Die Banane von Man Ray ODER Tschechov im Lager. Patrice Chéreaus Inszenierung des Totenhauses unter Simon Rattle an der Staatsoper Unter den Linden im Schillertheater Berlin. Leoš Janáčeks Dritter Oktobertusch zur Spielzeiteröffnung 2011/12: Eine Charlottenburger Premiere.

„…da ist so die Weite von Sibirien drin!“ hauchte entzückt eine ältere Dame ihrem Begleiter zu. Das war im Seitengang vor den Treppen, als ich das Schillertheater verließ. Indessen nicht Sibirien steckt, sondern das Problem der Inszenierung darin, in dem gepuderten Anhauch. Nicht, daß sie schlecht wäre, im Gegenteil. Aber wozu war Patrice Chéreau überhaupt da, wenn doch das Bühnenbild und die Kostüme restlos, ja die meisten Sänger, außer Olaf Bär, mit der Produktion der Wiener Festwochen aus dem Jahr 2007 identisch waren? Nun, der Mann war eingeflogen, damit das Publikum, nachdem es seine Bankkonten sich anderthalb Stunden lang am Leiden konnte delektieren lassen, einen Star zu beklatschen hatte, nämlich in Leib und, hier paßt das, Haft, dem, so kam ich zu ahnen nicht mehr umhin, noch ennuierter war als ihm. Denn was ein Leben muß das sein, wenn man wieder und wieder dieselben Einfälle, und über Jahre, repetieren soll? Zumal die einer Inszenierung, die man längst auf DVD sehen kann und kann sie sich auch bei Youtube, siehe hierüber, und ganz auch im Internet saugen, um Szene für Szene zu studieren. Sowas tu ich nämlich, wenn ich mich vorbereiten will auf etwas, das einmal für neue Interpretationen stand. Ansonsten sprach man nicht von Premiere, sondern nannte es, was ja nicht schändet, Repertoire oder Wiederaufnahme, ja, wenn‘s sich so trifft wie hier, von einem Gastspiel, meinethalben Übernahme.
Nun aber haben wir einen neuen Begriff, ich führ ihn hiermit ein – rein, um zu spezifizieren: den der Charlottenburger Premiere. Das ist so etwa die Mischung von allem, was nicht Premiere ist, aber läßt sich als solche vermarkten. Schon weil sie den Vorteil hat, teurer als echte Premieren zu sein, alleine wegen der in sie verpflichteten Stars. Denn an sich, ausstattungs-ökonomisch, macht das Totenhaus nicht wirklich etwas her. Das kann man aus den eigenen Werkstätten billiger haben
Jedenfalls konnte von einer Premiere, zumal als Auftakt der neuen Spielzeit, keine Rede sein. Sogar der Dirigent war teurer Gast, doch immerhin aus unsrer Stadt; da fiel für Reisekosten nichts als das Taxi an. Teuer war sicher auch Chéreaus selbstredundante Tätigkeit. Und all die Sänger einzufliegen! Als hätte die Staatsoper nicht ein eignes Ensemble, das ganz genau so fähig wäre, das Totenhaus zu spielen – und vielleicht unter einer Regisseurin, einem Regisseur, die oder der etwas Neues zu sagen hätten, darzustellen, darstellen zu lassen, anstelle ein großes Stück Opernliteratur interpretativ ein- für allemal festzustanzen. Doch abgesehen davon: Wir sind in Berlin! Da handelt man nicht wie Coburg oder Achim; ja Bremen selbst ist stolzer. Ich meine, vier Jahre nach der echten Erstaufführung, nämlich in Wien, kommt diese Inszenierung an unser führendes Haus und gibt sich als Premiere aus. Peinlich, peinlich. Nur wollte das das Publikum nicht merken, Christoph Hein, der dawar, sowieso nicht, aber auch nicht die übrigen Bedeutsamkeiten, von denen das Auditorium sitzplatzfüllend mit ausverkauft war. Und wollte Tilman Krause, von der Welt, allen Ernstes über eine Inszenierung Neues schreiben, die man weltauf, weltab schon besprochen hat, nachdem sie schon alle gesehen haben?
War denn ich selbst nur naiv, im Totenhaus einen neuen Chéreau zu erwarten?
Ja, war ich.
Es geht eben nicht um die Arbeit am Stoff, geschweige gestern, zur Spielzeiteröffnung, um Erkenntnis und Berührung, nicht einmal ums Erschauern durch Musik und schon gar nicht darum, auch in den Elendsten den, wie Janáček schrieb, göttlichen Funken zu finden. Sondern schlichtweg darum, sich Weltbedeutung vorzuspielen, auch wenn man an zwanzigster Stelle steht. Der Opernfetisch at it‘s worst – allerdings war es für Pelze zu warm, die zu tragen aber auch nicht mehr korrekt ist.
So war die Charlottenburger Premiere denn auch ziemlich routiniert: Die Gefangenen litten, kann man sagen, wie am Schnürchen, dem existentialistischen. Das paßt so gut zum Schick… Pardon, ich mein: zum Chic. Da übertrug sich nichts, ja selbst der Adler, weil er in Wien bereits, in Amsterdam und New York, in Mailand und viel anderswo hat hölzern sich gen Freiheit schwingen müssen, war seiner Symbolik müde geworden, sozusagen Drei Schwestern im Lager und schmalgelutscht wie eine ständig repetierte Inszenierung Godots, ich meine die ewige, die mit Horst Bollmann, einst und hier an diesem Haus.
Mag sein, daß Chéreaus Inszenierung Maßstäbe für Janáčeks Totenhaus setzte. Ich habe seine Arbeit mit Boulez, die filmisch ebenfalls dokumentiert ist, voll hoher Achtung mitverfolgt, und in der Tat: Es gibt auch einen Einfall, der bildlich ungeheuer ist und das wohl bleiben wird, – wenn nämlich die rechte Seitenwand, dieselbe von 2007 in Wien, die nackten Gefangenen ausspuckt. Da ist man momentlang angefaßt. Doch reicht das für eines der wichtigen Opernhäuser dieser Welt? Wäre es nicht den großen Komponisten – und die Elenden, von denen er mit Dostojewski erzählt – mehr geehrt, hätte man eine eigene Interpretation erarbeiten lassen rein aus dem Hause selbst? Und wär das Risiko eingegangen, daß man scheitert? Aber dann, wir wissen‘s, wär nicht so zahlreich Geleute erschienen, schon gar nicht der Flitter eines Westberliner Establishments, das sich in vorgeführtem Elend so hundchenmäßig wohlfühlt. Man muß das nur richtig garnieren, Simon Rattle allein hätte sicher nicht mehr gereicht. So joggte im Flugzeug Chéreau denn herbei.
Die Banane ist groß, doch ihre Schale ist größer – das sagte einst Man Ray. Er wußte aber da noch nicht, daß man die sich auch anziehen kann. Wie Kleider neuer Kaiser. Wie laut sie, derart angezogen, dann endlich ovatieren konnten!
*******

Z mrtvého domů.
(Aus einem Totenhaus).

Oper in drei Akten von Leoš Janáček

Musikalische Leitung: Simon Rattle. Inszenierung: Patrice Chéreau.
Künstlerische Mitarbeit: Thierry Thieû Niang. Bühnenbild: Richard Peduzzi.
Kostüme: Caroline de Vivaise. Licht: Bertrand Couderc. Chor: Eberhard Friedrich.

Willard White – Pavlo Hunka – Eric Stoklossa – Štefan Margita – Peter Straka – Vladimír Chmelo –
Jiří Sulženko – Heinz Zednik – Alfredo Daza – Arttu Kataja – John Mark Ainsley – Ján Galla – Florian Hoffmann – Olivier Dumait – Susannah Haberfeld – Ales Jenis – Marian Pavlovič – Peter Hoare – Stephan Rügamer.

Weitere Aufführungen:
6. Okt., 9 Okt., 11. Okt., 14 Okt., 17 Okt 2011.
>>>> Karten.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .