vergilbt, sondern auch rissig: wie aus einer uralten vergangenen Zeit. Das unterschlägt ästhetisch die Präsenz der Unterdrückung und schürzt statt dessen vor, daß wir vergangne Legenden vernähmen, die den Character sozialromantischer Märchen habe: als es noch Hexen gab, setzte ein Vater die Kinder im Wald aus, woran die böse Stiefmutter schuld war -. Dagegen wäre Nonos großer Musik sehr zu wünschen, daß man sie in die Gegenwart spiegelt. Nur dann wären die Aufrufe nicht irgendwie teils wohlfeil, teils auch so abgegriffen als Parolen, wie man‘s jetzt über ist. „Welch ein Pathos!“ stöhnte denn auch ein junger Mann im Gespräch mit einem Freund. „Und so viel Kitsch.“ Ja. Wenn man die Zusammenhänge nicht modernisiert und dadurch zeigt, daß Ironie, die der junge Mann wohl fordern mochte, durchaus nicht überall am Platz ist.
Wer in Indien die Versehrten sah, auf den Straßen, die Hungernden im arabischen Raum, die Desparados Südamerikas, ja sogar die lungernden Arbeitslosen Brandenburg-Vorpommerns sieht, der hat nicht mehr so leicht lächeln.
© >>>> n-tv.deAber auch im übrigen – abgesehen vom Raum – kann von einer Regie im eigentlichen Sinn die Rede nicht sein; zumindest ist es kein überwältigender, sondern ein bizarrer und wahrscheinlich auch unangebrachter Einfall, plötzlich einmal den seitlich rechts postierten Chor aufspringen und die Faust ausstrecken zu lassen, wozu dann eine Befreiungsparole gebrüllt wird. Das geht deshalb daneben, weil der Chor
azione alleine stimmlich ist. Doch kann man sicher darüber diskutieren, inwieweit sich aus dem Oratorium nicht doch eine Oper machen ließe – etwa
>>>> wie Achim Freyer das mit Verdis Requiem getan. Das wäre im Kraftwerk sehr wohl möglich, und zwar unter Aufhebung der hier strikten, einem Oratorium angemessenen Trennung von Publikum und
azione, dann auch kämen in Al gran sole die vielen, noch allein historisch geerdeten Stellen der Agitation zu einem unmittelbar verständlichen, ja notwendigen und ihnen nötigen Recht – was eine Abwehr des Pathos schon einmal unterliefe, das jetzt für ein falsches zu halten zu leicht fällt.
Szenisch indessen als Raum und Klangereignis im Raum ist diese Interpretation atemberaubend und zugleich, wie Che Guevara es dachte,
schön. Das ist vor allem den Frauenstimmen zu danken und einer musikalischen Leitung, die Präzision mit Leidenschaft vereint. Das überträgt sich auf alle. So daß man raumszenisch und musikalisch von einer Referenz-Aufführung sprechen muß, die, wer irgend Neue Musik liebt, auf keinen Fall versäumen darf. Noch zwei Stunden später klang nicht, sondern hallte Nono in mir nach.
Danke.
Luigi Nono
AL GRAN SOLE CARICO D’AMORE
Azione scenica in zwei Teilen.
Inszenierung Katie Mitchell – Videoregisseur Leo Warner for 59 Productions
Bühnenbild | Kostüme Vicki Mortimer – Licht Bruno Poet
Regiemitarbeit Benjamin Davis – Klangregie André Richard
Live-Kamera Sebastian Pircher, Krzysztof Honowski
Chor Eberhard Friedrich.
Elin Rombo – Silke Evers – Tanja Andrijic – Hendrickje Van Kerckhove
Virpi Räisänen – Susan Bickley – Peter Hoare – Christopher Purves
Michael Rapke – Hee-Saup Yoon – Jaroslaw Rogaczewski – Julia Wieninger
Birgit Walter – Laura Sundermann – Helena Lymbery
Staatsopernchor und Staatskapelle Berlin.
Ingo Metzmacher.
Weitere Vorstellungen:
Kraftwerk Mitte/Trafo
03 Mär 2012 | 19.30 Uhr
05 Mär 2012 | 19.30 Uhr ausverkauft
09 Mär 2012 | 19.30 Uhr ausverkauft
11 Mär 2012 | 15.00 Uhr ausverkauft
>>>> Karten.
„Der Mensch ist ein schönes, böses Tier“ Hallo Herr Herbst, sie schreiben….“Wer immer das Kraftwerk als Spielstätte entdeckt haben mag, hier wird nämlich vorgeführt, was eine lebendige Staatsoper sein kann und daß es bisweilen sinnvoll ist, alte Inszenierungen neu aufzulegen, auch wenn man sie teuer importiert. Dafür alle Bewunderung. Denn es ist nicht so sehr das Ereignis, das die Premiere gestern abend zweifelsfrei war, ein „Berliner Ereignis“ jenseits nervender Repräsentiererei, sondern Flimm holt mit Mitchells Inszenierung Luigi Nono an seinen eigentlichen Ort zurück: in einer Arbeitsstätte, die imgrunde sowohl brutaler, nämlich in der Architektur gewordenen industriellen Arbeitswirklichkeit, wie doch auch, ihrer Dimensionen halber, sakraler nicht sein kann – wobei sogar die Versuche, die provisorischen Foyers mit Sperrmüll auszustatten wie im erhobenen Restaurantbereich edle Gedecks auf weiße Decken zu legen, also eine Art großbürgerlicher Heimischkeiten vorzuschürzen, mitsamt Ölgemälde-Repliken an den rohen Zementwänden, den brüchigen Boden zeigt, auf dem die zehntausend Oberen leben.“
Es gab eine ähnliche Idee schon im Jahr 2006. Und zwar „Marquis de Sade“ im Kraftwerk Vockerode (Cross-Genre-Aktionstheater).
http://www.youtube.com/watch?v=ly3I0ueR2v4
http://www.de-sade-spektakel.de/presse_pdf/MdS_Besetzung_Credits.pdf
Ein unvergeßliches Erlebnis, Gänsehaut pur. Eine grandiose Idee. Für solche Veranstaltungen sind die Karten immer schnell vergriffen. Man kann sich glücklich schätzen, wenn man solch‘ einem kulturellen Hochgenuß beiwohnen kann.
Das Publikum musste während der Marquis Aufführung dreimal den Ort innerhalb des Kraftwerks wechseln. Treppen hoch, Treppen runter. Im Machinenhaus und Kesselhaus. Während der Vorstellung saß man als Zuschauer mitten in der Aufführung. Man war Beobachter der dunkelsten Tiefen des Marquis de Sade. Tolle Sache.
Man kann nur hoffen, dass es weiterhin dererlei kultureller Projekte und Ideen gibt.