Uri Caines Mahler-Improvisationen The Drummer Boy

[Geschrieben für die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Dort erschienen am 12. Januar 2012]

Dies ist für Connaisseurs.
Aus den von 1996 bis 2003 entstandenen Mahler Projekten Uri Caines hat Winter & Winter eine CD zusammengestellt, die mit zum besten gehört, was die musikalische Postmoderne derzeit zu bieten hat, jedenfalls im Bereich verspielter, nicht festnotierter Musik. Dabei bedeutet „Spiel“ das Gegenteil von Unernst, selbstverständlich. Spätestens das dritte Stück stellt das klar, das nach einem Aufsatz Leonard Bernsteins „The Drummer Boy“ genannt ist. Darin formen Caine und sein wirklich begnadetes Ensemble aus Mahlers berühmtem Tamboursg‘sell eine weitgespannte, rhapsodische Fantasie für Altsaxophon und einen DJ. Wirklich aufregend ist hier aber nicht nur David Binneys, des Sexophonisten, Spiel, sondern Mahlers Überführung, gleich zu Anfang, in den jüdisch rituellen Gesang Aaron Bensoussans, und wie sich daraus die Improvisationen erheben, deren Spanne von religiösem Cantus über Klezmer und Sinti-Swing bis in Freejazz reicht. Wie das amalgamiert und mit welch grandioser Virtuosität es vorgeführt wird, mit welcher Leidenschaft und Kraft, kann alle jene nur beschämen, die, so ideologisch unbedingt wie ignorant, der Postmoderne immer noch eine vermeintliche Beliebigkeit vorwerfen wollen, anstelle daß sie auf Metamorphosen lauschen und sich gleichermaßen erstaunen wie entzücken lassen. So nämlich, als Metamorphosen, lassen sich Caines Improvisationen mit Recht bezeichnen – es sind Verwandlungen in ein Modernes, dem seine politische Geschichte so eingeschrieben ist wie die europäische Herkunft. Als einen in den schwarz grundierten Melos US-Amerikas emigrierten Mahler: durchaus so lassen sich Uri Caines Interpretationen empfinden. Dazu gehört sogar der brettlhafte Sangpart Josef Bierbichlers, gehört mancherlei Anklang an Kurt Weill, und plötzlich, in der Bearbeitung eines der Kindertotenlieder, spricht Bierbichler nur, wie wenn jemand, naiv und fast stockend, ein Gedicht hersagt, während, eistropfengleich, auf die Fensterscheibe Celestaschellen fällt. Das faßt uns ins Herz: denn bleibt ja eben nicht naiv, sondern dreht in ein halb-Cooles, das von Loussier stammen könnte oder gar von Günter Noris. Daß das schon beinah Standard ist, könnte verärgern, gäbe es nicht abermals rüd einen Umschlag, worin der Baß erschreckend präsent das hier zu rhythm gewordene rhythmische Grundmotiv aus des Antonius lächerlicher, lachhaft vergeblicher Fischpredigt improvisiert – bevor ein weiteres Kindertotenlied erklingt, viertels wie von Berio gesetzt, halb im Groove nächtlich schwarzer Straßenschluchten, in denen es aus Bars heraufklingt, die eine Garbo-Sopranette ihr Mikrophon behauchen lassen: im letzten Viertel verloren, wie in Henzes Tristan die Kinderstimme ist. Und so, „so lonely“ verstummend, hört die CD auch auf. Mitten in ihr aber, schöner fast als das Original, das lange Adagietto aus der Fünften, von jedem Visconti geklärt, worin auf einmal die Zeiten alle zusammenklingen in ihren heimischen, klagenden Klängen: als Klavierprélude fängt das kurz an, das Schlagwerk, leise, tastet sich schellend hinein, bis ein erster Cluster, einer Luftblase ähnelnd, im Klangwasser aufsteigt und uns in diesen allen Zeiten melancholisch mitnimmt und entfernt. Wenn dann das Stück wieder Prélude wird, Interludium, sehen wir hörend auf einmal ins ganze letzte Jahrhundert zurück, in dessen Schrammerln kurze Penderecki-Stürze fallen, und sehen von Philadelphia und Los Angeles, die auch Berlin sein könnten, bis weit bis ins alte Wien. Das ja schon seinerseits und -zeit, in Mahler eben, Abschied nahm, doch auf solch einem hohen Niveau, daß es die Not nicht scheuen mußte, formalistisch, vor Verlust. Und durfte sogar Lehár lieben. Caine darf es, wenngleich das Hollywood, genauso. Deshalb schweigen auch bei ihm die Lippen, wenn er tanzt, zuweilen, und ‘s flüstern Geigen: Hab mich lieb. Als es doch schon verloren war.

ANH, Dezember 2011
Berlin

Uri Caine
The Drummer Boy

 

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