Solide. Marco Arturo Marelli inszeniert Verdis Don Carlos an der Deutschen Oper Berlin.

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Solide, ja, solid‘. Aber nicht aufregend. Wenn es in der Deutschen Oper Berlin >>>> gestern abend Höhepunkte gab, dann waren sie den Sängern zu verdanken, allen voran dem Philipp Roberto Scandiuzzis, der besonders den Klagegesang am Anfang der dritten Aktes zu Minuten höchster Intensität ausgestaltete: wie er da Phrasierungen zog und zugleich mit welcher Souveränität er da Höhen und besonders die Tiefen mit seiner Seele füllte, griff unmittelbar in die unsren. „Irgendwann hört Technik auf, von Bedeutung zu sein“, hat der große Rostropovitch einmal gesagt: dann nämlich, wenn man sie nicht mehr merkt und ganz andere Hindernisse der künstlerischen Gestaltung ins Zentrum rücken. Aber auch, was die Venezolanerin Lucrezia Garcia zuwegebrachte, die Elisabeths Partie sang und ausgesprochen kurzfristig, mit nur einer Woche Probezeit, für Anja Harteros einsprang, ist bemerkenswert. So beginnen bisweilen Weltkarrieren. Dummerweise -. da haben Persönlichkeiten wie Waltraud Meier unterdessen neue Maßstäbe gesetzt; Netrebko indes bloß als Erscheinung (das ist die andere Seite diese Medaille: stimmlich nur „befriedigend, – setzen!“) – dummerweise also füllt ihre Erscheinung das Vorurteil der allzu gewichtigen Operndiva allzu wörtlich aus, was wiederum zu einem inszenatorischen Problem führt. Man mag Don Carlos, mit Massimo Giordano nicht nur sängerisch eine Idealbesetzung dieser Partie, einfach nicht abnehmen, daß er sich in ein solches Riesenweib verliebt: James Dean jagt nach anderer Beute. Wenn man aber Kierkegaards Forderung ernstnimmt, daß eine Schauspielerin so gut sein müsse, daß ihre Erscheinung über der Kunst restlos vergessen werde, dann reicht diese Stimme eben doch nicht ganz hin. Mir selbst hat sich Kierkegaards Forderung freilich erst ein einziges Mal eingelöst: bei Margaret Price. Ob sich Frau Garcia zu deren Stimm- und Gestaltungsgröße eines Tages noch erheben wird, jedenfalls, bleibt abzuwarten – wobei diese Forderung in keiner Weise menschlich ist; das weiß ich selbst. Kunst fragt aber nicht nach Humanität, so wenig wie Genie. Dieser Stachel wird uns für immer im Fleisch steckenbleiben, er läßt sich ohne weitere, und oft schwere, Verwundungen nicht ziehen. Da war Anna Smirnovas Erscheinung in der Partie der Eboli ein, sozusagen, Kompromiß; auch sie tadellos im Gesang. Was für ein Haus wie die Deutsche Oper Berlin erwartet werden muß, musikalisches Weltniveau, löste sich denn auch ein. So brandete nachher der Jubel eines Publikums, das in diesem Haus mehr als in anderen Häusern der Stadt ein durchweg großbürgerliches genannt werden muß; vor einem Jahrhundert hätte sich draus der Kaufadel regeniert. Es war wirklich auffällig, wie sehr die jungen Leute fehlten, die nicht nur die Komische, sondern auch die Linden-Oper längst anzuziehen weiß.
Zudem bedeutet, daß sich etwas einlöst, eben noch nicht, daß es gleich aufregend wäre; für solche Aufregung sorgten allein, vor allem ab dem dritten Akt, Scandiuzzis Baß und Giordanos Tenor, sowie Donald Runnicles Stabführung, der ich noch viel mehr Eigenwilligkeiten wünschte, Übertretungen, Schärfen. Die können sich aber auch nur dann aus dem Regelgerechten lösen, wird eine Szene von Visionen angefeuert. Das ist >>>> dieser Inszenierung n i c h t zu konzedieren. Im Gegenteil ist sie, ecco, solide und konventionell – was diesem Publikum selbstverständlich entgegenkam. Dabei ist gerade Verdis Don Carlos eine enorm politische und darin auch gegenwärtige Oper. Aber Marelli hält das möglichst schmerzfrei, man möcht ja den Genuß nicht stören – auch nicht durch eine öffentliche Ketzerverbrennung, bei der hier am Bühnenhintergrund drei oder vier Statisten am, danach sieht es aus, Kreuz hängen; dazu wird ein bißchen mit Lichtfeuer gespielt und mehrfach die unumgängliche Nebelmaschine recht tüchtig eingesetzt. Kein Gedanke an das Völkerschlachten auf dem Balkan oder an die historischen Pogrome von Moskau bis Auschwitz, an die 500.000 Kinder im Irak oder die wahlweise kürzeren und längeren Ärmel von Sudan bis Sierra Leone. All das liegt dem Don Carlos aber nicht nur nahe, sondern es ist einer modernen Inszenierung dieses Stoffs geradezu abzufordern – und da auch beginnt erst die inszenatorische Frage: Wie vermittle ich das, ohne daß es gleich selbst ein Klischee wird? Doch gleichsam vornehm dranzugehen, in Andeutungen und halben Provokatiönchen, damit man sich auch wohlfühlt im Schrecken, macht Oper und in ihr die Opfer zu gehobenen Jahrmarktereien auf dem politisch korrekten Niveau eines in Rente gegangenen Mittelstands.
Wie oft also wünschte ich mir gestern abend, >>>> Bieito wäre über diese Partitur hergefallen! Zu welchem Temperament das dann auch Runnicles hingerissen haben könnte und mit ihm sein Orchester! – Aber nein. Sondern Marellis Interpretation begnügt sich imgrunde mit dem Bühnenbild – denn auch für dieses steht er ein -, begnügt sich mit metallartigen Quadern, die, unten zusammengeschoben und oben zusammengedreht, zweifach die Lichtspalts eines Kreuzes ergeben, zweifach, weil das vorne und hinten geschieht, wodurch sich stets die Imagination eines geschlossenen Raumes herstellt, sei es Kirche, sei es Kerker. Zu einem solchen wird auch der Königspalast-selbst, und auseinandergeklappt, bzw. auseinandergedreht steht man vor brutalen Mauern und – im Querspalt jetzt, wie auf Hitlers Tribünen, das Volk – monumentalen Repräsentanzbauten faschistischer Architekturen. Das ist Schillers und Verdis Thema absolut angemessen und malt sehr genau die beengende Bedrohung durch die Inquisition aus, in deren Machtbereich sich das Geschehen in gegenseitiger Abhängigkeit von der Krone gegen die zu Ketzern gewordenen flandrischen Rebellen vollzieht – geradezu schicksalhaft, weil den politischen Belangen die persönlichen, ja intimen der Handlungsträger unlösbar eingewunden sind. Das macht sehr vieles klar: etwa, daß Philipp, wiewohl vor keiner Grausamkeit, ja selbst der Opferung des eigenen Sohnes nicht zurückschreckend, sehr wohl lieben kann, sehr wohl seinerseits unglücklich sein kann und, davon in ständige Zweifel gestürzt, vom Großinquisitor immer wieder ideologisch gefirmt werden muß. Es vergißt aber die Gegenwärtigkeit der Geschehen und läßt dann obendrein, eine sowieso überkommene, in Italien noch beliebte Unart, von der Rampe singen. Und es gibt kaum einen dramatischen Einfall, der über Fasching hinausginge. Ja selbst dort, wo Morelli solch einen Einfall einmal hat, muß er ihn auf Geschmack moderieren: Eine Frau aus dem Volk, die ein Baby im Arm trägt, klagt – woraufhin ihr das Kind entrissen wird. Statt aber, wie es geschehen wäre – deutsche Soldaten haben das in Rußland sehr gerne so gemacht -, den Kinderkopf an der metallenen Mauer zu zerschlagen oder das Kleine ins Feuer zu werfen, wird es einem der roten Popen überreicht, der es nun, als wäre es ein Findelkind, in seinen Händen fast sorgend beschaut. Genau so funktioniert Verharmlosung. Aber vielleicht bin ich ein bißchen ungerecht, weil dieser Don Carlos wie der Simon Boccanegra zu meinen favorisierten Verdi-Opern gehört und eigene inszenatorische Vorstellungen die hier angebotenen überblenden, so daß diese einfach nicht mithalten können. Übrigens sang die Mutter, von der ich eben erzählte, nicht nur enorm schön, sondern von allen Frauenstimmen war sie die allermenschlich innigste: jenseits jeder „Divigkeit“; ich wüßte den Namen der Sängerin gern, denn der Besetzungszettel nennt sie nicht.
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So sei den musikalischen Hochleistungen des gestrigen Abends geklagt, daß der Erinnerung unterm Strich ein schaler Geschmack von Müßigkeit bleibt, von Veranstaltung – und das bei einem Stück, das nach dem Aufruhr s c h r e i t. So etwas hat sich in einer Inszenierung wiederzuspiegeln, ja die Inszenierung hat er zu sein. Dabei war nicht einmal die französische Fassung gespielt worden, die manche Konzessionen an die Pariser Wohlbetuchtheit gemacht hatte – die ich aber dennoch der italienischen, späteren und sozusagen gebändigten, vorziehe: einmal wegen des anderen, kompositorisch ziemlich sperrigen Sprachmelos‘, und zum zweiten, weil die fünfaktige Fassung für Regietheatler sowieso ein inszentorischer Leckerbissen wäre. Allein schon das banale, an der Opéra seinerzeit obligate Ballett, das Verdi für die italienische Version wieder gestrichen hat, ließe sich zu einer ungeheuerlichen Szene formen, zumal im scharfen Aufeinandertreffen mit der Massenverbrennung. Andererseits entspricht Marellis Auffassung dem schillerschen Unternehmen der Klassizierung seines eigenen Stücks und damit auch Verdis Bändigungen – sie setzt sie geradezu fort. Bis man im endlich Schmerzfreien ankommt, egal, was da erzählt wird. Musikalisch lohnt sich der Besuch, das will ich wiederholen, allerdings. Und mit welch entschiedener Größe Runnicles sein Orchester in jeden Zwischenapplaus einfallen und es rigide weiterspielen läßt, um in die Konzentration aufs Eigentliche zurückzuzwingen, das muß man in jedem Fall erleben.
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>>>> D O N  C A R L O
Oper in vier Akten von Giuseppe Verdi.
Libretto von Joesph Méry und Camille Du Locle nach Friedrich Schillers Tragödie.

Musikalische Leitung Donald Runnicles. Inszenierung, Bühne, Licht Marco Arturo Marelli.
Kostüme Dagmar Niefind. Dramaturgie Andreas K. W. Meyer. Chöre William Spaulding.

Roberto Svandiuzzi – Massimo Giordano – Boaz Daniel – Ante Jerunica – Anna Smirnova – Lucrezia Garcia – Kathryn Lewek – Ryan McKinny – Matthew Pena – Martina Welschenbach.

Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin.
 
Weitere Vorstellungen:
26., 29. Oktober 2011
02., 09., 12. November 2011
08., 14., 29. April 2012

>>>> Online-Karten: € 28,- | 48,- | 69,- | 86,-
[zuzüglich € 2,- Service-Gebühr]

11 thoughts on “Solide. Marco Arturo Marelli inszeniert Verdis Don Carlos an der Deutschen Oper Berlin.

  1. Zu solchen Kritiken: Sie sind als Diskussionsgrundlagen gemeint. Die bekämen dann ein Leben, wenn auch Beteiligte kommentierten, neben den Lesern. Also auch die beteiligten Dramaturgen, Musiker usw., andere Sänger, andere Regisseure. Und, sowieso, das Publikum. Es geht eben nicht darum, Meinung zu machen. Denn selbstverständlich kann – und sollte! – es über Inszenierungen verschiedene Ansichten geben. Interessant daran sind die Argumente – und ist der Gesichtspunkt, aus dem jeweils geschrieben und geurteilt wird.

    (Dennoch stehe ich für meine Urteile selbstverständlich ein.)

  2. Bitte genauer hinsehen Lieber Herr Herbst,
    für eine ihrer favorisierten Werke kennen Sie „Don Carlo“ überraschend schlecht. Natürlich wird die Sängerin der Frau aus dem Volk auf dem Besetzungszettel – und damit auch in Ihrer Sängerliste – erwähnt: gleich hinter dem Posa, allerdings unter der von Verdi im Personenverzeichnis angegebenen Bezeichnung „Stimme von oben“. Die Umdeutung ist einer der vielen interpretatorisch-inszenatorischen Interventionen des Regisseurs gewesen, um die Dramaturgie des Stückes zu verdeutlichen: Das Ineinander von Gewalt und Hoffnung bei Menschen, denen auf Erden nicht mehr zu helfen war (höchste musikalische Konsequenz: Elisabeths Gebet im 4. Akt). Ich nehme an, Sie kennen das Zitat, auf das ich anspiele und das in der Logik der szenischen, allen sichtbaren Interpretation lag: Nur hat offenbar niemand den somnambulen Prinzen von Homburg zur Hörner-Introduktion und im Park-Bild (im Park-Bild! verstehen Sie?) gesehen. Ausbruch aus dem Gefängnis durch Elisabeth – Verweis auf das aus pragmatischen Gründen nicht gespielte Fontainebleau-Bild (wer hat es drauf, wenn jemand krank wird?) – doch der Traum von Elisabeth, was sonst, die Pantomime wurde nicht verstanden und als Rampen-Theater bezeichnet. Werch ein Illtumm. (Sie erkennen das Zitat). Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, sagt Lessing…
    Darf ich auch auf die weiße Kaaba von San Yuste hinweisen, die eine verkleinerte Metamorphose des großen Betongefängnisses war und doch sehr deutlich interpretierte, dass die Flucht aus der Welt in den Glauben etwas Zwiespältiges hat. San Yuste ist immerhin ein Kloster, wo die Flucht aus der Welt institutionalisiert ist. (Karl V. ist dorthin geflohen.) Was für eine Welt, in der die Menschen stören und ausgetrieben werden.
    Oder die absolut geniale Umdeutung der Autodafé-Szene, die der Musik einen völlig neuen Aspekt abgewinnt. Und ich meine nicht die Bücherverbrennung, die nicht nur auf 1933 anspielt, sondern auch auf die Handlungszeit des Don Carlos, die Gegenreformation, die Mitte des 16. Jahrhunderts den Index librorum prohibitorum hervorbrachte und Menschen wie Giordano Bruno tatsächlich nicht wegen ihrer Taten, sondern wegen ihrer Schriften verbrannte. Den Bezug zu Flandern können Sie in Flanderns Nationalroman Tyl Ulenspiegel von Charles de Coster nachlesen, wo Menschen tatsächlich, wie Marelli es inszeniert, wegen des Besitzes ketzerischer Schriften verbrannt werden (Tyls Eltern; das Buch hat nichts mit unserem Till Eulenspiegel zu tun). Die Bücherverbrennung ist also tatsächlich nicht so einfältig, wie Sie das darstellen, sondern mehrfach konnotiert. Und dass ein Kunstwerk ein Symbol schafft, dass dann jeder auf den Massenmord projizieren kann, der ihm einfällt, ist eine Eigenheit von Kunst. Chaplin musste im Großen Diktator nicht Auschwitz zeigen, um Auschwitz zu zeigen, weil Auschwitz nämlich nicht zu zeigen ist. Doch all das ist nicht das Eigentliche der Umdeutung.
    Das Eigentlich ist, dass die unerträglich fröhliche Huldigung des Volkes an „il Re“ nicht Philipp II. gilt, sondern an dem Reform- und Hoffnungsträger Carlos, dem Infantin (nur in der Reprise unter der Drohung der Mönche, pianissimo, wie in der Partitur gewünscht aus Angst an den König). Und Carlos flüchtet nach seiner privaten Schlappe mit Eboli in die Politik: weil ihm in der Liebe nicht mehr zu helfen ist.
    Nein, ich war vom Spiel der Darsteller nicht immer entzückt. Aber der Regie Denkfaulheit vorzuwerfen, wie es alle Ihre Kollegen, die mir zu Augen kamen, taten, zeugt schon von einer gewaltigen Blindheit und Werkunkenntnis. In der FAZ wird als „äußerlicher, missratener Einfall“ bemängelt, dass Eboli die Revolution gegen Philipp im Kerkerbild anführt. Dabei ist das Verdis „Einfall“, den die Eboli im vorhergehenden Bußbild ankündigt: ich will ihn retten.

    Zur Schlampigkeit all dieser Berichterstattung passen dann auch die Namen, die Sie Marco Arturo Marelli alle anhängen: Marcu (die rumänische Form) und Morelli (die russische von Mare) und Marinelli (die Lessingsche). Das, immerhin, ist ein Lesevergnügen und ein Interpretationshinweis: es ist ein codierter Fingerzeig darauf, wie genau heute die Lesefähigkeit entwickelt ist – allgemein und auf die Sprache der Bühne bezogen.

    Ich schreibe dies ohne alle verteidigende Absichten, nur angeregt durch Ihre Aufforderung, Gegenmeinungen zu formulieren. Ich kenne Marelli zwar bereits seit 1983, war aber nicht an der Inszenierung beteiligt und habe auch keinen Grund, Claque zu spielen, sondern beschreibe einfach, was ich gesehen habe und was ich sonnenklar fand. Ich gebe zu, um die subtilen Interventionen der Inszenierung zu sehen, muss man das Stück ziemlich gut kennen. Genial z.B. war auch die Umdeutung der Frankreich-Erzählung Posas im 2. Bild, die Marelli so inszeniert hat, dass er sich gleichzeitig an Elisabeth und Eboli richtet. Das muss so sein, nicht nur um keinen Verdacht bei Hofe aufkommen zu lassen (die Beaufsichtigung durch die Gouvernante war ja auch ziemlich drastisch inszeniert), sondern auch, weil Eboli ja sagt, dass sie glaubt, Carlo liebe sie. Dieser Irrtum war in einer Weise inszeniert, wie sonst nie. Scheint aber nur bemerkt zu haben, wer das Stück kennt. Die anderen haben’s nicht verstanden, also auch nicht gesehen, ergo für Rampensingerei gehalten.

    Und jetzt erwidern Sie bitte nicht, dass was „man“ nicht sieht, auch nicht da ist. 150 Jahre lang wurde bei „Così fan tutte“ nicht gesehen, was heute jedes Kind weiss. Davor wurde der moralische Diskurs dieser Versuchsanordnung nicht gesehen und für frivole Unmoral gehalten. Ich verweise noch einmal auf das oben genannte Lessing-Zitat.

    Dass Sie übrigens den Homburg nicht gesehen haben, hat mich doch sehr enttäuscht. Wo sie als Kleist-Kenner doch fordern, dass dem Kind der Frau aus dem Volke der Schädel an der Wand eingeschlagen wird wie im „Erdbeben von Chili“.

    Mit freundlichen Grüßen
    Boris Kehrmann

    1. @Boris Kehrmann zu Marellis Carlos. Lieber Herr Kehrmann,
      der Verdacht, jemand gehöre zur Claque, wäre mir nicht gekommen bei einer solch genauen Replik, auch und gerade nicht, weil sie irgendwie auch eine Replik auf die Verrisse anderer Autoren ist. Mich damit aber herauszureden zu wollen, wäre unangemessen. Außerdem bedanke ich mich sehr, daß Sie sich die Mühe zu einer solch langen Entgegnung gemacht haben. Es ist nicht oft vorgekommen, daß meine Kritiken sachliche Antworten bekamen. Dabei ist gerade das eine der Stärken von kommentierbaren Kritiken im Netz, daß andere – zumal kenntnisreichere – Meinungen laut werden können. Wie Sie das Angebot jetzt angenommen haben, habe ich für vieles andere erhofft, seit es Die Dschungel gibt und in ihr die Kapitel der Kritik, vor allem zu Opern und Konzerten, also seit beinahe acht Jahren. Ich habe auch die Regieteams immer dazu eingeladen.

      Zum „Favorisierten“: Ich hatte den Don Carlos vorher nie gesehen, habe ihn aber sehr oft und in verschiedenen Einspielungen und Übertragungen, die ich mitschnitt, gehört. Das mag meine Einlassung erklären. An den Opernhäusern meiner jeweiligen Umgebung wurde er schlichtweg selten gespielt. Deshalb wohl ist mir die „Stimme von oben“ entgangen; ich vermutete allerdings so etwas, konnte es aber nicht nachprüfen und wollte das auch nicht, weil ich aus den Eindrücken der Abende heraus schreibe. Genau deshalb ziehe ich das öffentliche Medium des Netzes den Printmedien vor: es ist schlußendlich gerechter, wenn ein Printmedium, auf das man nicht antworten kann, denn überhaupt gerecht ist. Hier weiß ich, als oft selbst und oft sehr böse Rezensierter, ziemlich genau, wovon ich spreche.

      Nein, den Homburg habe ich in der Tat nicht gesehen und ganz offenbar das Viele andere auch nicht, das Sie nun einwenden. Da ich aber nicht zu den Ungebildeten gehöre, zeigt das eine Problematik an, von der ich ein bißchen ahne, wie sie zu lösen wäre: etwa hätte ein auf die Inszenierung genau eingehendes Programmbuch ein wenig Abhilfe schaffen können. Bevor ich Kritiken schreibe, lese ich diese Dinger nämlich immer vollständig – und möglichst vorher – durch, weil man dann oft einen anderen Blick bekommt. Deshalb bin ich auch meist schon eine Stunde vor Beginn da. Der Band zu dieser Inszenierung ist nun zwar eine gute Collage, aber läßt sich auf die Inszenierungsabsicht expressis verbis nirgendwo ein. Dabei hätten ein paar Hinweisen genügt. Eine gewisse Zuschauerlenkung ist bei komplizierten Ineinanderschachtelungen nämlich unbedingt nötig, vor allem, weil man vor dem Verfassen einer Kritik keine Möglichkeit hat, die Inszenierung noch einmal zu sehen, und also erste Eindrücke revidieren kann. Anders ist das bei der Musik, weil sie sich mitschneiden und, bevor man schreibt, sich mindestens noch einmal hören läßt, meist zweimal; der Klang führt oft sogar auf die erinnerte Szene zurück. Zuvor nicht bemerkte Querverweise kommen allerdings auch dabei nur selten in den Kopf.

      Zu einigen Ihrer Einwände:
      „Rampe“ schrieb ich nur auf Arien bezogen, nicht auf Szene; „Rampentheater“ steht also bei mir nicht. Wiederum die weiße Kaaba von St. Just legt nahe, Karl V. als eine Erlöserfigur zu sehen, zumal, wenn er Don Carlos dann „zu sich nimmt“ – ein an sich unertäglicher Schluß, wenn man den Nepotismus Karls vor Augen hat, wie überhaupt, politische Figuren zu Heilsfiguren zu machen. Da haben wir Deutschen im Kyffhäuser ein düsteres Erbe zu schlecht verwaltet, als daß man das weiter akzeptieren könnte.Und ich meine nicht die Bücherverbrennung, die (…) Menschen wie Giordano Bruno tatsächlich nicht wegen ihrer Taten, sondern wegen ihrer Schriften verbrannte.Zum einen ist es nicht besser, Menschen wegen ihrer Taten zu verbrennen, als verbrennte man sie wegen ihrer Ideen; Verbrennungen lassen sich in keiner Weise rechtfertigen. Und hier habe ich die Bücherverbrennung sehr wohl gesehen, aber sie gegenüber der Verbrennung von Menschen eben als unangemessen banal empfunden. Das geht mir nach wie vor so, zumal auch heutzutage noch Menschen ihrer Bücher, also Ideen halber wenn nicht verbrannt, so doch zu Tode gesteinigt, eingesperrt und sonstwie gefoltert werden. Die Bücher sind nur Material, die kann man verbrennen, wie oft man nur will. Ideen sind nicht sterblich. Da in der Tat hat Marellis Inszenierung verkleinert, ob unwillentlich, ist gleichgültig.
      Chaplin musste im Großen Diktator nicht Auschwitz zeigen, um Auschwitz zu zeigen, weil Auschwitz nämlich nicht zu zeigen ist.Beide Aussagen bestreite ich. „Nuit et Brouillard“ hat Auschwitz furchtbar genau gezeigt und intensiver, belastender, unendlich mehr nachwirkend, als irgend ein Chaplin das konnte. Im Gegenteil ist dessen Film ein Ausbund an gealberter Harmlosigkeit, die wir uns bloß angewöhnt haben, für eine bemerkenswerte, zumal kritische Kunstleistung zu halten. Das läuft schlichtweg unter Mainstream. Ich halte Ihnen Pendereckis Teufel von Loudon dagegen, Pasolinis Salò, und, abermals von Penderecki, Threnos.
      Das Eigentlich ist, dass die unerträglich fröhliche Huldigung des Volkes an „il Re“ nicht Philipp II. gilt, sondern an dem Reform- und Hoffnungsträger Carlos, dem Infantin (nur in der Reprise unter der Drohung der Mönche, pianissimo, wie in der Partitur gewünscht aus Angst an den König).Ja, selbstverständlich. Zumal in Marellis Szene das Volk ungebrochen indentisch mit den Aufständischen, bzw. Verfolgten ist. Das eigentliche Volk sahen wir nicht. Dann wäre auch andres erfordert gewesen. Denn die dem Goebbels auf die Frage nach dem totalen Krieg ihr Ja zujubelten, riefen nicht nur aus Angst. Und hier genau wird es sehr kompliziert. Wecker hat das einmal auf den Punkt gebracht mit denen, die sich bei Giordano Brunos Verbrennung lüstern auf dem Boden rollen, und „munter flackerte das Feuer, der Pobel mußte manchmal husten zwischen zwei Lachern“. Verbrennungen waren fürs Volk Belustigungen, man geilte sich am Schrecken auf. Erzählen Sie mir bitte nicht, daß das heute anders wäre. Vom Volk also, bei Marelli und außer den flandrischen Gesandten, keine Spur. Oder eine – akademische.
      Von „Denkfaulheit“ habe ich übrigens nirgends gesprochen; bei meinen Kollegen kann ich das nicht beurteilen, ich lese sie zu selten. Wahrscheinlich ist es umgekehrt: es wurde viel zu viel gedacht und eben nur gedacht. Sondern ich meine, daß es keinen dramatischen Einfall gab, der die von Ihnen dargelegten Bezüge zur unmittelbaren Anschauung gebracht hätte, so, wie eine Bühne das notwendig fordert. Je weiter die Distanz von der Szene zum Kopf, und sei er auch reich angefüllt, und je weniger Zeit ist, diese Distanz zu überwinden, desto schlagender, direkter, eben „unmittelbarer“ („Hegel aber..!“ – „Ja, ich weiß, ich weiß…“) müssen die Einfälle zu ihm herüberkommen – etwa so, wie Wagner es mit Leitmotiven hielt, mit denen es hier Verdi auch, melodisch, fast, in seinem Carlo hält. Und Sie sagen‘s ja auch selbst:Ich gebe zu, um die subtilen Interventionen der Inszenierung zu sehen, muss man das Stück ziemlich gut kennen.Da liegt dann also tatsächlich ein Problem – nicht wegen des Sachverhaltes an sich, sondern des Umstandes halber, daß dieses vollgepackte Stück in dreieinhalb Stunden vorübergeht, die, wie Ihre Replik es aufzeigt, gespickt mit Bezügen sind. Man kann ja nicht, wie in einem Buch, Seiten zurückschlagen. Selbst, wenn man vieles weiß, ist das – auch für ADSler wie mich – nicht sofort kenntlich. Hinterher, sagt es einem einer, wird es klar. Wie aber dann für ein „normales“ Publikum? Und die Rampensingerei halte ich, zumal, wenn ein Traum inszeniert werden soll, sowieso für keine gute Idee, jedenfalls nicht dann, wenn nicht inszenatorisch noch irgend etwas hinzukommt. Dazu, etwa , gibt es das Licht.
      150 Jahre lang wurde bei „Così fan tutte“ nicht gesehen, was heute jedes Kind weiss.Auch das stimmt. Aber die Così war 150 Jahre lang da. Das wird man Marellis Inszenierung sicher nicht vorhersagen dürfen. Daran sind Lessings hohle Köpfen schuldlos. So bleibt für mich, bei all Ihren berechtigten Einwänden und Erklärungen, dennoch etwas rüde Verharmlosendes an dieser Inszenierung; übrigens kann dazu Filigranität einiges beitragen – also eine solche Verfeinerung, die das Auge zwar sehr nahe an die Dinge legt, aber dadurch das Ding nicht mehr sieht: daß etwas eine Insel ist, sieht man nicht, wenn man drauf am Ufer steht. Deshalb vielleicht fehlten die Bezüge auf unsere unmittelbare Gegenwart, bildlich, völlig– solche nämlich, die das historisiertes und in so schöne Arien gepackte Geschehen uns wieder auf den Leib gebrannt hätten. Vielmehr läßt Ihre Replik mich nun ahnen, was das wirkliche Problem dieser Inszenierung ist. Sie ist durchaus durchdacht, ja, sehr, aber, hat man mal gesagt, „akademisch“, – kunst-akademisch. Ich sage dazu: akademistisch.

      (Zu meiner angeblichen Schlampigkeit eben noch: Wo steht bei mir, bitte, „Marcu“? In der Tat hatte ich mich bei „Marelli“ aus der Erinnerung erst nach „Morelli“ geirrt, das aber sofort verbessert, als ich korrekturlas. Und wo schreibe ich „Marinelli“? Selbst meine Suchmaske findet das in meinem Text nicht. Ich hab es eben probiert, falls da ja doch noch ein Verschreiber sei – der für „Marinelli“ aber so ungewöhnlich wäre, daß man schon von Absicht sprechen müßte. Das Wort „Marinelli“ kommt indes in der gesamten Dschungel nicht vor.)

      Lassen Sie uns weiterstreiten!

      Ihr
      ANH

    2. Auch wenn das im Kontext der Gesamtdiskussion nebensächlich erscheinen mag, ist es zumindest wohl ärgerlich: Der falsche Name (Morelli) hat sich leider bis in die Überschrift der Rezension bei Weltexpresso erhalten…

      Wenn ich mir eine kleine Bemerkung an dieser Stelle erlauben darf: Bei Ihrem Tempo und Ihrem Arbeitsmodus (vor dem ich persönlich den Hut ziehe) müssen Fehler unterlaufen, müssen Ungenauigkeiten vorkommen, das erscheint mir eine Frage des Abwägens, nicht der Redlichkeit.

    3. @dobar, auch@Herrn Kehrmann. Danke.

      Ah, im Weltexpreß…. jetzt verstehe ich. Meine Publikationen in Der Dschungel lese ich nämlich wieder und wieder, bis alles stimmt. Und wenn dann noch was falsch ist, korrigiere ich, wenn ich den entsprechenden Hinweis bekomme: manchmal ist man so nah an den Dingen, daß Fehler sich wie Richtigkeiten verselbständlichen (richtig so, das Wort). Deshalb gibt es in Zeitungen Redakteure, die gegenlesen, vor allem, wenn man schnell sein muß.
      Was den Weltexpreß anbelangt, so hatte ich morgens bereits Korrekturen angemerkt; es hieß aber dann zwei- dreimal, das „Programm“ streike momentan usw. Es gab irgend ein Programmierproblem mit der Site. Das habe ich dann tatsächlich nicht mehr weiterverfolgt, weil ich es schnell müde werde, ein Controler zu sein. Jetzt werde ich aber gleich noch einmal eine Email dort hin schreiben.
      Im übrigen bin ich mit der Tastatur meines neuen Laptos noch nicht richtig intim und vertippe mich deshalb oft. Auch das kriege ich nicht immer mit. Entschuldigung dafür.

    4. Lieber Herr Herbst,
      „streiten“ aber nur in aller Freundlichkeit.
      Das Zentralproblem, wie verständlich eine Aufführung sein muss und was sie dafür zu opfern hat, ist wirklich eine harte Nuss. Soll man vom Zuschauer verlangen, dass er sich das Libretto vorher durchliest? Ich glaube, da gibt es keine Patentlösung, schon darum, weil unterschiedliche Zuschauer mit unterschiedlichen Verstehens-Hintergründen ins Theater gehen und darum auch Unterschiedliches Unverständlich oder zu leicht verständlich finden.
      Ebenso bei den Regisseuren: Es gibt welche, die machen packendes Rätseltheater und andere haben die Fähigkeit, ein wirres oder komplexes Stück so zu enträtseln, dass man sich als Zuschauer freut, wie leicht es zu verstehen ist. Beide haben ihre Berechtigung. Nur die langweiligen beider Genres nicht.
      Und wir dürfen nie vergessen, dass die Forderung nach „Allgemeinverständlichkeit“ für „jedermann“ eine der beiden Hauptforderungen des Sozialistischen Realismus war. Was zu primitiver Kunst führte (nicht immer, aber meistens). Verständlichkeit einzufordern ist also ein zweischneidiges Schwert. Umgekehrt ist es gerade heute vielleicht auch wieder angesagt, zu fordern, dass sich Kunst ein bißchen vom Rummelplatz der Talkshows und Marketing-Agenturen zurückzieht. Sag es niemand, nur dem Weisen, weil die Menge schnell verachtet. Aber wie gesagt: Extremismus in beiden Richtungen (elitär vs. populistisch) ist von Übel. Man muss von Fall zu Fall entscheiden. Und auch dort werden die Geschmäcker auseinander gehen. Kunst ist eben das Reich der Freiheit, wo niemandem, auch keinem Zuschauer irgend eine Meinung aufgezwungen werden darf. Außerdem ist Kunst eine Projektionsfläche, die mindestens so viel über den Rezipienten aussagt, der sie interpretiert, wie über den Produzenten, der sie macht. Auch da kommt es auf die richtige Balance an.

      Was Sie zu Auschwitz sagen, verstehe und akzeptiere ich. Ich beschäftige mich intensiv damit, hab auch mal eine Libretto-Collage geschrieben, die wahrscheinlich völliger Quatsch ist (kann sie Ihnen mal senden, wenn Sie möchten). Aber vor der Selektionsrampe, vor den Gaskammern versagt jedes Einfühlungsvermögen. Und ich persönlich finde den Wunsch, sich in so ein Opfer einfühlen zu wollen, auch obszön. Im Moment hätte man menschlich sein, helfen sollen. Nicht im Nachhinein. Wir könnten das auch heute noch. Sie zählen selbst in Ihrer Rezension all die Brandherde auf, die heute brennen. Aber deswegen, weil ich glaube, dass Auschwitz unvorstellbar ist, glaube ich auch, dass man es nur im künstlerischen Symbol, nicht realistisch darstellen kann. Chaplin zeigt diese Nicht-Darstellbarkeit (lange vor Auschwitz übrigens) durch die Unangemessenheit dieser Verfolgungsjagden mit den Nazi-Deppen, gegen die man sich mit einer Bratpfanne und Äpfelkarren wehren kann. Nur durch diese Narrentechnik kriegt man das Monströse überhaupt wieder in einen menschlichen Rahmen hinein. Zurück bleibt Auschwitz eben als die Leerstelle, die dieser Slapstick umkreist. Diese Leerstelle ist wie die weiße Kaaba des Glaubens an eine himmlische Harmonie in Marellis Don Carlo das in Erscheinung tretende „Nichts“. Und deswegen bricht Chaplin am Ende ja aus dem Film aus und wendet sich direkt an Zuschauer. Dieses Ende hebt den ganzen Film auf und sagt: Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis… und dieser Film wird dem Thema eigentlich nicht gerecht.
      Aber auch das ist nur Geschmackssache. Für mich ist Offenbach einer der drei größten Musikdramatiker des 19. Jahrhunderts (neben Wagner und Verdi). Und das liegt unter anderem daran, dass ich diese Narrentechnik für den einzigen Weg halte, nicht den Mut zu verlieren und zynisch zu werden.

      Dass ich heilfroh über Marellis humane Umdeutung der Jubelchöre war, hat auch persönliche Hintergründe. Ich halte dieses Autodafé nicht aus. Es gibt solche Massen. Ruanda hat es gezeigt. Putins Russland zeigt es. Usw. Ich weiss es (davon handelt auch das erwähnte Libretto), aber ich kann sowas nicht sehen. Und dann am Ende diese Engelsstimme. Wenn es leider zu spät ist.
      Die Teufel von Loudun habe ich als Kind sehr geliebt, weil ich Hamburger bin und das Stück in Hamburg uraufgeführt wurde. Aber das ist ja kein Realismus. Die Bösartigkeit des Pater Barré, die Hysterie der Nonnen (denken Sie an den Nonnenpfurz), der Opportunismus von Barbier und Apotheker, das geht ja alles in die Groteske. Da gibt es Luft, zum Verschnaufen. Aber dieser Verdische Jubelchor, vor dem kann man sich emotional überhaupt nicht entziehen. Wenn Sie der Penderecki-Stoff interessiert, schauen Sie sich sich unbedingt Ken Russels „The Devils“ an: Die erschütterndste Szene ist, wenn Ludwig XIII. Hugenotten in Vogelkostüme stecken lässt und dann auf die „Schnepfenjagd“ geht und die Fliehenden abknallt. Das ist das wunderbare Frankreich des Absolutismus, das wir alle so lieben! Und dann denkt man an jenen KZ-Wächter von Treblinka (ein Ukrainer), der einem Häftling die Mütze wegnahm, sie in die Sperrzone warf und ihm befahl, sie zu holen…
      Also: Symbole…
      Und Saló ist natürlich was ganz Anderes: das ist ein Initiationsritual – ob man das aushält. Ich ging mit 18 in den Film, wollte nach 10 Minuten raus (wo die Frau den Teig mit den Rasierklingen zu essen bekommt) und habe mich gezwungen, drin zu bleiben. Ich saß drin und habe versucht, mehr meine Reaktionen auf das Dargestellte zu registrieren als das Dargestellte. Dieser Film kommt einer Tortur nahe. Aber das ist keine Darstellung von Auschwitz. Das ist der Versuch, den Zuschauer selbst in eine Art Auschwitz zu versetzen. (Allerdings: Wir wissen, wir kommen wieder raus.) Das ist ein Genre völlig für sich. Ich kenne keinen anderen Film dieser Art. Und wehe dem, der das nachmacht. Das sollte man auch bei Don Carlo nicht versuchen. Und man sollte auch nicht darüber diskutieren, wie effektvoll oder nicht der Theaterbrand auf der Bühne war. Wenn man das tut, nimmt man meines Erachtens entweder die Kunst oder das Thema nicht ernst. Man soll nicht sagen: Bitte, schockier mich! Damit macht man keine Witze. Nur wenn man Witze macht, darf man das. Siehe Inglorious Basterds.

      Die Namen bezogen sich nicht alle auf sie. Der Marcu kam, glaube ich, aus dem Deutschlandfunk und der Marinelli aus der Berliner Zeitung oder so. Und der Vorwurf der Gedankenlosigkeit schwang auch überall mit.

      Herzliche Grüße
      Boris Kehrmann

      P.S.: Die wichtigste Aussage dieser Mail bezieht sich jedoch auf die Frage: Wie verständlich muss Theater sein. Es gibt, glaube ich, kein Patentrezept. Das ist eine Gratwanderung, das nicht rationalisierbare Risiko jeder Theaterarbeit. Da scheidet sich eben das Talent vom Genie.

    5. Lieber Herr Kehrmann, ein ziemlich

      gehässiger Teufel wollte es gestern – und er legte mich herein -, daß ich mit Ihrem Namen erst einmal ein Gleiches tat, versehentlich, wie mit Marellis: Lange Zeit stand in meiner Antwort „Kehlmann“ statt „Kehrmann“; ich merkte das erst spät. Mag sein, daß deutschen Romanciers das „l“ sich zur Zeit derart aufdrängt, daß sie das „r“ nicht mehr sehen – doch die Sache war ironisch genug, um mich des Teufels schließlich wider mich selbst zu erfreuen, so daß ich ihn diminuierte. Mit Teufelchen sind ja Engel gemeint, zumindest aber Feen.
      Meine Verzeihung also für diesen Schnitzer, den Sie vielleicht gar nicht bemerkt haben. Dennoch, er war, und ich stehe dazu, wie dazu, daß ich korrigiere. Fuchsig macht mich im Moment, daß ich seit gestern niemanden vom >>>> Weltexpreß erreiche; meine Bitten um Korrektur >>>> dort sind nach wie vor so unbeantwortet wie unausgeführt. Herr Marelli möge es mir nachsehen; vielleicht haben Sie ja Kontakt; als ich mich gestern etwas informierte, fand ich >>> diese Ankündigung. Das Netz ist ein Verräter: Ein wenig mehr als ich waren Sie denn doch mit dieser Produktion vertraut; allein das Gespräch mit einem Regisseur öffnet Augen, von denen man gar nicht wußte, daß man sie hat.

      Ja, Sie haben recht. Verständlichkeit ist das Thema, zugleich auch der Widerpart. Ich bin ganz Ihrer Meinung, daß es ungut ist, mit der Speckseite nach dem Publikum zu werfen; fürwahr bin ich kein Freund des Populismus. Ich stehe auch nicht in jedem Fall dem Regietheater nahe, das nur allzu oft schon Stücke beschädigt hat – heikel imgrunde nicht bei Klassikern, bzw. dem, was wir so nennen, indes bei Uraufführungen. Da kann ein Stück auf alle Zeit vernichtet werden, unabhängig davon, ob es gut ist oder nicht. Man braucht nach Lage der heutigen Dinge dann schon unfaßbar viel Glück, wenn sich abermals jemand, und anders dann, solch eines Vernichteten annimmt. Andererseits verlangen die „Klassiker“ nach Vergegenwärtigung; ihnen schadet es durchaus nicht, wenn aus einem Serail ein Bordell wird oder Arabella – wie in einer von mir sehr geschätzten, leider vom Spielplan gefegten Inszenierung eben an der Deutschen Oper – das Milieu der schweren Verbrechen betritt. Sogar Umdeutungen sind bisweilen nötig, bis zum Umschreiben von Enden: so gesehen in >>>> Bieitos bis heute in mir nachwirkenden Butterfly, – gesehen heißt erlebt. Wie weit man mit Eingriffen und Umdeutungen geht, ist eine Frage oft des künstlerischen Temperaments, auch des, ein nicht mehr sehr geliebtes Wort, Sendungsbewußtseins, einem gar nicht schlechten Begriff für politischen Überzeugungswillen, sei er links, rechts, „mittig“ oder religös konnotiert. Oft wird dann ein bißchen schärfer zugelangt. Das ist das Gegenstück zu dem, was ich in meiner vorigen Antwort akademisch nannte und worin ich mittlerweile das eigentliche Problem der Inszenierung Marellis sehe.
      Gut ist dafür, daß sie einen Anlaß abgibt, daß wir jetzt sprechen. Vielleicht kommen andere Stimmen noch hinzu.

      Ja, Rätseltheater und enträtselndes – dem ich oft dann mißtraue, wenn die Enträtselung nicht ihrerseits wieder ein Rätselhaftes hat, und sei es nur in der Magie ihrer Wirkung: Genau dort läßt sich erkennen, ob man den Rummelplatz des Entertainments beschritten hat oder nicht. Marellis Don Carlos, leider, „entertainte“, nämlich genau dieses spezielle Westberliner Publikum. Ich habe das in meiner Rezension angedeutet. Eine Inszenierung muß immer auch ins Auge fassen, für wen sie gemacht ist; deshalb waren viele Inszenierungen an der Volksbühne viel zu billig. Hingegen hat sich zum Beispiel die Komische Oper in den letzten Jahren nicht gescheut, das Publikum auch zu düpieren. So etwas zu wagen heißt aber, es ernstzunehmen – auf die Gefahr hin, selbstverständlich, daß man sich irrt. Ich habe solche Inszenierungen aber auch an der Deutschen Oper gesehen, nicht nur die Arabella.

      Wenn ich „Verständlichkeit“ meine, dann meine ich nicht eine direkte Referierbarkeit; das wäre weißGöttin langweilig. Sondern es muß ein Moment jenes Dritten hinzukommen, das sich nicht logisch aus Ansatz und Stück und dem Material, das wir zur Verfügung haben, herleiten läßt. Adorno nannte es – dies für Mitleser; nicht für Sie; nicht alle Dschungelleser haben Ästhetik studiert, sondern anderes und gewiß nicht minder gut als wir die unsren Belange – das NichtIdentische, also das, Leser, was über die Summe der Teile eines Kunstwerks (und über die Autor:innen selbst meistens auch) hinausgeht und das Werk zum Werk erst macht. Genau das wird in einer großen Inzenierung spürbar. Man atmet es, nicht nur in die Lungen, sondern auch durch die Haut und ist insgesamt, als Hörer und Zuschauer, wie aufgeladen von einem energetischen Zustand um einen herum. Geschieht das, ist ein Werk am Leben. Das muß nicht und kann wohl auch nicht durchweg so geschehen (von den größten Erlebnissen einmal abgesehen, die man zwar nicht nur einmal, aber doch nicht oft im Leben hat), aber in Momenten sich herstellen, plötzlich greifbar, und man wird erschüttert. Davon fand ich bei Marelli nichts, wohl aber momentlang bei Phillips Klaggesang am Anfang von Akt III; das aber war dem Sänger und dem Orchester zu danken, nicht der Inszenierung, sowie bei dieser bis jetzt in mir nachklingenden Stimme von oben, die von unten kam, aus unter uns.
      Ich bin mir sicher, daß ich nach den Erklärungen Ihrer so guten wie scharfen Replik, wenn ich die Inszenierung ein zweites Mal sehen werde, ganz andere Augen für sie habe; dennoch, es werden die des Intellekts sein; das ist für eine wirklich große Inszenierung nicht genug. Deshalb nannte ich sie „solide“. Das Handwerk stimmt, zu dem der Intellekt, auf dem Theater jedenfalls meistens, gehört. Aber mir reicht das nicht, vielleicht bin ich allzu verwöhnt.

      Doch zu unserem Thema zurück:
      Sie sprechen von der richtigen Balance, die gefunden werden müsse. Ich ahne hingegen, daß Balance genau der Fehler ist; schon das Wort sichert sich ab. Deshalb ziehe ich Risiko vor. Mit Risiko zu inszenieren heißt ja mitnichten, mutwillig oder dumm ein Draufgänger und Schlagmichtot zu sein, ein SchlagAufDasWerk. Sondern wenn Messemer den Berg ersteigt, bereitet er sich selbstverständlich, so weit es geht, auf Widernisse vor – er verlor aber dennoch die Zehen. Man muß sich, als Regisseur, auch gefährden. Das genau tut ein akademischer nicht. Der kümmert sich tatsächlich um die Projektionsfläche und -flächen, die seine Inszenierung sei, bzw. werden könnte. Das genau, meine ich, hat einem egal zu sein. Wir glühen für ein Kunstwerk und nicht für das, als was es rezipiert worden ist und, andersrum, rezipiert werden könnte. Und auch dieser Satz – Ihr „eben“ ist verräterisch –Kunst ist eben das Reich der Freiheit, wo niemandem, auch keinem Zuschauer irgend eine Meinung aufgezwungen werden darfist mir zu politisch korrekt; man könnte auch sagen: zu demokratisch. Also für Kunst, um die es hier geht. Im Alltag gilt, und muß auch gelten, ein Primat des Pragmatismus.
      Ich frage dagegen: Weshalb denn nicht? Jeder kann aufstehn und gehen – wie viele taten bei Salò. Doch will ich die Auschwitz-Diskussion gar nicht weiterführen; unser beider Standpunkte sind je mit Gründen belegt. Wir werden noch oft genug, auch in anderen Zusammenhängen, mit diesem Unheil, und anderem, neuen, konfrontiert werden. Deshalb lieber nicht konkret auf diesem einen, pervers, also umgekehrt, zu einer Art GeschichtsTelos gewordenen, negativem Telos also, Ereignis beharren. Ob indessen das Einfühlungsvermögen tatsächlich versagt vor der Vernichtung – allein die Vorstellung, daß jemand zu Tode gesteinigt wird… wenn man sich das wirklich vor Augen führt und in den Leib trägt… was wird zuerst getroffen… plötzlich ist – das ist Schmerz – ein Auge weg… gar nicht auszudenken – – versagt es, oder fliehen wir‘s? Es ist doch genau das, womit der Don Carlos umgeht; er darf deshalb nicht akademisch sein. Er führt uns ja sogar in die allerschärfste Ambivalenz. Phillip ist ein Massenmörder, dennoch fühlt er, fühlt Liebe, unerwiderte, und leidet. D a s würde mich, als Regisseur, interessieren, dem wollte ich auf den Leib. Und zwar so, daß gar keine Frage mehr wäre, ob etwas symbolisch oder real ist – da muß für alle die Grenze verschwimmen – momentlang, sicher, nicht während, aber doch aufschießend so, wie bei Benjamin Wahrheit gemeint ist. In der Literatur gibt es so etwas, nur als Beispiel, in der Strafkolonie, jedesmal neu, wenn man diesen Text liest. Und zugleich muß das Voyeuristische daran, das wir alle kennen, miterfaßt sein – etwas, das einen lockt, überhaupt wieder hinzugehen oder den Text wieder zu lesen. Ich fürchte, dieser Impuls ist nicht sehr weit von der Geilheit jener entfernt, die sich bei den Verbrennungen suhlten. Er ist aber i n uns, und Oper – wie alle große Kunst – bindet ihn, ohne daß er verdrängt werden muß. Die Verdrängung nämlich… wir wissen, wohin sie erst recht führt.
      Das ist, grob umrissen, die Perspektive, aus der ich rezensiere und auch selbst künstlerisch arbeite. Alles darunter ist irgendwie müßig, so, wie man von einem Abend sagt, er sei sehr nett gewesen.

      Danke, daß Sie so offen-persönlich über das Heilfrohe sprechen, das Sie bei der Umdeutung der Chöre empfunden haben. Auch ich bin persönlich mit Schreckensszenerien ein bißchen traumatisiert, was aber gar nicht mit direktem Erleben, oder nur in eingeschränktem, einem „bürgerlichen“ Maß zu tun hat, sondern mit meiner Herkunftsgeschichte. In der Tat habe ich auch in der Realität lange Zeit keine Massen aushalten können, geriet sofort in Panik usw. Bis heute entsetzt mich die Vorstellung, als Stadion-Zuschauer an einem Fußballspiel teilnehmen zu müssen. Ich habe deshalb auch Demonstrationen meistens gemieden, von Ausnahmen abgesehen, die denn auch heftig waren: Ich gehöre zu den Brokdorf-Protestanten, über die die Kampfhubschrauber niedergingen. Das ist alles lächerlich, selbstverständlich, hält man es an die im Don Carlos thematisierten Schreckensgeschichten; es hat aber eine, sozusagen, reale Symbolik. Als Außenseiter, der ich schon im Kindergarten war, kommt da noch manches hinzu, das sich als unangenehm durchaus bezeichnen läßt – in Bezug auf Gesellschaft und Gruppen und wie sie agieren, wenn das kontrollierende Ich erst mal fällt.

      Nein, das habe ich nicht gemeint, daß man Salò nachmachen solle; das geht nicht, da haben Sie recht. Aber der Film ist ein Eckpfeiler dessen, was sich ausdrücken läßt. Man muß ihn bei diesem Thema im Blick haben. (Interessant, daß es dieselbe Szene ist, die auf Sie wie mich so gewirkt hat; ich habe sie niemals vergessen – ähnlich einer, die Bataille in den „Tränen des Eros“ erzählt, belegt zumal mit einer alten chinesischen Fotografie). Und wenn ich den Theaterbrand kritisierte, so deshalb, weil er nicht brannte. Das muß gar kein „wirkliches“ Feuer, da muß überhaupt kein Feuer und Theaterdonner sein, ja es kann völlig fehlen, kann sich im Nichts vollziehen, um dieses Brennen zu übertragen und die Angst und den Schrecken. Verniedlicht hier, bei Marelli, wurde der Schrecken, weil man ihn als Palimpsest – ja, benutzte: die drei oder vier quasi-Gekreuzigten darunter. Weil man ihn überblendet hat. Weil die Angelegenheit komplizierter ist, als Marelli zu zeigen vermag: allein das Kreuz als Heilssymbol ist ein Mysterium. Als schwenkten Streiter für das Menschenrecht eine Flagge mit einer Dose Zyklon B mittendrin, und schließlich gilt sie für ein Symbol allen Heils -. So furchtbar, ja, ist schon der Stab des Großinquisitors.

      Ich grüße Sie ebenfalls herzlich.
      Sie realisieren Der Dschungel ein neues Niveau.

      Ihr
      ANH 

      P.S.: Soeben teilt mir die Redakteurin mit, daß der Fehler korrigiert sei.

    6. Lieber Herr Herbst,
      habe im Moment keine Zeit für längere Antworten.
      Kurz nur dies: Mit Herrn Kehlmann möchte ich trotz „Vermessung der Welt“ wirklich nicht verwechselt werden. Was der bei den Salzburger Festspielen über Theater geredet hat, ist meiner Meinung nach so ziemlich das Peinlichste, was man über Theater äußern kann. Er tötet Theater als kreative Kunst.
      Als ein Beispiel für unverständliches Theater kam mir Homokis „Schlaues Füchslein“ jetzt an der Komischen Oper in den Sinn. Welche Zuschauer, der Werk und Komponisten nicht kennt, soll da verstehen, worum es in dem Stück geht. Es werden immer gleich 5 Ebenen gleichzeitig bespielt, inklusive Janaceks Eifersuchtsbeziehung zu Kamille Stösslova, die auf Förster-Füchslein projiziert wird. Das ist natürlich interessant und anregend, aber erst mal muss kapieren, was im Stück eigentlich passiert. Das hat so viele Szenen und rauscht so schnell vorüber und man bekommt einen solchen Overkill an Eindrücken übergestürzt, dass einem Hören und Sehen vergeht vor lauter „Kreuzworträtsel-Lösen“ (Was bedeutet dies? Was bedeutet das?) Hübsch anzuschauen genügt mir nicht.
      Herzliche Grüße
      Ihr Boris Kehrmann

      P.S. Marelli und ich haben nur kurz über Carlo gesprochen. Ich hab wirklich nur beschrieben, was ich gesehen habe. Hätte ich weitergegeben, was ich erfuhr, wäre unsere Diskussion ja witzlos gewesen. Das einzige Vorwissen, dass ich hatte, war, dass Marelli das Stück auswendig kann – und zwar beide Fassungen. Aber das hätte ich auch gesehen, wenn ich’s nicht gewußt hätte.

    7. Eines möchte ich doch noch hinzufügen. Zum Autodafé.
      Ich hatte nach der Lindenopern-Inszenierung, aus der ich in der Pause rausgegangen bin, weil ich es obszön fand, Abu Ghraib-Gefolterte 1:1 auf die Bühne zu bringen, mal bei Verdi nachgeschaut, wie er die Szene haben will: Im Hintergrund führen Treppen zu einem tiefer gelegenen Platz, auf dem die Ketzer verbrannt werden. Man sieht sie nicht. So will es Verdi. Ich glaube, Verdi hatte recht: Diese Jubelchöre und dann am Ende diese Engelsstimme, die denen, die getötet werden, verspricht, dass sie drüben leben werden und dann das Allergenialste, was dann im Otello das Hauptthema wird: Die flandrischen Deputierten, die gleichzeitig singen: Gott, warum lässt Du das in Deinem Namen zu… Wie soll man das übertreffen? Das ist doch einfach der Punkt, wo man den Glauben an die Welt verliert. Und dann hören wir gleich danach den Oberpsychopathen Philipp, den Massenmörder, wimmern, weil er nicht geliebt wird! Das wäre mein Kritikpunkt an Marelli. Dass Philipp bei ihm ein bemitleidenswerter alter Herr ist. Das ist ein Psychopath, der Angst vor seinem Vater hat (Karl V.), Angst vor seinem Sohn, Angst vor dem Alter, Angst vor der Jugend, Angst vor Gott, Angst vor dem Großinquisitor, Angst dass er nicht geliebt wird, Angst vor der Einsamkeit – und dieses Angstbesessene Komplexbündel tötet permanent, um nicht getötet zu werden. Das ist für mich der eigentliche Skandal des Stückes. Und das Cello-Solo ist laut Verdi kein Solo, sondern ein Tutti – weil ganz Spanien unter diesem Tyrannen klagt. Das ist kein greinender alter Mann, sondern das Volk, das er umbringt, das da klagt. Das ist alles längst bekannt. Wieso halten die Dirigenten immer noch an dieser verfälschenden Tradition fest? Das wäre für mich der springende Punkt. Kein Mitleid mit Mördern. Man muss den nicht in Galabeja stecken, um an Gadaffi erinnert zu werden. Man muss einfach zeigen, was Verdi komponiert und von seinen Librettisten gefordert hat.
      Nun aber Schluss
      Boris Kehrmann

    8. @B.Kehrmann zu „Man sieht sie nicht“. Dies war auch mein Vorschlag oben. Andererseits ist die Frage, ob obszön,. ob nicht (und Obszönität ist selbst eine kulturelle Codierung, die zweckhaft entstand) s c h o n etwas, das man umkreisen und bisweilen übertreten sollte: Tabus lösen sich mit der Zeit von ihrem eigentlichen Sinn und werden etwas, das ich einen praktischen Fetisch nennen möchte. Sie verdinglichen sich. „Nicht hinzusehen“, hat nicht nur Gutes.
      Bei einem anderen Punkt bin ich aber entschieden anderer Meinung als Sie, nämlich bei Ihrem normativen „Kein Mitleid mit Mördern“. Die Konsequenz dieses Satzes finde ich sehr heikel. Und erst einmal geht es darum zu verstehen (was nicht gleichbedeutend mit „Verständnis haben für“ ist); denn wenn wir nicht verstehen, werden wir nie verhindern können.Menschen handeln aber aus Gründen, wahrscheinlich sogar, – wenn wir die neuesten Ergebnisse der Hirnforschung, anstatt sie tabuisierend abzuweisen, erst einmal miterwägen – aus nicht nur hinreichenden, sondern sogar notwendigen. Man nehme das letzte Wort einmal wörtlich. Wenigstens für unsere christliche Kultur ist und muß bleiben Mitleid, egal gegenüber wem, eine der Säulen des Lebensverständnisses. Etwas anderes ist die Notwendigkeit, zum Schutz der Menschen andere, die sie stark gefährden, in verhindernde Verwahrung zu nehmen. (Wieder etwas anderes ist es, jemanden, der furchtbar geschadet hat, aus einem Impuls heraus zu töten).
      Beim Cello-solo haben Sie selbstverständlich recht; und dennoch gibt es den Klagegesang Phillips, und auch der hat recht und ein Recht. Ich schrieb das oben bereits: genau das interessiert mich, wo wir in die schärfsten Ambivalenzen geraten: daß eines Massenmörders Liebesweh ein wahres sein kann, – daß eben auch in einem solchen Ungeheuer der, in moralischem Sinn, menschliche Funke steckt. Ich bin überzeugt davon, daß wir den zeigen müssen, wenn wir mit der Kunst umgehen, sie vielleicht sogar schaffen. Allerdings führt uns das in sehr alte Formen, der >>>> Tragik nämlich, zurück, bzw. des Tragödischen, wobei dieses Zurück in Anführungszeichen gesetzt werden muß. Man kann es auch s o ausdrücken: Wenn jemand schwach ist wie Phillip, so ist er das nicht, weil er schwach sein w i l l und diesem, freien, Willen folgt. Saugefährlich wird diese Konstellation geradezu immer dann, wenn solche Schwäche zugleich über Macht verfügt, geschweige über eine nahezu unbegrenzte; sie wird dann oft auch nicht oder nicht nur von dem ausgeübt, der sie hat.

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